Debattenbeitrag von Edith Bartelmus-Scholich
Vor der Landtagswahl im Mai 2021 schätzte eine Mehrheit der WählerInnen in NRW die eigene wirtschaftliche Lage als gut ein. Wenige Monate später hat sich diese Einschätzung gründlich gewandelt. Eine Inflationsrate von zuletzt 7,5% getrieben von 12,5% höheren Lebensmittelpreisen und einer Preisexplosion bei Energieträgern, löst bei der Mehrheit der Menschen berechtigte Ängste aus. Schon jetzt, bevor die Gaspreiserhöhungen wirklich zu bezahlen sind, führen die Teuerung bei Lebensmitteln und die Befürchtungen im Winter die laufenden Kosten für Strom und Gas nicht mehr bezahlen zu können, zu Kaufzurückhaltung. Die Binnennachfrage, von der jeder zweite Arbeitsplatz in NRW abhängt, ist auf den niedrigsten Stand seit 28 Jahren gesunken. Inflationsbereinigt setzten die deutschen Einzelhändler im Juni 8,8% weniger um als ein Jahr zuvor. Diese Entwicklung wird sich im Herbst und im Winter beschleunigt fortsetzen und befördert zusätzlich zur Sorge um den Anstieg der Lebenshaltungskosten Sorgen um den Erhalt von Arbeitsplätzen.
Armut: In NRW für viele Menschen Alltag
In NRW ist sowohl relative als auch existenzielle Armut schon lange ein Problem. Während der Pandemie ist die Armutsgefährdungsquote in Nordrhein-Westfalen auf 18,7% angewachsen. Dabei ist das Ruhrgebiet mit 21,1% Armutsquote eine Problemregion, in der einzelne Großstädte noch weit höhere Armutsquoten aufweisen. In Duisburg sind 28,9% der Haushalte von Armut betroffen, in Dortmund 24,5%, in Essen 22%. Von den 5,8 Millionen EinwohnerInnen des Ruhrgebiets leben somit 1,2 Millionen in Armut. Aber auch in den Großstädten Köln (21,2%) und Düsseldorf (21,3%) sind überdurchschnittlich viele Menschen arm.
In einigen Gruppen der Bevölkerung, wie Alleinerziehende, gering Qualifizierte oder Erwerbslose, liegt die Armutsquote in NRW bei über 40 Prozent. Ungewöhnlich stark nahm die Armut während der Pandemie bei Erwerbstätigen zu, insbesondere bei SelbstÂständigen, bei denen die Quote von 9% auf 13,1% stieg. Unter Rentnern lag die Quote bei 17,9% und bei Kindern und Jugendlichen bei 20,8 % – beides Höchststände. Überdurchschnittlich von Armut betroffen sind zudem Frauen (19,7%), Menschen mit Migrationshintergrund sowie junge Menschen, z.B. Studierende.
Viele Haushalte leiden nicht nur unter relativer, sondern unter absoluter Armut. Wie sehr diese existenzgefährdende Form der Armut zunimmt, zeigen die Nutzungszahlen der Tafeln in NRW. Im Vergleich zu 2020 hat sich die Anzahl der Bedürftigen, die bei den Tafeln Hilfe suchen, auf 350.000 verdoppelt. Viele Tafeln reagieren mit einem Aufnahmestopp und halbieren die Menge der Lebensmittel, die sie Betroffenen geben. Weitere Indikatoren für existenzielle Armut sind Energiesperren und Zwangsräumungen von Wohnungen. Bei diesen Zwangsmaßnahmen führt NRW die bundesweite Statistik an. Mehr als ein Drittel der Stromsperren in Deutschland und mehr als 31% der Zwangsräumungen entfielen in den vergangenen Jahren auf NRW. In einem durchschnittlichen Jahr wird in Nordrhein-Westfalen ca. 100.000 Mal der Strom abgestellt und es werden ca. 15.000 Zwangsräumungen durchgeführt. Hoch ist auch die Anzahl der Obdachlosen mit über 11.000 von denen mehr als 5.300 auf der Straße leben. Hinzu kommen noch über 6.000 „verdeckt Wohnungslose“. Das sind Menschen, welche die eigene Wohnung verloren haben, aber vorübergehend bei Bekannten oder Verwandten unter gekommen sind.
Verdoppelung der Armut droht
In NRW heizen 64,4% der Haushalte mit Gas. Eine Verdreifachung des Gaspreises, wie durch Preissteigerungen und Umlage, zu erwarten ist, werden viele von ihnen weder durch Einsparungen beim Heizen noch durch Verzicht auf „Luxuskonsum“ bewältigen können, weil gleichzeitig Lebensmittelpreise, Stromkosten, Kosten für Mobilität und Mieten weiter stark steigen. Viele Haushalte verfügen über keine finanziellen Rücklagen bzw. können aus ihrem Einkommen schon bislang nichts sparen. Der Sparkassenverband informiert, dass ca. 42% der BankkundInnen in NRW nichts sparen können und schätzt, dass sich dieser Anteil im kommenden Jahr auf 60% erhöhen wird. Die Anzahl der Armen in NRW könnte sich im kommenden Jahr auf 6 bis 7 Millionen Menschen erhöhen. Energiesperren, Zwangsräumungen und Obdachlosigkeit bedrohen weit mehr Menschen als bisher. Und die bisherige Annahme, dass arm ist, wer über weniger als 60% des Durchschnittseinkommens verfügt, könnte sich zusätzlich als untauglich erweisen. Die Kosten für Gas, Strom und Lebensmittel nicht mehr aus dem Einkommen bestreiten zu können, droht nämlich vielen Menschen, die sich bislang relativ sicher in der unteren Mittelschicht verortet haben. Die Folge wird ein sozialer Abstieg von Millionen sein. Gleichzeitig streichen die Energiekonzerne Rekordgewinne ein. Allein der Mehrgewinn von EON und RWE beträgt rund fünf Milliarden Euro.
Unsere erste Aufgabe: Mit den Menschen gegen sozialen Abstieg, Armut und Not kämpfen
Die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung den Absturz großer Teile der Bevölkerung in die Armut zu verhindern und die schon vorher Armen vor existenzieller Not zu schützen, sind völlig unzureichend. Längst ist beschlossen, dass die hohen Gaspreise von den VerbraucherInnen bezahlt werden müssen. Eine Unterstützung bedürftiger Haushalte lässt jedoch auf sich warten und wird - wenn überhaupt - erst bei den Betroffenen ankommen, wenn diese schon hungern und frieren oder das Gas abgestellt wurde. Die Energieversorger werden spätestens im Oktober die Haushalte zur Kasse bitten und die Bundesregierung weiß im August noch nicht, wie sie Entlastung schaffen will. Zudem hat sie bislang ganze Gruppen Bedürftiger, z.B. RentnerInnen überhaupt nicht im Blick. Die Landesregierung hält sich dezent im Hintergrund und fühlt sich offenbar nicht zuständig.
Es ist zu erwarten, dass sich gegen hohe Gas-, Strom- und Lebensmittelpreise, den drohenden Absturz in die Armut und die Bedrohung der Existenz im Herbst eine Protestbewegung formieren wird. Damit diese Bewegung nicht von Rechten vereinnahmt werden kann, aber vor allem, weil es die originäre Aufgabe von Linken ist, muss DIE LINKE dort aktiv sein und Forderungen einbringen. Unter der Maxime: Niemand darf hungern und frieren, niemand darf seine Existenz verlieren, können wir zum Beispiel fordern:
Energiesperren müssen bis zum Ende der Krise ausgesetzt werden
Die Mehrkosten für Energie müssen vom Staat übernommen werden. (Ersetzt werden sollen die Kosten, die den Betrag der Endabrechnung von 2021 übersteigen.)
Ab 2023 müssen die Energiepreise gedeckelt werden
Die Übergewinne von RWE und anderen sind abzuschöpfen
Die Energiekonzerne sind zu verstaatlichen
Bis zum Ende der Krise müssen alle Arbeitsplätze abgesichert werden
Bis zum Ende der Krise dürfen MieterInnen nicht zwangsgeräumt werden
Bereits beim Aufbau der zu erwartenden Protestbewegung müssen wir als LINKE eine entscheidende Rolle spielen. Lasst uns aktiv Betroffene ansprechen und sie zu Veranstaltungen in unsere Räume einladen. Einladungen können auch über kleine Aufkleber im öffentlichen Raum verbreitet werden.
Als Organisator von Protest und Widerstand gewinnen wir ein neues Profil: Wir stellen uns Zwangsmaßnahmen wie Energiesperren und Zwangsräumungen mit den Betroffenen gemeinsam widerständig entgegen. Den Protest tragen wir in und vor die Geschäftsräume von Energieversorgern und Energiekonzernen. Auch von der jeweiligen Kommune sowie der Landesregierung fordern wir unter Protest Engagement ein. Mit anderen gemeinsam können wir auf Ratschlägen Aktionsformen und solidarische Selbsthilfe entwickeln.
Unabhängig von tagesaktuellen Forderungen gilt weiterhin, dass durch Erhöhung von Transferleistungen, Renten und Mindestlohn alle Menschen aus der Armut geholt werden müssen.
Klima: Auch eine Klassenfrage
Die nächsten fünf Jahre werden darüber entscheiden, ob das 1,5-Grad-Ziel bei der Begrenzung der Erderwärmung erreicht werden kann. Wollen wir das Klima retten, müssen wir alle Bereiche unserer Gesellschaft umbauen und bis 2035 klimaneutral sein. Rund 30 Prozent aller bundesweiten Emissionen kommen aus NRW. Im Rheinischen Revier, in Lützerath, entscheidet sich in diesem Herbst, ob Deutschland das 1,5-Grad-Ziel noch erreichen kann. Das bedeutet den unverzüglichen Ausstieg aus der Braunkohlewirtschaft ebenso wie den schnellen ökologischen Umbau der Stahlproduktion von Thyssenkrupp in Duisburg. Es bedeutet den flächendeckenden Ausbau öffentlicher Verkehrssysteme, nicht nur entlang von Rhein und Ruhr, sondern auch im ländlichen Raum. Es bedeutet den beschleunigten Ausbau von Windenergie und solarer Stromerzeugung – überall in NRW. Es bedeutet den ökologischen Umbau der industriellen Landwirtschaft und den Ausstieg aus der Massentierhaltung.
Mehr als je zuvor entscheidet der Geldbeutel darüber, wer sich einen ökologischen Lebensstil leisten kann. Klimapolitik und Armutsbekämpfung waren noch nie so eng verzahnt wie heute. Auch in Deutschland ist eine sozialökologische Wende eine Frage der Gerechtigkeit. Je höher die Einkommen sind, desto höher sind die verursachte Umweltbelastung und der CO?-Ausstoß pro Haushalt. Die Lasten tragen die Armen, die sich nicht gegen Klimaschäden versichern, ihre Gasrechnung nicht mehr bezahlen oder bei steigenden Lebensmittelpreisen sich das Essen nicht mehr leisten können. Den Preis zahlen schon heute tausende Hitzetote jeden Sommer, vor allem ältere und arme Menschen in Innenstädten. Wir wollen verhindern, dass die Kosten der Klimakrise auf die Armen abgewälzt werden. Auch unter den neuen Rahmenbedingungen treten wir ein für ein Zukunftsprojekt, für eine sozialökologische Wende, von der alle Menschen durch bezahlbare Energie, erschwingliche Mobilität, gesunde Nahrungsmittel und mehr Lebensqualität profitieren.
Zu den Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine gehört, dass durch die Verknappung von fossilen Energieträgern viele politische Entscheidungen und Maßnahmen der Klima- und Umweltpolitik in Frage gestellt oder sogar verworfen werden: Kohlekraftwerke bleiben länger in Betrieb, LNG-Terminals werden gebaut. Fracking, die längere Nutzung von Atomkraft und sogar der Neubau von Kernkraftwerken sind im Gespräch. Lasst uns allen diesen Bestrebungen gemeinsam mit AktivistInnen der Bewegungen entschieden entgegentreten.
Mit der Klima-Bewegung leisten wir im Herbst Widerstand gegen das Abbaggern von Lützerath und den fortschreitenden Braunkohleabbau im Rheinischen Revier
Wir beteiligen uns an der breiten Bewegung für den Beibehalt des 9-Euro-Tickets und die Perspektive eines Nulltarifs im ÖPNV
Wir kämpfen mit AktivistInnen vor Ort gegen die Zulassung von Fracking in NRW
Der Atomausstieg muss unumkehrbar bleiben. Wir unterstützen die Anti-AKW-Bewegung bei dem Kampf um die Schließung der Uran-Anreicherungsanlage (UAA) in Gronau
Kapitalismus hat fertig
Die Unfähigkeit des Marktes Lösungen für die drängenden Probleme von Wirtschaft und Gesellschaft bereitzustellen, war selten offensichtlicher als heute. Gerechtigkeit, egal ob soziale oder Klimagerechtigkeit, ist nur als politischer Eingriff und im Bruch mit den Gesetzlichkeiten des Marktes herzustellen. Eine Zukunft ist auch in NRW nur zu gewinnen, wenn eine antikapitalistische, ökosozialistische Vision umgesetzt wird. Diese wiederum ist nur tragfähig, wenn sie auf einer Vertiefung der Demokratie, die auch die Wirtschaft erfassen muss, beruht. Dafür zu begeistern und vielen Menschen zu vermitteln, dass eine Wirtschaft und Gesellschaft jenseits des Kapitalismus begründet werden kann und muss, wird in den nächsten Jahren eine Aufgabe für uns sein, die alle aktuellen Themen verbindet.
Edith Bartelmus-Scholich, 2.8.2022