Von Edith Bartelmus-Scholich
DIE LINKE. NRW traf sich am Wochenende 29./30. Oktober zu ihrem Landesparteitag in Kamen. Die Debatte war von echten und künstlichen Gegensätzen geprägt. Manche Rede klang wie ein Bruch mit der Partei. Mit Mühe konnte ein neuer Landesvorstand ins Amt gebracht werden.
Armut, Krieg und Klima – kaum Dissenz
Eigentlich ist der NRW-Landesverband der Linkspartei in vielen Fragen einig. Das jedenfalls legt die fast einstimmige Verabschiedung des vom scheidenden Landesvorstand eingebrachten Leitantrags nahe. Der Fokus der politischen Arbeit soll auf dem Kampf gegen ausufernde Armut, Arbeitplatzabbau und Deindustrialisierung liegen. Die exorbitant steigenden Energie- und Lebensmittelpreise stellen für immer mehr Menschen ein Armutsrisiko dar. Dabei ist Armut in weiten Teilen von NRW ohnehin schon lange ein Problem. In einzelnen Städten des Ruhrgebiets sind bis zu 29 Prozent der Haushalte armutsbetroffen. DIE LINKE. NRW fürchtet, dass solche Armutsraten zukünftig in vielen Großstädten erreicht werden und möchte mit den Menschen im Land gegen Armut, sozialen Abstieg und Not kämpfen.
Ebenso einig ist man, dass der Klimawandel auch eine Klassenfrage ist. Leiden doch die Armen in den preiswerteren Wohnvierteln der großen Städte am meisten unter heißen Sommern - und wer nicht viel Geld hat, kann seine Wohnung nicht mit Energiefressern wie Klimaanlagen ausstatten. DIE LINKE.NRW ist daher für eine konsequente Klimapolitik. Die restliche Braunkohle im Rheinischen Revier soll nur so weit genutzt werden, dass das 1,5°-Ziel der Erderwärmung noch erreicht werden kann. Lützerath abzubaggern ist für DIE LINKE. NRW ein No Go.
In der innerparteilich umkämpften Friedenspolitik trennt die NRW – LINKEN ebenso wenig. Der gesamte scheidende Landesvorstand und fast die gesamte NRW-Delegation unterstützten auf dem Bundesparteitag in Erfurt den Ersetzungsantrag zum Leitantrag 3, dem knapp 47 Prozent der Delegierten zustimmten. DIE LINKE. NRW setzt über die Strömungsgrenzen hinweg auf den Erhalt des friedenspolitischen Profils der Partei
Und trotzdem tief gespalten
Dennoch ziehen sich tiefe Spaltungslinien durch die Partei. DIE LINKE. NRW war früher eine Hochburg der AnhängerInnen von Sahra Wagenknecht. Seit 2009 war sie über die Landesliste NRW in den Bundestag eingezogen. Über Jahre war ihr Mitarbeiter, der heutige MdB Christian Leye, Landessprecher. Erst ab 2018 mit der Gründung von AUFSTEHEN bröckelte die Unterstützung von Wagenknecht in der LINKEN. NRW. Das Projekt AUFSTEHEN zerriss die Landespartei und die Traditionsströmungen Antikapitalistische Linke (AKL) und Sozialistische Linke (SL) jeweils in zwei Teile, von denen der eine sich immer unkritischer Wagenknecht anschloss und der andere sich immer schärfer distanzierte. Auch nach dem Scheitern von AUFSTEHEN konnte der Riss nicht gekittet werden. Nie wurde eine Debatte dazu geführt, was AUFSTEHEN mit der LINKEN gemacht hatte und welche Lehren daraus zu ziehen sind.
Durch den Wandel der politischen Positionen von Wagenknecht – bekanntlich teilt sie zwischenzeitlich kaum noch eine Position der Partei – schwand allerdings die Zustimmung zu ihr allmählich. Im April 2021 wurde sie nur noch mit 61% auf Platz 1 der Landesliste zur Bundestagswahl gewählt. Zeitgleich erschien ihr Buch „Die Selbstgerechten“ (1) in dem sie ein dezidiertes linkskonservatives Programm in den Gegensatz zur Programmatik ihrer Partei setzte. Die zentralen Werte Nation, Leitkultur und Leistungsgesellschaft sowie die Bejahung einer Sozialen Marktwirtschaft und das Konzept einer Klassenzusammenarbeit zwischen leistenden ArbeitnehmerInnen und leistenden UnternehmerInnen stießen auf reichliche Kritik in der Partei. Noch viel mehr Zustimmung verlor Wagenknecht, als sie direkt nach ihrer Wahl auf Platz 1 der Landesliste eine monatelange Medientour für ihr Buch unternahm. Ungefähr jeden zweiten Tag kritisierte sie dabei DIE LINKE heftig und öffentlich. Ihr erster Vorwurf: DIE LINKE hat sich von der Sozialen Frage verabschiedet und betreibt Identitätspolitik für immer kleinere Minderheiten.
Identitätspolitik: Ein Pappkamerad
Seit Jahren haben sich DIE LINKE und Wagenknecht entfremdet und über die Jahre ist ihr Anhang in der Partei geschrumpft. Beim Erfurter Parteitag 2022 betrug der Anteil des auf sie orientierenden Parteiflügels nur noch 15%. Dieser kleine Flügel ist nicht mehr in der Lage Richtungsentscheidungen in der Partei wirksam zu beeinflussen. Hinzu kommt, dass Wagenknechts AnhängerInnen DIE LINKE populistisch und sozialkonservativ ausrichten wollen.
Bereits vor und auf dem Erfurter Parteitag wurde unter AnhängerInnen von Wagenknecht die Idee diskutiert, DIE LINKE zu verlassen und ein eigenes Parteiprojekt zu gründen. Treiber dieses Projektes ist nicht Wagenknecht selbst, sondern ihr mehr als unzufriedener Anhang. Die große Mehrzahl ihrer AnhängerInnen würde lieber heute als morgen mit einer neuen Partei starten wollen.
Das Spaltungsszenario belastete auch den Parteitag von DIE LINKE. NRW schon seit Wochen. Auf dem Parteitag trat der Wagenknecht-Flügel rhetorisch hervor, verweigerte aber jede Kooperation. Der scheidende Landesgeschäftsführer, Lukas Schön, hielt eine Rede, in der er eigentlich einen Bruch mit der Partei DIE LINKE begründete. Im Zentrum seiner Rede: Die vermeintliche Identitätspolitik.
Wie Wagenknecht in unzähligen Auftritten sucht auch Lukas Schön die Ursache für den mangelnden Erfolg der Partei DIE LINKE in der Abwendung von der Arbeiterklasse und der Hinwendung zu immer kleiner werdenden gesellschaftlichen Minderheiten, die ihre Partialinteressen in DIE LINKE tragen. Das Verständnis der Sozialen Frage erscheint bei Schön denkwürdig rustikal und beschränkt, denn als Beispiel für die Fokussierung auf Identitätspolitik muss ausgerechnet die gerade startende Kampagne gegen Hunger und für gesunde, ausgewogene Ernährung herhalten. Sharepics mit grünem Gemüse präsentiert er dabei als Beispiel „identitätspolitischer Orchideen“. Und damit baut er einen Pappkameraden auf.
Unverstandene verbindende Klassenpolitik
Ein ganzer Parteiflügel kann oder will nicht verstehen, dass DIE LINKE nicht Identitätspolitik, sondern verbindende Klassenpolitik betreibt. Dabei ist es eigentlich ganz einfach:
Die Arbeiterklasse ist heute anders zusammengesetzt als noch vor einigen Jahrzehnten. Sie ist weiblicher, migrantischer und gebildeter. Und außerdem schwindet die sozialversicherte Vollzeitbeschäftigung. Ein großer Teil der Lohnabhängigen arbeitet in Teilzeit, in Minijobs, auf Basis von Leiharbeit, hat Werkverträge oder ist scheinselbständig. Prekarisierung wohin man blickt. Dabei gibt es unterschiedliche Grade von Ausbeutung: Frauen verdienen durchschnittlich weniger als Männer, MigrantInnen weniger als Alteingesessene usw.
Gleichzeitig unterliegen Teile der Klasse nicht nur verschärfter Ausbeutung sondern erfahren noch andere Nachteile. MigrantInnen verdienen nicht nur weniger, sie bewohnen auch meist teurere, aber dennoch kleinere Wohnungen, sie genießen weniger gesellschaftliches Ansehen, erfahren öfter Zurückweisungen, werden öfter von der Polizei kontrolliert. Bei all dem stellen sie z.B. in NRW ca. 40 Prozent der Bevölkerung – und sie gehören zum Kern der Arbeiterklasse.
Die meisten jungen AkademikerInnen sind heute Lohnabhängige und oft prekarisiert. Die jungen Menschen in urbanen Milieus sind überwiegend gering verdiendend, hangeln sich von Praktikum zu Praktikum, schlagen sich mit Kettenbefristungen durch, können sich oft das Zimmer in der WG kaum leisten.
Eine linke Partei, die diese Lohnabhängigen nicht als Menschen mit all ihren alltäglichen Problemlagen begreift und, die nur ihre materielle Lage im Blick hat und nicht auch ihre Entrechtung und Unterdrückung, ist schlicht aus der Zeit gefallen. Es ist wichtig, dass DIE LINKE einen solchen Kardinalfehler nicht macht.
Gralshüter des Alltagssexismus
Es gab wohl noch nie einen Parteitag ohne mindestens einen dummen, sexistischen Spruch, aber seit dem 15. April 2022, als #linkemetoo Schlagzeilen machte, hat eine Minderheit in der Partei den Kampf nicht gegen sondern für Alltagssexismus als Kampffeld entdeckt. Gleichzeitig ist eine andere Minderheit nun für Sexismus stärker sensibilisiert und möchte den sexistischen Normalzustand in der Partei überwinden. Die Spaltungslinien, die sich hier auftun, wurden auf dem Parteitag deutlich tiefer.
Zur Kandidatur für den Landesvorstand fanden sich kaum Genossinnen bereit. Zwei der Genossinnen, die die mit einem feministischen Profi für einen Sitz im Landesvorstand antraten, wurde auf dem Parteitag deutlich signalisiert, dass die Mehrheit der Delegierten keine Feministin als Repräsentantin der Partei wünscht. Es ist ein Glück für die Partei, dass sich danach nicht alle Kandidatinnen zurückzogen.
Zwei feministische Anträge, die letztendlich vertagt wurden, sorgten schon vor dem Parteitag für enormen Widerstand. Die Selbstverpflichtung von Funktions- und MandatsträgerInnen zum Besuch eines sensibilisierenden Seminars gegen Sexismus in der Partei wird zum Bruch mit den bürgerlichen Freiheitsrechten hochgejazzt. Offenbar halten Teile der Partei sexistisches Verhalten für ihr gutes Recht, sozusagen als Recht auf individuelle Selbstentfaltung.
Auch diese Auseinandersetzung prägte den Parteitag und vergiftete seit Monaten die Debatten. #linkemetoo ist auch an der LINKEN. NRW nicht vorbei gegangen. Der medienwirksam inszenierte Rückzug von 13 Landevorstandsmitgliedern, der Mehrheit des scheidenden Landesvorstands, hat seine Ursache auch darin, dass sie sich ihrer politischen Verantwortung für einen #linkemetoo-Fall im Landesvorstand nicht stellen wollten. Was sie im Interesse der Partei und zum Schutz der Betroffenen hätten tun müssen, empfanden sie als Zumutung und blieben dem übergriffigen Genossen in Solidarität verbunden. Die Mühen und den Schaden hinterlassen sie dem neuen Landesvorstand.
Nicht zufällig sind die oft älteren „Traditionslinken“ um Wagenknecht, die ja selbst für den Feminismus auch nur Häme über hat, VorkämpferInnen in diesem innerparteilichen Kulturkampf. Viele junge Mitglieder hingegen sind bereits in linken Zusammenhängen sozialisiert worden, die für Sexismus sensibler sind. Sie können sich durch diese Auseinandersetzung immer weniger mit der Partei identifizieren. Das ist ein ernstes Zeichen. Die Parteikultur muss sich rasch wandeln und zwar nach den Vorstellungen jüngerer GenossInnen, denn die Jugend stellt die Zukunft der Partei dar.
Edith Bartelmus-Scholich, 2.11.22
(1) scharf-links.de/90.0.html;