Leserbrief zu Gerd Elvers: "Das Entsetzliche des Krieges und sein Ende durch die Revolution"

15.05.14
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von Dr. Matthias Kordes 

Sehr geehrter Herr Elvers,

Ihre stringent marxistisch-leninistische Deutung des Ersten Weltkrieges respektiere ich, die Deutschland-Zentriertheit Ihrer Sichtweise allerdings nicht. Ich vermisse ausführliche Betrachtungen der bemerkenswerten Geschehnisse in der zweiten Juli-Hälfte 1914 (Blankoscheck Poincarés beim Zarenbesuch in St. Petersburg, zeitgleiches Zusammenziehen der brit. 'Grand Fleet' auf Geheiß von Winston Churchill bei Scapa Flow mehrere Tage vor Ausbruch der Fendseligkeiten auf dem Balkan).

Warum erwähnen Sie nicht, dass die russische und französische Mobilmachung zeitlich vor der deutschen lag? Wenn Sie vom Schlieffen-Plan sprechen (besser wäre: vom "Moltke-Plan"), warum nicht auch vom "Plan XVII" und der französischen Heeresvergrößerung vor 1914?

Napoleonische Maxime des franz. Heeres (mit der Folge horrender Verlusten): "Attaque à outrance"! Dass schon das Scheitern des Moltke-Plans das Deutsche Reich an den Abgrund geführt hatte, ist mir überhaupt nicht geläufig. Stand nicht vielmehr Frankreich im Herbst 1914 kurz vor der Niederlage (vgl. hierzu die Situation Frankreichs im April 1917)? Die höchsten Tagesverluste des gesamten Krieges erlitt Frankreich am 22. August 1914: 22.000 Tote.

Ausgerechnet Sie als 'Scharf-Links'-Autor gehen mit Ihrer typisch und traditionell deutschen Überbewertung der Marneschlacht der revisionistisch-reaktionären deutschen Kriegsliteratur der 1920er Jahre auf den Leim, die den Kardinalfehler der deutschen Militärstrategie im Scheitern des Schlieffen-Plans Mitte September '14 sah und dem überforderten und zögerlichen General Moltke eine wesentliche 'Schuld' an der späteren Niederlage zuschreiben wollte.

Ich persönlich neige hingegen der franz. u. brit. Historiographie zu, die die tatsächliche Kriegswende in den Sommer 1918 verlegt. Der in der Tat überlegenen französischen Feldartillerie vom Kaliber 7,7 cm standen übrigens schon zu Beginn des Krieges deutsche Geschütze mittleren und schweren Kalibers (Stichwort: Krupp) gegenüber, die das franz. Feldheer gar nicht aufzubieten hatte. Folge: Das franz Heer war eben nicht in der Lage, die strategische Initiative und Offensive an sich zu ziehen. Das Ergebnis der Marneschlacht hätte einer klugen Politik allenfalls zu einem Remis-Frieden verhelfen können.

Warum dieser unprofessionelle Schreibfehler beim deutschen OHL-Chef? Der Mann hieß Erich von Falkenhayn. War die britische Seeblockade, die nicht nur die deutsche Kriegswirtschaft traf, sondern auch einen Aushungerungsplan verfolgte, etwa nicht völkerrechtswidrig und möglicherweise ein Kriegsverbrechen gegen unbeteiligte Zivilisten?

Wenn Sie vom sinnlosen und propagandistisch missbrauchten Massensterben bei Langemarck schreiben, warum nicht auch vom 1. Juli 1916 an der Somme ("the bloodiest day in British history") oder von der Katastrophe am Chemin des Dames im April 1917? Waren die alliierten Genräle Haig und Nivelle wirklich besser, humaner, rücksichtsvoller als Falkenhayn? Wollten die Alliierten zu irgendeinem Zeitpunkt einen Verständigungsfrieden mit Deutschland?

Und überhaupt: Welche Interessen verfolgte Großbritannien? Wer den Imperialismus um 1914 anprangert, sollte von der Landung der britischen "Mesopotamian Expeditionary Force" am Schatt el Arab im November 1914 nicht schweigen, womit sich sich die brit. Armeeführung die milit. Kontrolle über die Ölfelder der erst im April 1914 (!) verstaatlichten "Anglo-Persian Oil-Companie" (später: BP) sicherte. Hintergrund: Befehl Churchills von 1911, die neueste brit. Schlachtschiff- ("Dreadnought"-) Generation von Kohle- auf Ölantrieb umzustellen. Der Erste Weltkrieg war bereits nach drei Monaten ein Krieg um Öl.

Ich halte Ihren Essay für ein klassisches, auf hohem, ideologisch widerspruchsfreien Niveau befindliches Lehrstück deduktiver marxistisch-leninistischer Geschichtsbetrachtung, aber Lehrreiches über die militärischen und politischen Geschehnisse von 1914 bis 1918 (neuere Fachliteratur zum Ersten Weltkrieg - es muss ja nicht gleich Christopher Clark sein - wird in den Endnoten vorsichtshalber gar nicht erwähnt) kann ich in der am Ende frustrierenden Einseitigkeit Ihres Beitrages leider nicht erkennen.

Mit freundichen Grüßen
Dr. Matthias Kordes
Recklinghausen 


VON: DR. MATTHIAS KORDES


Erster Weltkrieg – Ende der Menschheit und Revolution - 11-05-14 20:55




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