Erster Weltkrieg – Ende der Menschheit und Revolution

11.05.14
TheorieTheorie, Antifaschismus, Debatte, TopNews 

 

von Gerd Elvers

Das Entsetzliche des Krieges und sein Ende durch die Revolution

Der österreichische Literat Karl Kraus hat in seinem Opus: „Die letzten Tage der Mensch- heit“, den Ungeist eingefangen, der Europa anfangs des 20. Jahrhunderts befallen hatte.

Es ist eine Sammlung von szenischen Kommentaren, die Kraus großteils aus Zeitungstiteln montiert hat, wobei die grellsten Texte Zitate sind.

Der Titel besagt alles: Absturz aller Werte, die vorher zählten, wie Menschlichkeit, Moral, Völkerrecht. Allerdings – dies darf nicht übersehen werden – beschränkt auf Europa. Man kann daher weniger von einem Ende der Menschheit, als vom Ende der europäischen Zivilisation sprechen.

Für 4 Jahre wütete ein bis dahin beispielloses Massenmorden, dem Millionen zum Opfer fielen und mit dem Einsatz von Giftgas eine Barbarei erreichte, die in diesem Punkt die Gräuel des 2. Weltkrieg an der Front übertrafen. Löst man sich von allen Geschichten, die man sich über die Ereignisse angelesen hat, macht man sich frei von konventionellen Geschichtsinterpretationen, mit denen Experten eine „gefrorene“ Historie umhüllen, bleibt ein fassungsloses Entsetzen über das letztlich Unerklärbare an Massenwahn. Diese Fassungslosigkeit bleibt auch dann bestehen, wenn wir Linke die Imperialismus- theorie von Lenin als die bis heute allgemeingültige Erklärung hinzu ziehen.
Wenn Theodor Adorno sagt: Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreibe, ist barbarisch, kann man hinzufügen, mit dem Ersten Weltkrieg endete die Poesie.

Zugleich aber muss man in den Revolutionen in Russland und in Deutschland das Ende des Gemetzels sehen. Nur durch die Revolutionen konnte dem Krieg ein Ende gesetzt werden. Sie sind friedensstiftend gewesen, wenigstens für einige Jahre bis zum nächsten Weltkrieg.

Verrat der Arbeiterklasse am Internationalismus

Die Straßen-Fotos, die über den Beginn des Weltkrieges zum Zentenarium  publiziert werden, dokumentieren die Kriegsbegeisterung der Massen. Die größte Gruppe darunter ist die Arbeiterklasse. Meine beiden Großväter waren Schweißer auf der Schichauwerft Danzig, der späteren Lenin-Werft, die in Polen Welt-Geschichte schreiben sollte. Obwohl Proletarier, mit einem Minimallohn, der gerade für das Überleben der Familie reichte, waren sie „Kaisertreue“, die die Paraden des Totenkopf - Regiments in Langfuhr bejubelten, die unter dem Befehl des Kronprinzen stand. 

Es war aber nicht nur die ideologische Spaltung der Arbeiterschaft in verschiedenen Parteien zu beklagen. Auch ein großer Teil der sozialdemokratischen Anhänger lief zu Beginn des Krieges zur reaktionären Politik der Kaiserclique über. Bis heute hält sich die Meinung unter Linken, dass mit der Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD-Reichstagsfraktion sie den Internationalismus verraten und eine Mitschuld am Krieg hätte: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“. Das ist nicht falsch, aber nur die Hälfte der Wahrheit.

Der andere Teil der Wahrheit ist, dass in den Jahren vor Kriegsbeginn innerhalb des Proletariats – auch des sozialdemokratisch orientierten - eine verdeckte Abwendung vom proklamierten Internationalismus der Parteispitze stattfand, der in den Tagen des Kriegsausbruchs als Farce entlarvt wurde. Der Untertitel des Kommunistischen Manifestes: „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“ hatte sich in sein Gegenteil verwandelt.

Lächerlich die Begründung der SPD-Führung für die Kriegskredite: Man müsse den zaristischen Despotismus abwehren. Die russische Kultur wurde als primitiv abgestempelt. Die SPD bediente sich der Arroganz einer angeblich überlegenen germanischen Kultur gegen den Barbaren im Osten. Sie spielte die rassistische Karte aus, die später die Nazis mit den slawischen Untermenschen wieder aufnahm. Die Franzosen bewiesen mehr Weitsicht in die russische Kultur. Ein Jahr zuvor fand in der Pariser Oper am Champs Elisée die Uraufführung von Serge Diaghilew Balletts „Le Sacre du Printemps“ in der Choreographie von Waslaw Nijensky nach der Musik von Igor Strawinsky statt, ein Meilenstein der Moderne. Die Russen Kandinsky und Jawlensky waren Teil der Avantgarde in der bildenden Kunst. Demgegenüber war das Kunstverständnis der sozialdemokratischen Anhänger zumeist kleinbürgerlich-biedermeierlich, wie die Motive der Postkarten zeigen, die die Soldaten von der Front zu ihren Liebsten daheim schickten.

1914 - Der Untertan von Heinrich Mann

Aber auch diejenigen aus der Bourgeoisie, die dem Kaiserreich kritisch gegenüberstanden, wie die satirische Zeitung 'Simplicissimus', verfielen dem Chauvinismus von heute auf morgen. Dem Kriegswahn verfielen Brecht, Hesse, Hauptmann, Rilke, die Zweigs. Erst als ihre Dichterstirne gegen die Wand der Kriegsbrutalitäten stießen, kam Läuterung auf. Ludwig Thoma, der von der Münchener Sozialdemokratie nach dem 2. Weltkrieg wegen seiner spitzen bajuwarischen Feder zur Kaiserzeit zur Kultfigur erhoben wurde, endete im antisemitischen Wahn.

Nicht alle unterlagen der Massenhysterie. Heinrich Mann beendete seinen Roman „Der Untertan“ 1914, der eine Wurzel des Wilhelminismus entblößte, den er aber wegen der Zensur erst nach dem Krieg veröffentlichte konnte. Er stand  im Streit mit seinem berühmteren Bruder Thomas, der in seinem Machwerk: „Betrachtungen eines Unpolitischen“ seinen damaligen Hass auf die westeuropäische Demokratien bis nach dem Krieg pflegte. Die DEFA hat 1951 kongenial den Untertan verfilmt, was seinen Eindruck auf die damalige BRD nicht verfehlte.

Im „Burgfrieden“ fand die SPD-Spitze kein Wort dafür, dass von den Demokratien Frankreichs und Englands die Deutschen noch etwas lernen konnten. Ihre Parlamente ließen sich nicht von einem kriegsgeilen Adel beherrschen. Aber allen war gemeinsam: Keine Friedenssehnsucht, keine Solidarität der Arbeiterklassen über die Grenzen hinweg, der Chauvinismus hatte sich in weiten Proletarierkreisen Bahn gebrochen. Von einem Tag zum anderen eilte das deutsche Proletariat an die Front, um den französischen Klassenfreund von gestern zu ermorden, mit deutschem Offensivgeist, im teutonischen Kampfes- und Todesmut. 

Der Kaiser konnte erklären, ohne auf Widerspruch zu stoßen: „Ich kenne keine Parteien mehr sondern nur Deutsche.“ Bezeichnender Weise sagte er nicht: Ich kenne keine Klassen mehr. Aber auch dafür sorgte die Propaganda: Im Mythos des Frontsoldaten schien das Klassensystem aufgehoben. Vor den Soldaten stürmte der aristokratische Leutnant, um als erster im Kugelhagel zu fallen.

Was das Ganze gänzlich ungenießbar macht, waren die „Feldgottesdienste“ unter Feuer, um in existenzieller Not den himmlischen Beistand herbei zu flehen, gemäß dem Koppelspruch: „Gott mit uns“. Wie die „Internationalistin“ Ursula Hauser in ihrem in Kuba publizierten Artikel: „Psychoanalytische Beträge über  das Thema des Krieges in Afghanistan“schreibt, diente der Anruf an den  monotheistischen Gott noch einem anderen Zweck. Er sollte ein Tabu, die natürliche Sperre des Tötens, überwinden. Wenn ein Mensch ohne individuelle Autonomie den paternalistischen Gott an seiner Seite wusste, konnte er mit einer göttlichen Absolution für sein Morden rechnen (1).

In Frankreich herrschte ein ähnlicher Chauvinismus. Allerdings mit einigen Besonderheiten. Dort wurde der führende Sozialist Jean Jaurès wegen seiner Friedenshaltung wenige Tage vor Kriegsbeginn ermordet. Offensichtlich brauchte es in Frankreich aus der Sicht der Kriegstreiber ein mörderisches Signal des Terrors gegen internationale Friedensdenker. Die Sorge war unbegründet. Während des Krieges entstand der Mythos des patriotischen, proletarischen Poilu, der im Massengrab zu Hunderttausenden vor den Forts von Verdun verscharrt wurde.

Die wenigen Hellsichtigen verzweifelten zutiefst. Vier Tage nach dem Mord wollte Rosa Luxemburg in einem gemeinsamen suizidalen Protest dem deutschen Proletariat im letzten Moment die Augen öffnen, bevor es in den Massenselbstmord marschierte. Clara Zetkin wollte sich nicht in einen kollektiven Selbstmord aus Protest hinein ziehen lassen und unterschrieb nicht (2). Vielleicht trieb Rosas Suizidplan auch die Einsicht, dass sie als Leiterin der SPD-Parteischule seit 1907 an verantwortlicher Stelle gescheitert war. Es war nicht gelungen, die internationale Idee aus der Phrase eines bloßen Ideals herauszulösen und zu einem Wegweiser zu machen, der den Krieg verhindern und für Millionen hätte lebensrettend sein können. 

Kommunistisches Manifest: Ohne Internationalismus kein Kommunismus

Für die Gründer des wissenschaftlichen Marxismus war klar: Keine Befreiung des Proletariats vom Joch des Kapitalismus ohne Internationalismus. Die kubanische „Marxistische Bibliothek“ hat 2008 in ihrem Bemühen, die marxistischen Gedanken wieder stärker zu verankern, das Kommunistische Manifest in der letzten Redaktion von 1890 durch Friedrich Engels, nach dem Tod des Mitautoren Karl Marx, mit kubanischen Kommentaren und allen Materialien wieder aufgelegt (3). In dem ersten Druck trägt das Manifest, das im Februar 1848 von der (internationalen) „Liga der Kommunistischen Partei“ in London verabschiedet wurde, den Aufruf zur Vereinigung aller Proletarier. Wie dies im Einzelnen zu geschehen hatte, wurde naturgegeben den nachfolgenden Geschichtsabläufen überlassen. Einige Grundsätze über das Verhältnis von Nationalstaat und Internationalismus werden dennoch dargestellt.

Kommunistisches Manifest: Vom verborgenen Bürgerkrieg zur offene Revolution

Im Manifest heißt es: „In seiner Form, obwohl nicht in seinem Inhalt, ist der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zu aller erst ein nationaler Kampf. Natürlich ist es so, dass das Proletariat in jedem Staat mit seiner eigenen Bourgeois fertig werden muss“ (3). Wie aber soll der Sprung vom steten Ringen zur offenen Revolution erfolgen? Mit etwas Unschärfe behaftet, heißt es weiterhin: „Um die generellsten Phasen der Entwicklung des Proletariats zu skizzieren, haben wir den Verlauf des Bürgerkrieges verfolgt, der mehr oder minder sich verborgen im Schoß der existierenden Gesellschaft entwickelt, bis zu dem Moment, in dem er sich in eine offene Revolution transformiert, und das Proletariat…seine Herrschaft errichtet“. Auslöser dieser Transformation ist – wie es einige Sätze weiterhin heißt - , „dass der moderne Arbeiter an dem Fortschritt der Industrie nicht entsprechend teilnimmt, der Arbeiter in das Elend stürzt, und die Armut immer noch schneller wächst als die Bevölkerung und der Reichtum“.

Imperialismus verhindert Weltmarkt und proletarischen Internationalisierung

Und wie soll die nationale Empörung sich zu einer internationalen ausweiten?  Einige Seiten weiter heißt es: „Die nationale Begrenzung und die Antagonismen zwischen den Völkern verschwinden von Tag zu Tag  mit der Entwicklung der Bourgeoisie, der Freiheit des Handels und des Weltmarktes, mit der Uniformität der industriellen Produktion…“(5). Der klassische Liberalismus hat es in ähnlicher Weise wenn auch mit anderen Akzenten formuliert: Es ist der globale Kapitalismus, der auf seinem Weg zum Weltganzen das Proletariat „mitnimmt“, es internationalisiert. Wir werden sehen, dass durch den Imperialismus (Lenin) die konkurrierenden kapitalistischen Staaten sich selber in den Weg stellten, den Weltmarkt zu errichten. Aber: Der Imperialismus blockiert für lange Zeit nicht nur den einheitlichen Weltmarkt. Indem er dies tut, stellt er sich – nach der Logik des kommunistischen Manifestes - auch der Internationalisierung des Proletariats in den Weg.

Industrialisierung als Identitätsstifter des Proletariats im Wilhelminismus

Das von Engels redigierte kommunistische Manifest ist 24 Jahre vom 1. Weltkrieg entfernt. Als wichtiges Dokument hatte es sicher seinen bestimmenden Einfluss auf die Sozialisten der ganzen Welt bis zum Weltkrieg.  Es bleiben zwei Fragen angesichts des euphorischen Wahns der Massen im Sommer 1914 und ihrer sozialchauvinistischen Führer: Waren die Marx/Engels  Analysen falsch, oder hatte es in breiten proletarischen Kreisen seitdem ein chauvinistisches Umdenken gegeben, weil mit dem Imperialismus eine proletarische Internationalisierung verhindert wurde? Ich neige dem zweiten zu. Weitere Frage: War die sozialdemokratische Führung blind gegenüber dem Gesinnungswandel in ihren Reihen oder ein Teil desselben? Das Manifest spricht vom „verborgenen – alltäglichen - Bürgerkrieg zwischen Arbeit und Kapital“. 

Eine interessante Metapher: Wenn verborgen,  dann vor wem? Vor den Massen, die die realen Alltags-Konflikte selber austrugen, sich aber über die Folgen nicht im Klaren waren? Waren es  deren „Führer“, die das Thema nicht öffentlich problematisierten, sondern im Verborgenen hielten? Oder wurde unter der Autorität eines siegesgewissen Marxismus und den ihm folgenden  internationalistischen Kommentaren, Urteilen, Bildungsveranstaltungen, Diskussionen in Parteizirkeln und in der SPD-Parteischule die nationalbornierte Realität des Massenbewusstseins phrasenhaft zugedeckt? Das kommunistische Manifest legte die Gefahr des Chauvinismus bloß.

 Man musste seine innere Logik nur richtig entschlüsseln. Eins steht fest: Wäre die wahre Stimmung der Massen nicht in den ersten Kriegstagen sondern schon viel früher aufgedeckt, und wäre somit eine kritische Öffentlichkeit innerhalb der Linken über den eigenen Zustand ungeschminkt hergestellt worden, hätte das Proletariat in Westeuropa seine Chance behalten. Wie heißt es so schön in einem Spruch der heutigen Friedensbewegung: „Stell dir vor, es wäre Krieg, und du gehst nicht hin?“ Das Proletariat ging hin. Seine Leichen lieferten den Treibstoff, ohne den die Kriegsmaschinerie nicht gelaufen wäre. 

Das Proletariat: Verführte und Mittäter im Wilhelminismus

Das Bild des Wilhelminismus bleibt widersprüchlich. Auf der einen Seite herrschte bei vielen das Elend vor, von dem das Manifest als dem auslösenden Element der Revolution spricht. Auf der anderen Seite - eignen wir uns Jürgen Habermas „Thesen zur Theorie der Sozialisation“ an - (6) gewannen viele aus der neuen Klasse der Arbeiter „positive Alltagserlebnisse“ im „Wilhelminismus“, der als deutsche Eigenart im Bündnis zwischen quasi-feudalistischer Aristokratie und Kapital zu verstehen ist. Es fand eine Internalisierung der im Adel und Bürgertums vorherrschenden gesellschaftlicher Werte beim Proletariat statt: Die rasante Industrialisierung förderte eine allgemeine Aufbruchsstimmung der Moderne in Relation zum vergangenen Agrarstaat. Nicht nur die Bourgeoisie und Aristokratie auch das Proletariat fühlten sich als Nutznießer. Aus den deutschen Knechten und polnischen Immigranten wurden Arbeiter, ein sozialer Aufstieg sondergleichen. Sie waren nicht in erster Linie die Verführten des Wilhelminismus, sie waren dessen Mitträger, wie sich 1914 heraus stellte. Im Manifest ist das Thema  der Durchdringung  der Aristokratie durch den Kapitalismus  und Schaffung von Abhängigkeiten  in einer blumig-ironischen Sprache  abgehandelt, wo im alltäglichen Leben „die an sich hochtrabenden Aristokraten und Junker die goldenen Äpfel, die vom Baum der Industrie fielen, aufhoben und die Ehre, die Liebe und das Vertrauen für den Handel in Wolle, Zuckerfabriken und Schnapsbrennen eintauschten“ (7).

Die Empörten, Verletzten, die  zu kurz Gekommen stiegen in die Schiffe der Hapag Lloyd nach New York. Viele revolutionär gestimmte Menschen wanderten aus, viele flohen vor dem Elend zu den Verheißungen der Neuen Welt. In Deutschland hatte man die  Wahl, in die neue Welt auszuwandern oder  sich trotz aller Widrigkeiten in der alten Heimat einzurichten. Wer die Entscheidung traf, zu Hause zu bleiben, akzeptierte die Grundregeln des alten Europas. Diese Selektion schuf eine Art „patriotische Homogenität“ zur „Heimat“.

Proletariat macht sich den nationalen Anspruch auf Weltgeltung zu Eigen

Die Bismarck’schen Sozialgesetze  wie die Volksbildung durch Schulzwang liefern Erklärungsmuster für die Integration der Arbeiterschaft in die Gesellschaft. Das preußische Modell von Bildungsbeflissenheit, Arbeitsdisziplin, Gesundheitsvorsorge, Bekämpfung der Seuchen waren die sozialen Voraussetzungen der Industrialisierung. Sie gaben dem Arbeiter den Anschein eines „fürsorglichen Staates“ und schienen der marxistischen Auffassung vom Klassenstaat zu widersprechen. Der Aufstieg Deutschlands in den Kreis der Großmächte, seine beginnende Weltgeltung,  förderte das Selbstbewusstsein „des Deutschen“.  Wer in den Fabriken wenig zu sagen hatte, konnte sich an der Reichskriegsflagge berauschen, die über den Weltmeeren wehte. Das Flottenbauprogramm von Tirpitz, das gegen England gerichtet war, schuf viele Arbeitsplätze bei Thyssen, den „Kruppianern“ und der Schichauwerft. Die Ausstattung der Schiffe mit modernen Signalanlagen war bei den „Siemensianern“ gut aufgehoben. Die Ausrüstung des Heeres mit Feldtelefonen war ein Riesengeschäft.  Der Ausbau des Schienennetzes diente auch der schnellen Verlegung von Truppen, eine Voraussetzung des Schlieffenplanes. Von der boomenden Rüstungsindustrie fiel für die Arbeiter immer etwas ab.

Militarisierung der Gesellschaft fördert Kadavergehorsam

Parallel zur Industrialisierung vollzog sich die von der Aristokratie betriebene Militarisierung der Gesellschaft, ein widersprüchlicher Prozess. Das deutsche Reich und mit ihm die deutschen Kapitale traten spät in die Weltgesellschaft ein und fanden die Welt schon aufgeteilt. Den Anspruch auf Weltgeltung  durchzogen die Schichten des Bürgertums, des Proletariats, selbst der Bauern. Von Anfang an war der Krieg eine selbstverständliche Option, die „Fortsetzung des Friedens mit anderen Mitteln“. Die Vorbereitung auf einen Krieg, der wie das Amen in der Kirche kommen musste, gehörte zur Propaganda der Militaristen.  Ein besonders propagandistischer  „Brüller“ war der bramarbasierende Kaiser, der ein Vorläufer von Goebbels hätte sein können, wenn ihm die gleichen Medien zur Verfügung gestanden hätten.

Die bürgerlichen Mütter zogen ihren Söhnen Matrosenanzüge an. Im Kinderzimmer standen die Zinnsoldaten. Das Bürgertum hatte seine Lektion aus der Niederlage 1848 gelernt. Während die Germania als Patronin der Revolutionäre in der Frankfurter Paulskirche  in friedlicher Pose  die schwarz-rot-goldene Fahne hoch hält, tritt ein paar Jahrzehnte später dieselbe Germania mit dem Schwert auf. Die Uniform strahlte unbedingten Gehorsam aus. Der „Hauptmann von Köpenick“ ist ein beredtes Beispiel für den Irrsinn des Militärs.  Wenn man die Geschichte weiter erzählt, kann man dem Irrsinn die Krone aufsetzen: Dem Kaiser Wilhelm soll die Story kolossal gefallen haben. Wichtiger als der Irrsinn,  dass ein verkleideter Schuhmacher die Bürgermeisterkasse mit einer Kompanie Soldaten ausraubte, war für ihn der Kadavergehorsam von Bürgertum und Militär.

Die wahre Schule der Nation waren die Kasernen, zu denen die Jahrgänge einberufen wurden. In dem Band II des Reichsarchivs „Die Schlacht von Saint Quentín“ vom Spätsommer 1914 befindet sich ein bezeichnendes Foto über den Drill der „Potsdamer Wachtparade“ neben dem Potsdamer Schloss, das heute  aus den Ruinen auferstanden ist (8). In 100 Mann breiten Linienreihen paradieren tausend Mann in Friedenszeiten. Daneben das Bild auf dem realen Schlachtfeld: Es ist noch die Phase des Bewegungskrieges.  Den auf flachem offenen Geländen der Picardie Voranstürmenden schlägt das mörderische Feuer der MGs und der Feldgeschütze entgegen. Sie sind dem Feuer schutzlos ausgeliefert. Sie sind instruiert worden, nicht nach links oder rechts zu schauen und sich nicht um Verwundete zu kümmern. Ihnen ist eingetrichtert worden: Falls Du fällst, kümmert sich vorerst niemand um dich. Du bist nichts, der Schlieffenplan ist alles. Allein in den ersten Wochen des Krieges fielen über eine Million Mann.

Das Autoritäre sprach das Gemüt des deutschen Mannes an, besonders des Arbeiters. Disziplin im Heer und in der Fabrik, Autorität in der Familie. Adorno hat die autoritäre Persönlichkeitsstruktur beschrieben (6). Absoluter Gehorsam war die Regel, und wer als Sohn nicht gehorchte, bezog Prügel, den der Sohn wieder an seinem Sohn weiter gab, bis in die Adenauer-Zeit hinein. So ging es  in vielen Arbeiterfamilien zu. Ich bin ein Zeuge davon. Aber wie kam es zu dem ganzen Wahnsinn?

Die Theorie des Imperialismus von Lenin

Die kubanischen Ciencias Sociales haben im Rahmen „biblioteca marxista“  2010  Lenins „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ neu herausgegeben  (10).  Die “Broschüre” ist eines der großen Klassiker des Marxismus, wie es einleitend heißt. Lenin weist darauf hin, dass er in der ersten Hälfte 1916 im Exil in Zürich den Text mit einer Schere im Kopf angesichts  der zaristischen Zensur geschrieben habe. Dennoch nahm er in seinen üblichen scharfen Polemiken  kein Blatt vor den Mund. 

Zum Zentenarium  des Ersten Weltkrieges scheuen sich die bürgerlichen Historiker  davor, sich auf die Imperialismustheorie von Lenin einzulassen,  obwohl er der maßgebliche Interpret der  Ursachen des 1. Weltkrieges ist.  Warum diese Scheu?  Die Theorie ist aus dem kritischen Bürgertum gewachsen.   „Das Finanzkapital“ von Rudolf Hilferding und besonders „Der Imperialismus“ von J. A. Hobson  haben wertvolle Vorarbeiten für Lenin geleistet. In Zürich verwandte er über 150 aktuelle Schriften zur Monopolisierung des Bankenwesens und der Industrie  aus dem Deutschen Reich, aus der er die  Aggressivität  nationaler Kapitale zog. Mit keinem Wort ging er allerdings auf den schon 2 Jahre laufenden Weltkrieg ein.  Vielleicht wollte er noch  einen zweiten Band über den „Kriegsimperialismus“ schreiben, konzentrierte sich aber auf einen Teilaspekt des Weltkrieges, der Vollendung „seiner“ Revolution in Russland.  An Lenin kommen die bürgerlichen Historiker  schon deshalb nicht vorbei, weil er  aus dem wahren Charakter des Krieges die erfolgreichen praktischen Schlussfolgerungen „seiner“ Revolution zog. Niemand verband wie er einen scharfen Intellekt mit einer erfolgreichen Praxis. 

Aus dem Imperialismus kommt der Krieg

In seiner in Vorkriegszeiten konzipierten  und inmitten des Krieges geschriebenen Imperialismustheorie  sah er drei Elemente  voraus: Erstens müssen die Konkurrenzen um Weltmärkte und Weltgeltung zwischen den imperialen Mächten unvermeidbar zum Krieg führen.  Zweitens spitzen sich im Krieg die kapitalistischen Widersprüche  zu und geben den objektiven Impuls für  Revolutionen,  und drittens hat die Revolution im Krieg Erfolg, wenn als subjektives Moment die richtigen Themen intoniert werden. Im Fall Russlands: Frieden, Brot und Boden. Ein Revolutionär braucht ein weiteres: Glück. Dieses „Glück“ war in der Person des faktischen Diktators  Ludendorff gegeben,  der einerseits ein mystifizierender Thule-Anhänger war, andererseits  ein genialer Stratege. Der Diktator der letzten Jahre des Kaiserreiches traute  Lenin zu, dessen Pläne in Russland zu verwirklichen. Der Zar war zwar gestürzt, aber die bürgerliche Regierung unter Kerenski führte den Krieg an der Seite der Alliierten fort. Mit einem Waffenstillstand an der Ostfront konnte Ludendorff  Divisionen für einen finalen Schlag gegen den Westen frei bekommen.  Der „erste Leninist der Bourgeoisie“  setzte  den Revolutionär  in den berühmten „plombierten“ Zug mit der  Fahrkarte nach Petrograd. 

Die Story mit Lenin als einen Agenten der deutschen Kriegskamarilla mit der geschenkten Fahrkarte konnte Stalin nicht gefallen. Also erfand er die poetische Mär in den Schulbüchern der Sowjetschüler, dass Lenin, verkleidet als Heizer,  die Kohlen schaufelte, so dass mit seiner „befeuernden“ Energie die Lokomotive durch das Territorium des Deutschen Reiches der Revolution entgegen dampfen konnte. Lenin nicht nur ein Theoretiker und praktischer Revolutionär sondern auch ein  Lokomotivheizer.

Imperialismus deformiert das Proletariat

Aus den Widersprüchen des  Liberalismus kommend, stellt der Imperialismus sich gegen seine ursprünglichen Idealen.  Anstelle eines  fairen Wettbewerbs auf freien Märkten weist der Imperialismus Trusts, Manipulation der Märkte, vor allem die Dominanz der Großbanken auf, von der Gier der Profitmaximierung geleitet. Im Konkurrenzkampf erlangen die Großkonglomerate einen Vorsprung, die sie zur Ausweitung ihrer Macht ausnutzen. Die Konzentration der Kapitale ist die Folge. Während in den USA das Ölimperium von Rockefeller durch den Staat zerschlagen wird, kann sich die Deutsche Bank u.a. ungehindert ausbreiten. Ähnlich heute seit dem Ausbruch der Weltkrise 2007 dominiert die Finanzwirtschaft über die Industrie und ist maßgeblich verantwortlich für die krisenhaften Zuspitzungen im Kapitalismus. Lenin versteht daher unter dem „höchsten“ Stadium  zugleich den Status seines Verfaulens.

Der Imperialismus läuft auf das Scheitern der klassisch-liberalen Ideale einer weltweiten Konkurrenz unter Gleichen, mit gleichen Chancen hinaus. Es trat das ein, was wir schon thematisiert haben: Die imperialistischen nationalen Kapitale konnten keinen Beitrag zur Ausbreitung eines freien Welthandels in Richtung einer homogenen „Weltgesellschaft“ leisten. Damit war zugleich eine Prämisse des kommunistischen Manifestes  nicht gegeben, dass „die nationale Begrenzung und die Antagonismen zwischen den Völkern von Tag zu Tag  mit der Entwicklung der Bourgeoisie, der Freiheit des Handels und des Weltmarktes, mit der Uniformität der industriellen Produktion verschwinden“.  Der Imperialismus unterbrach den Prozess der Internationalisierung durch Globalisierung. Der deformierte Imperialismus trug seinen Teil zur Deformation des Proletariats bei.

Imperialismustheorie unterschätzt Chauvismus des westeuropäischen Proletariats

Die Imperialismustheorie gab Lenin das wissenschaftliche Instrumentarium, um den Krieg als imperialistisch zu definieren und darauf aufbauend die Revolution in Russland zu vollenden. Aber er unterschätzte den Chauvinismus“ des Proletariats Westeuropa. Ihm war klar, dass zwischen dem Lippenbekenntnis der „sozialchauvinistischen“ Führer und ihren Taten vor dem Weltkrieg ein großer Unterschied bestand (11). Er verurteilte den Kongress der SPD 1912 in Chemnitz, auf dem die Resolutionen sich gegen die imperialistische Politik wandten, aber nicht danach entsprechend für den Frieden gekämpft wurde. Aber er führte dies  auf die Doppelzüngigkeit der Führung zurück und nicht auch auf die Massen. 

Nicht,  dass er der Stellung der Arbeitnehmerschaft  in der Industrialisierung keine Aufmerksamkeit widmete. In seinem Buch  zitiert er Briefe von Friedrich Engels an Karl Marx, in denen sich Engels über den wachsenden „Opportunismus“ von englischen Klassenschichten gegenüber dem britischen Kapitalismus beklagte (12).  Er zitiert das Buch von Schulze-Gaevernitz über den „Britischen Imperialismus“, in dem die „höhere Arbeiterschicht“  sich von der britischen Bourgeoisie kaufen lässt (13). Der riesige Kolonialbesitz bescherte den herrschenden Klassen Sonderprofite, mit denen die Arbeiteraristokratie gekauft wurde.  Aber zugleich betont Lenin, dass der „Opportunismus“ die Arbeiterklasse letztlich nicht verderben könne, weil dieser „ gegen die generellen und vitalen Interessen der Arbeiterklasse gerichtet sei“ (14). An dieser Stelle verlässt Lenin sein  scharfer Intellekt. Nach dem Motto: Was nicht sein darf, kann nicht sein,  wischt er die  Fakten vom Tisch. Von seinem Exil in der Schweiz aus hätte er nur über die nahe Grenze schauen müssen, um die   opportunistisch-chauvinistische  Kriegsbegeisterung der Massen in Deutschland wahrzunehmen.

Der Gang des Weltkriegs wandte sich in Deutschland letztlich gegen alle Interessen, gegen die Arbeiter, gegen die Bauern, gegen die verelende Bourgeoisie“, die  - über die eigenen Kriegsparolen verblödet -  „Gold für Eisen“ gab. Der Krieg wandte sich auch gegen die Aristokratie, die mit der Niederlage ihre militärische Kompetenz verlor und sogar gegen die nationalen Kapitale, worauf wir noch zu sprechen kommen. Über den Charakter des „Volkskrieges“ konnte kein Zweifel bestehen. Die Kapitale der höchstentwickelten Staaten Westeuropas  führten keine Kriege  mit bezahlten Söldnern.  Der Nationalismus hatte seit der Französischen Revolution die Massen erfasst, die begeistert in den Krieg zogen.  Ohne ihre Beteiligung wären die modernen Kriege nicht möglich. Der Kriegsimperialismus setzte also das Proletariat voraus:  das von den reaktionären Kräften „aktivierte Menschen-Material“, mit dessen Zutun allein die kapitalistischen und adligen Kriegstreiber ihre Ziele verwirklichen konnten.

Aber auch später verkennt Lenin  die maßgebliche Rolle des westeuropäischen Proletariats im Krieg in Westeuropa. 1920 schreibt er in dem Vorwort zur deutschen und französischen Ausgabe zum „Imperialismus“: „Zig-Millionen von Leichen und Erniedrigten, Opfer des Krieges—eines Krieges, wo man sagen muss, dass die Gruppe der Finanzbanditen Englands und Deutschlands den größten Teil der Beute errafften – haben mit einer unbekannten Geschwindigkeit bis heute die Augen von Millionen und zig-Millionen von Eingeschüchterten, Unterdrückten und von der Bourgeoisie Betrogenen geöffnet. Auf den weltweiten Ruinen als Produkt des Krieges wächst deshalb die globale revolutionäre Krise, die mag sie noch so lange und den Wechselfällen unterworfen sein, nicht ohne die proletarische Revolution und ihren Sieg beendet werden kann“.

Die Proletarier sieht er als Opfer des Krieges, vielleicht noch als „Betrogene“ aber nicht als aktive Mitbeteiligte, die sich während des Krieges ein Teil der „Beute“ erhofft haben,  und sei es, wie  es der Soziologe  Max Weber definiert hat, um teilzuhaben  an der Weltgeltung Deutschlands zur Absicherung ihrer Arbeitsplätze,  eines Deutschlands, dessen globaler Standort nicht mehr nach einem Siegfrieden bestreitbar wäre. Auch wenn man Lenin mit seinem Text über die „Opferrolle“  des Proletariats zubilligt, die  1920 noch revolutionär Gesonnenen  ermuntern zu wollen,  die Revolution voran zu treiben, war seine Einstellung zu dem Thema prinzipiell. Bis zu seinem Tode hielt er an de Glauben fest, dass die russische Revolution nur der Beginn des Aufstandes in Deutschland sei.

Versuch einer Fortschreibung der Imperialismustheorie in Kriegszeiten

Das mit der Kriegsschuld  beladene Proletariat sollte  zur Kraft der Revolution werden.  Die Auflösung dieses Widerspruches  lag in der „Ermattung“  des Kriegsimperialismus. In diesem Augenblick der Ernüchterung läge die neue Chance zu einem friedensstiftenden Internationalismus, glaubte Rosa Luxemburg. Deshalb  gründete sie mit Franz Mehring im April 1915 die Zeitschrift „Die Internationale“. Aus ihrem Leserkreis gingen der Spartakusbund hervor und später die Kommunistische Partei. Den Internationalismus   einzufordern,  hatte allerdings seine logischen Tücken, wie einige theoretische Überlegungen aufzeigen. 

Wie hätte eine theoretische Erfassung  einer Revolution im imperialistischen Krieges aussehen können?  Betrachten wir das Kriegsende, das ein klares Ergebnis bringt:  Sieger und Besiegte, auch wenn einige Historiker glauben, dass der Krieg ad infinitum weiter gegangen wäre ohne das kriegsentscheidende Auftreten der Amerikaner an der Westfront.  Der Enttäuschung der Unterlegenen stünde die erneut  angefachte Euphorie der Massen der „Sieger“ gegenüber. In dieser Lage wäre ein allgemeiner Aufstand im Nachkriegseuropa ein logischer Widerspruch. Wenn wir mögliche Entwicklungen der Besiegten weiter fortschreiben, wäre die Revolution am Ende des imperialistischen Krieges im Lande der Besiegten  ein von den  Staaten Westeuropas isoliertes Phänomen.  Einmischung von außen und Gefährdungen im Inneren durch reaktionäre Kräfte wären die möglichen Folgen, wie es in Russland der Fall war.  Lenins 2. These einer siegreichen Revolution nicht am Ende eines Krieges sondern inmitten des imperialistischen Krieges hatte  zwar in Russland eine Chance,  nach einem Bürgerkrieg umgesetzt zu werden,  weil der Chauvinismus sich in den Massen  nicht durchgesetzt hatte, nicht aber  in einem besiegten Land Westeuropas.

Nach der Ermattung des Krieges im Land der Unterlegenen war dort die Chance der Revolution gekommen, dem Krieg ein Ende zu bereiten. Aber wie sollte es weitergehen, wenn die beharrenden Elemente  weiter existierten? Ein für die Revolution siegreicher  Bürgerkrieg im unterlegenen Land würde die Intervention der kriegstreibenden Klassen in den siegreichen Ländern Westeuropas nach sich ziehen. Natürlich müsste das Wagnis eingegangen werden, aber unter erheblich erschwerten Bedingungen, die zur Aufspaltung des Proletariats in verschiedene Fraktionen führen musste.

Folgt man dieser Logik,  bleibt die Erkenntnis, dass  das Proletariat West- und Mitteleuropas schon weit vor dem Anfang des imperialistischen Krieges als historisch bestimmende Kraft abgedankt hatte. Der Beginn seines Versagens lag schon in den Jahrzehnten zuvor. Mit der Aufgabe des Internationalismus hatte das westeuropäische Proletariat historisch ausgespielt. Die Gründung der neuen II. Internationale in Bern 1919 hatte keine andere Funktion als der internationalen Bourgeois  zu dienen. „ Sie ist eine wahrhafte gelbe Internationale“, urteilte Lenin (15). Das weltrevolutionäre Potential verschob sich nach Asien und danach zum „Sozialismus des 21. Jahrhunderts Lateinamerikas“(16). 

Nach dem Sieg der Oktoberrevolution wollte Lenin diese Fatalität nicht wahrnehmen. Bis zu seinem Lebensende verfocht er die These, dass eine Revolution allein im eigenen rückständigen Land auf Dauer nicht möglich sei und setzte seine Hoffnung auf Deutschland. Basierend auf dem marxistischen Verständnis des Staates als Vertreter der herrschenden Klassen unterschätzte er dessen integrative Kraft. Erst durch Gramscis Theorie der Hegemonie, die den Staat als Vertreter des Gesamtkapitalismus sah, innerhalb dem der Staat den abhängigen Schichten einen eigener Bewegungsraum überließ, konnte sich die marxistische Theorie der Wirklichkeit annähern (17).

Übergang der Macht vom imperialistischen Kapital zur Zentralverwaltung  der Obersten Heeresleitung

Lenin beschrieb das höchste Stadium des  Kapitalismus aus dem Gesichtspunkt einer Noch-Friedens-Situation, wo die imperialistischen Mächte – angeschoben von den nationalen Kapitale und befeuert von großen Teilen chauvinistischer  Massen -  nach dem Krieg gierten. Im Krieg hatten sich die Gewichte in Deutschland erheblich verschoben. Während Lenin noch – für Friedenszeiten richtigerweise – im Bankensystem (auch damals natürlich die Deutsche Bank als Vorreiterin) das für die Monopolbildung im Industriesektor antreibende Element sah - Fusionen, Trusts, Kartelle etc. - hatten sich die politischen Leitung und Finanzströme im Krieg erheblich verschobenÜber  Kriegsanleihen des Reiches wurde das Ersparte aus der Bevölkerung gesogen, aus der Bourgeoisie Goldmark, Silberbestecke, Wertpapiere, aus Arbeiterfamilien oft der letzte Spargroschen,  und dem Staat für Kanonen, Granaten zur Verfügung gestellt.

Gemäß den Bedürfnissen der  Obersten Heeresleitung vergab der Staat Aufträge an die Industrie in einem strikten Zentralverwaltungssystem, dem ersten in der Weltgeschichte, dem Lenin seine Bewunderung zollte. Im Krieg hatte das Finanzkapital seine politische und ökonomische  Dominanz verloren. Dem Finanzkapital ging es ähnlich wie dem Reichstag. Lenin hätte sich seine seitenlange Polemik mit Kautsky  1914 und 1915, ausgetragen über „Die Neue Zeit“, sparen können, was  bedeutsamer im Imperialismusprozess sei, das  Bankensystem oder die Industrie, wenn zwischen Kriegs- und Friedenszeiten unterschieden worden wäre. Die Kriegsanleihen deckten bei weitem nicht den Finanzbedarf. Nach Aufgabe des Goldstandards warf die Reichsbank die Notenpresse an, der Beginn des Inflationsprozesses.

Ukraine: Über Automatismen zum Dritten Weltkrieg?

Auch hundert Jahre nach dem Ausbruch schieben die internationalen Historiker Deutschland die „Hauptschuld“ zu. Deutschland hatte Russland den Krieg erklärt.  Die deutschen Historiker sprechen mehr „ausgewogen“ von „politischen Automatismen“ in einer unheiligen Konfrontation, die damals  nacheinander Deutschlands, Österreich-Ungarn und Türkei gegen Serbien, Russland, Frankreich, England in den Krieg hinein zogen, verbunden über Bündnisverträge. Über die „Kriegslogik“ des Schlieffenplanes  wurde Deutschland zum „Erstschlag“ verleitet. Dem ging aber das Verschulden der deutschen Diplomatie  voraus, geleitet von den reaktionären Kräfte der wilhelminischen Aristokratie, die die Armee führte, Deutschland in eine   Zweifrontenposition zu manövrieren, gegen das Zarenreich im Osten und die Demokratien im Westen. Von der komplexen Ausgleichspolitik Bismarcks wollte niemand mehr etwas wissen.

Heute ist eine ähnliche Konstellation mit der ukrainischen Krise  gegeben: Die (West)Ukraine verbündet sich mit den USA und der EU gegen Russland. Russland beansprucht Protektor „aller Russen“ zu sein. Dies betrifft die Ostukraine und die Staaten mit starken russischen Volksgruppen in Moldawien, Weißrussland, Lettland, Kasachstan usw.  Das gegenseitige Bedrohungsszenarium  baut sich Anfang Mai 2014 weiter auf. Russland hält sich Truppen als Eingreifreserve an der ukrainischen Ostgrenze, um im Fall der Niederlage der prorussischen Aktivisten in der Ostukraine notfalls zu intervenieren. Die NATO will Truppen an die Westgrenze der Ukraine stationieren. Treffen beide in der Ukraine aufeinander, läuft jede Kontrolle aus dem Ruder, und ist der Dritte Weltkrieg nicht mehr weit. Schnell und rigoros muss die Kette des eskalierenden Verhängnisses zerrissen werden. Das lehrt die Vorgesichte zum Ersten Weltkrieg.

Statt dem Dilemma eines Zweifrontenkrieges durch diplomatisches Verhandeln zu entkommen, sah  die Oberste Heeresleitung  das einzige Heil in einer raschen Niederringung der Weststreitkräfte. Dazu bedurfte es einer weitgreifenden Offensive des rechten Flügels durch das neutrale Belgien, der Paris im Westen umfassen sollte. Nach einer raschen Niederringung Frankreichs und der englischen Expeditionsstreitkräfte wollte man mit vereinten Kräften gegen die zaristischen Truppen sich wenden, gegen deren Vordringen man  nur  schwache Kräfte gestellt hatte. Vor Berlin wollte man die „Kosakenhorden“ vernichten, von denen die Sozialdemokratie schwafelte. Wie immer in einem Krieg kam alles  anders.

Eines war von Anfang nicht zu übersehen. Im Kriegsentwurf der adligen Clique war der Schlieffenplan und seine Nacharbeitungen ein hoch riskantes Vabanque Spiel.  Man konnte nicht einige Ungewissheiten  vorher klären: z. B. die gegnerische Widerstandskraft des Poilu, die exakten Abläufe der Aktionen, das Ineinandergreifen einer komplizierten Maschinerie.  Natürlich machte die Oberste Heeresleitung die üblichen  Fehler aller Kriegsplaner.  Sie orientierte  sich an die Vergangenheit, den siegreichen Feldzug 1870-71 gegen Frankreich. Von einem naiven Leichtsinn und Hass auf den „Feind“ war auch die Stimmung in der Heimat geprägt.

Zu den Ungewissheiten zählte  die Mobilmachung. Um den Schlieffenplan zu erfüllen, musste es schnell gehen. Es galt, in ein paar Tagen Millionen von Soldaten einzuberufen, sie per Bahn an die Front westlich des Rheins zu schicken und 8 Armeen in Schlachtordnung aufzustellen. Den Alliierten war mit der Mobilmachung klar, dass es los ging. Die Kriegserklärung des Reiches an Russland war nur mehr eine Formsache. Im heißen Spätsommer 1914 schien auch alles nach Plan zu laufen. Der südliche Teil Belgiens wurde völkerrechtswidrig überrannt, die ersten drei Armeen stießen  als rechter Flügel - weit nach Nordwesten ausgreifend - in Gewaltmärschen in Nordfrankreich vor.  Vor der Wucht des Angriffs wichen die Alliierten nach Süden aus.

Scheitern des Schlieffenplanes – Scheitern aller Strategien

Im heißen Spätsommer 1914 ging alles schief, was schief gehen konnte. In der ständigen Verfolgung des zurückweichenden Feindes bogen die  Armeen entgegen dem Schlieffenplan zu früh nach Süden ab. Die Oberste Heeresleitung hatte aufgrund des raschen Vormarsches und der Mängel der Kommunikation zeitweise die Kontakte mit den Heeresführern verloren, so dass jede Armee für sich operierte und wie eine Hundemeute hinter dem Fuchs hinterher hetzte. Nach der letzten   siegreichen Schlacht bei Sankt Quentin und 300 Kilometer pausenlosen Marsch in zehn Tagen in der Gluthitze  stand man 30 Kilometer vor Paris an der Marne. Der Sieg schien nahe, und doch war der Krieg nicht mehr zu gewinnen.

Die Truppen standen östlich vor Paris und nicht westlich, wie es der Schlieffenplan verlangte. Paris war nicht umschlossen worden,  der von den drei Offensiv-Armeen geschlagene Bogen zu klein geraten. Die Folgen waren fatal für die deutschen Militärs. In der nachfolgenden Marneschlacht anfangs September 1914  attackierte der französische Oberbefehlshaber Joffre die deutschen Armeen von zwei Seiten: Von rasch herangeführten Armeen aus dem Südosten und von Paris aus. In einer improvisierten Aktion wurden die Soldaten aus der Pariser Garnison in Tausenden requirierten Taxis an die nahe Front geworfen. Die Deutsche Heeresleitung brach den Kampf ab, die  Armeen wichen nach Nordwesten aus. Der Schlieffenplan war gescheitert, einen anderen hatte man nicht. Nach wenigen Wochen hatte die aristokratischen Militärs das Reich an den Rand des Abgrunds geführt.

Bis heute wird der Abbruch der Marneschlacht durch die deutsche Heeresleitung kontrovers diskutiert. Es setzt sich die Meinung durch, dass die Armeen nach 10 Tagen Gewaltmärschen und ungeheuren Verlusten zu erschöpft für eine Entscheidungsschlacht an der Marne waren. Hinzu kommt, dass es die Aufstellung drei weiterer Armeen bedurft hätte, um den großen Bogen um Paris herum zu führen. Der Zwang zur raschen Mobilisierung und der Mangel an Reserven verhinderte dies. So wird das Debakel der Militärs total: Sie setzten auf einen Plan, den sie nicht mit dem Nötigen ausstatteten, damit er funktionieren konnte.

Erneutes Versagen der Politik: Kein Schritt vom Siegfrieden zum Waffenstillstand

Es hätte die Stunde sein können, in der die deutsche Zivilregierung mit dem Reichstag den gescheiterten Militärs die Macht hätte entringen und den Alliierten einen Waffenstillstand anbieten müssen. Nicht nur die Frontlage war miserabel gegenüber den gesteckten Zielen, auch die Erfahrungen, die man bisher mit dem Gegner gemacht hatte, widersprachen in allen Punkten den Erwartungen der bornierten Militärs. Der Poilu wich fechtend zurück und kapitulierte  nicht. Die exzellente  französische Feldartillerie und die Maschinengewehre säten Tod und Verderben in den Reihen der Angreifer. In wenigen Wochen war „die Blüte“ der bürgerlichen Kriegsfreiwilligen und der Leutnants der Aristokratie  auf den belgischen Feldern von Langemarck und der französischen Picardie verblutet. Von den  gefallenen einfachen Soldaten war weniger die Rede. In Langemarck waren die belgischen Maschinengewehre auf die Distanz von drei Kilometer eingestellt, unsichtbar für die Anstürmenden, so dass Tausende von Freiwilligen nicht verstehen konnten, warum  sie sterben mussten.  Um dem Gespenst des unsichtbaren Todes zu trotzen, sangen sie das Deutschlandlied, später in der Weimarer Republik und von den Nazis glorifiziert.

Aber selbst nachdem die Aristokratie und das Bürgertum viele Söhne zu beklagen hatte, wollte man nicht von einem „Siegfrieden“  Abschied nehmen.  Die Toten sollten nicht umsonst gefallen sein. Nichts schien den betroffenen Familien schrecklicher zu sein als die Einsicht, dass das „Opfer der Helden auf dem Feld der Ehre“ umsonst gewesen sein könnte. Nach dieser absurden Logik schickte man lieber noch mehr Söhne in die Blutmühle der Front. Hinzu kommt: Die Aristokratie ahnte wohl das baldige Ende ihrer Vormachtstellung in einer modernen Gesellschaft. Allein die Fortsetzung des Krieges sicherte ihr die Fortsetzung ihrer Macht an den Schalthebeln des Oberkommandos. Ohne den Krieg hätte sie nicht mehr viel zu sagen gehabt, außer dass in ihrem „Stand“ das besondere Treueverhältnis zum Reich gepflegt wurde, das sie in vielem verraten hatten. Das Attentat des 20. Juli 44 war für die beteiligten Adligen so etwas wie eine Wiedergutmachung an der Versündigung ihrer Väter im „großen Weltkrieg“. 

Der Sieg an der Ostfront verlängert den Krieg

Was aber letztlich den Ausschlag gab,  weiterhin auf einen „Siegfrieden“ zu setzen, war das „Wunder an der Ostfront“. Zwei zaristische Armeen waren rascher als erwartet in Ostpreußen eingefallen und standen vor Königsberg und Danzig. Ein riesiger Treck von deutschen Flüchtlingen setzte sich wie 25 Jahre später nach Westen in Gang. Um die Front wenigstens zu stabilisieren, schickte das Oberkommando ihren fähigsten Truppenführer Ludendorff nach Osten, nachdem er  anfangs des Krieges mit der Niederkämpfung  der Festung Lüttich den Beweis für seine strategischen Leistungen geliefert hatte.  Um den Befehlen eines Bürgerlichen in der Adelsclique mehr Gewicht zu verleihen, wurde ihm ein weitgehend unbekannter  Kleinadliger, ein pensionierter General namens Hindenburg, zur Seite gestellt, der vorher in mehreren Bittbriefen an das Oberkommando vergebens um seine Wiederverwendung   gebeten hatte.

Aber statt den zaristischen Vormarsch zu verlangsamen, setzte Ludendorff auf die Karte des Sieges. Wie ein Schachspieler, der 7 Züge des Gegners voraussehen konnte, verwickelte er in 7 Tagen allein durch die Umgruppierungen seiner Truppen den Gegner in eine unhaltbare Situation, so dass die Vernichtungsschlacht bei Tannenberg die logische Konsequenz seiner Strategie war. Der russische  Oberkommandierende nahm sich das Leben, das Kaiserreich jubelte und hatte seine Helden. Geflissentlich übersah dabei das Oberkommando,  dass 500 Kilometer weiter südlich, in Galizien, die Zarentruppen dem Habsburger  Heer  vernichtende Schläge beibrachten, der Beginn vom Ende des Vielvölkerstaates Habsburg.

Erich von Falckenhayn, der erste große Kriegsverbrecher  des 20. Jahrhunderts

Mit der Umkehr der ursprünglichen Planung durch den Kriegsablauf glaubte man, es an der Westfront „geruhsamer“ angehen zu können. Kein Russe drohte mehr im Osten. Der Bewegungskrieg verwandelte sich in einen Grabenkrieg, die Soldaten buddelten sich wie Maulwürfe in die flandrische Erde ein, die Front erstarrte. Aber ein Patt auf dem Schlachtfeld konnte für Deutschland auf Dauer keine Lösung sein.  Für einen  längeren Krieg war das Reich wegen der englischen Blockade der Weltmärkte nicht gerüstet. Es fehlte der amerikanische Weizen, es fehlte der Kautschuk für die Räder eines motorisierten Heeres, es fehlte der Nickel für die Stahlproduktion, es fehlte das Petroleum.  Es hätte auch an den Explosivstoffen für die Granaten gefehlt, wenn die deutsche Chemieindustrie nicht nur das Giftgas sondern kurz  vor dem Krieg durch neue Verfahren das benötigte Ammoniak aus der Luft gewonnen hätte, an Stelle des Guanodüngers aus Südamerika.

Der Stellungskrieg widersprach jeglicher Kriegskunst.   Sein Leiter von Falckenhayn verfiel auf die infamste Idee, die bisher  einem Militär in den Kopf gekommen wäre. Das mit Forts dicht bestückte Verdun ragte in die deutsche Front. Verdun besaß eine strategische Position, die die Franzosen nicht aufgeben konnten. Andererseits war ersichtlich, dass die Deutschen die Kette von Forts schwerlich knacken konnten. Was also war zu tun? Die bisherigen statistischen Erfahrungswerte ergaben auf einen gefallenen Deutschen zwei Franzosen.  Falkenhayns Überlegungen gingen in die Richtung: Bei einer Hochrechnung der Todesraten  durch intensivere  Kämpfe und entsprechender Dauer müsste auf eine Million gefallenen Deutschen zwei Millionen Franzosen entfallen, eine Blutrate, die die 40 Millionen Franzosen gegen 64 Millionen Deutsche nicht durchhalten könnten. Eine Vernichtungsstrategie, genannt „Blutpumpe“,  die keine Strategie sondern ein gewolltes gegenseitiges Abschlachten war.

Natürlich unterbreitete Falckenhayn diesen Mordkomplott  nicht dem deutschen Volk, sondern gaukelte der Kriegsberichterstattung vor, es ginge um Fort Douaumont, und danach um Fort Vaux, und danach um die „Höhe Toter Mann“ und so weiter und so fort, um Verdun von dem Nachschub über eine einzige Straße, la voie sacrée, zu unterbinden. Jeder gewonnene  Meter, mit Hekatomben von Menschenleibern erkauft, wurde  1916 als Sieg verkauft. Tausende von Geschütze wurden aufgefahren, doch die  „heilige Straße“  nie erreicht. Die Franzosen erkannten nicht  den Plan, hatten aber eine praktische Lösung, um Verdun zu halten. Da die Menschen ein andauerndes Trommelfeuer nicht ertragen konnten, ohne verrückt zu werden oder schwere nervliche Schäden davon zu tragen, wurden die Brigaden rasch ausgetauscht, so dass jeder Poilu das Vergnügen hatte, sich einmal in den Dreck vor Verdun zu werfen.

Nach einem halben Jahr der Belagerung wurde das Massenschlachten selbst den borniertesten Militärs zu viel. Die Killerrate verschlechterte sich zu Lasten der Deutschen, ein Erfolg traf nicht ein, Falkenhayn, ein Massenmörder, den die Geschichte bis dahin nicht gesehen hat, wurde durch das Erfolgsduo von Tannenberg, Ludendorff und Hindenburg, abgelöst, die letzten Hoffnungsträger des Reiches.

In der nachträglichen Bewertung kann man sagen: Diese Form des Massenmordens war nicht die einzige, aber in ihrer Größenordnung die monströseste in der Geschichte. Im Vietnam-Krieg war für die Amerikaner das „body-counting“  ein Maßstab für die Tüchtigkeit der Truppe.  An der Zahl der getöteten „Charlies“, in Reihen auf den Boden gelegt und fotografiert, wurde der „Erfolg“ der Kommando-Aktionen gemessen. In diesem Body-Counting wurden keine Gefangenen gemacht, denn sie hätten die Statistik verschlechtert.  In Kolumbien ermordete die Armee wahllos Bauern, zog ihnen die Uniform von FARC-Kämpfern an, um auf diese Weise ihren „Erfolg“  sich mit Geld oder Sonderurlaub bezahlen zu lassen.

Rote Fahnen der Bolschewiki im Bayerischen Kriegsmuseum Ingolstadt

Nach drei Jahren Krieg und vielen Toten war ein Ende immer noch nicht abzusehen. An der Ostfront wurden die russischen Kriegsbefürworter durch die friedenswilligen Bolschewiki abgelöst, durch den bedingungslosen U-Boot-Krieg provoziert, traten die Amerikaner auf dem europäischen Kriegsschauplatz an. Die Euphorie in der Heimat war verflogen, die Familien begannen zu hungern, so dass die Soldaten von ihren Frontrationen Nahrungsmittel zu ihren Familien nach Deutschland schickten. Der neue sowjetische Botschafter in Berlin propagierte zum Missvergnügen der Bürgerlichen und Militärs die neue Ordnung in Russland. Spontan fraternisierten  deutschen Soldaten mit den Russen im Osten. So hatte Ludendorff sich seinen Lenin-Export nach Russland nicht vorgestellt.

In der sehenswerten Dauerausstellung des Bayerischen Kriegsmuseums in Ingolstadt über den 1. Weltkrieg befinden sich zwei  Fahnen der Bolschewiki von 1917. Auf dem roten Tuch sind in kyrillischen Buchstaben Revolutionsparolen gestickt. Zwei Soldaten waren noch vor dem Waffenstillstand in Kriegsgefangenschaft geraten. Sie hatten das rote Tuch um ihre Leiber geschlungen und unter ihrer Uniform versteckt. Im Kriegsgefangenenlager  wurden die Fahnen entdeckt und vom kaiserlichen Heer als „Trophäe“  aufbewahrt.  Im neuen „Haus der bayerischen Geschichte“  in Regensburg, das nach einhundert Jahren der Revolution geöffnet wird,  sollten diese historischen Dokumente den Platz erhalten, der ihnen zusteht. Ohne den Sieg der roten Fahnen hätten noch Tausende von bayerischen Soldaten ihr Leben „auf dem Feld der Ehre“ gelassen. Den Namensreihen der Gefallenen auf den Kriegerdenkmälern auf den dörflichen Friedhöfen  hätten weitere hinzugefügt werden müssen.

Zentralverwaltungswirtschaft verlängert Krieg

Beflügelt durch die Oktoberrevolution bildeten sich in den Rüstungsfabriken revolutionäre betriebliche Obleute, die die ersten großen Massenstreiks gegen den Krieg organisierten, die Vorgänger der Betriebs-“räte“, und in der SPD fing das große Nachdenken an. Wie hältst Du es mit der Revolution? Die Bejaher wurden Kommunisten und „Unabhängige“, die Mehrheit scharte sich um die Figuren, die die Kriegskredite zu verantworten hatten, die der sich anbahnenden Revolution misstrauisch gegenüber stand, dann sich aber  an ihre Spitze stellte, um ihre Dynamik in die gewünschten Bahnen zu lenken.

Ludendorff hatte  in den letzten zwei Jahren des Krieges den Prozess der Umwandlung des deutschen Staates in eine Zentralverwaltungswirtschaft weiter betrieben: Alles für den Krieg! Gebt Gold für Eisen. Wie dem Wirtschaftsminister Speer Jahrzehnte später gelang es ihm durch sein Organisationstalent, den Krieg sinnlos zu verlängern. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass Ludendorff für seine Kriegswirtschaft einige der Forderungen aus dem Kommunistischen Manifest verwirklichte: Zentralisation der Kredite in die Hände des Staates;  staatliche Zentralisation des Verkehrswesens, Unterwerfung der Produktion unter einen Plan, Arbeitsverpflichtung für jeden.

Die Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien befand sich nicht darunter. 

Aber die Kontributionen an Lebensmittel aus der Landwirtschaft reichten kaum für die Basis-Ernährung.

Ludendorffs Raubzug in der Ukraine 1917

Noch während der Verhandlungen um einen Waffenstillstand mit Trotsky fielen Teile des Heeres in die Ukraine ein, um sich der „Kornkammer“ für das Kaiserreich zu bedienen. 1917 wurden Millionen Tonnen  Getreide nach Deutschland geschafft, um der hungernden Heimat zu helfen. Dass der Weizen den Ukrainern zu ihrer Versorgung fehlte, war ihm egal. Nicht egal konnte ihm sein, dass mit dieser Aktion sein ursprünglicher Kriegsplan durcheinander kam, das Ostheer an die Front im Westen zu einer Entscheidungsschlacht zu werfen, bevor die in den Krieg eingetretenen Amerikaner auftraten. Er setzte sich zwischen zwei Stühlen. Trotz des Getreide aus der Ukraine konnte er den „Rüben-Winter 1917/18 nicht verhindern, dem  in der Heimat Hunderttausende, darunter viele Kinder zum Opfer fielen, während die Väter für dieses kaiserliche Vaterland ihr Leben ließen. Die im Krieg geborenen zwei Schwestern meines Vaters fielen der Diphterie zum Opfer. Und er konnte nicht verhindern, dass die Amerikaner Zeit gewannen, um die neue Tankwaffe an der Westfront einzusetzen, denen die Deutschen nichts Gleichwertiges entgegen zu setzen hatten.

Aus Mangel an wichtigen Vitaminen weichten die Beinknochen der Kinder von Proletarierfamilien auf, die Knochen konnten das Körpergewicht nicht mehr halten und verbogen sich leicht nach außen.  Die O-Beine meines Vaters  waren noch nach Jahrzehnten Grund für den Spott hinter vorgehaltener Hand. Hitler hatte daraus im 2. Weltkrieg die Lehren gezogen. Die Kinder mussten jeden Tag einen eklig schmeckenden Lebertran herunter schlucken, um die Versorgung der Knochen mit Vitaminen  zu sichern.

Nochmals die Frage: Wie viel Leid wollte das Volk  ertragen? Kam seine unendliche Geduld mit dem kaiserlichen System aus der Erkenntnis der eigenen Verantwortung für den Krieg?  Und welchen Funken brauchte es, um die Revolution auszulösen? Unter dem Druck der Amerikaner mit der neuen Panzerwaffe zog die oberste Heeresleitung die Truppen in Richtung Deutschland zurück. Österreich-Ungarn löste sich auf, die Italiener marschierten zum Brenner. Was hatten die Militärs noch zu bieten als – ihrer Borniertheit folgend - ein letztes Aufbäumen vor dem  Ende, das nochmals Hunderttausende in den Tod ziehen sollte?  Die bis daher müßige Flotte in Wilhelmshaven und Kiel wurde unter Dampf gesetzt, um mit einem Angriff in den Kanal die Verbindung zwischen England und Frankreich zu zerreißen. Jeder wusste: Ein Todeskommando. Vor die Wahl gestellt, in den sicheren Tod zu ziehen oder zu revoltieren, meuterten die Matrosen. Sie sperrten die Offiziere in ihren Kajüten ein und setzten sich in die  Züge, die sie zu den Großstädten brachten. Wo sie auftraten, löste sich die kaiserliche Ordnung auf, der Kaiser dankte ab, spontane Räte bildeten sich nach dem Vorbild der Sowjeträte. 

Revolution beendet den Krieg, bleibt aber unvollendet

Ludendorff hatte sich schon vorher sang- und klanglos aus dem Staub gemacht. Der Reaktionär ahnte, dass  seine Stunde und die anderer noch schlagen würde, falls die Revolution nicht mit  Seinesgleichen Schluss machen würde. Große Teile der  Sozialdemokratie wollten  den Krieg beenden, aber keine Revolution, die die gesellschaftlichen Verhältnisse dauerhaft verändern würde. Mit dieser Beschränkung machten sie sich zum ungeliebten Konkursverwalter des Reiches. Als Bewilliger der Kriegskredite und als Befürworter eines Siegfriedens selber zu „Kriegsschuldigen“ gestempelt, ließen sie die aggressiven Kriegstreiber unangetastet, statt sie vor Gericht zu stellen. Sie sorgten über Noske, dass  die Aristokraten-Kamarilla aus dem Schussfeld kam und selber mit dem „Aufräumen“ der revolutionären Kommunisten beauftragt wurden, was mit der Ermordung von Rosa und Karl endete.  Sie setzten sich selber in eine Position, die sie  als Vaterlandsverräter mit der Unterschrift unter der Kapitulationsurkunde abstempelte. 

Statt das Ende des Krieges durch die Revolution offensiv zu bejahen, beklagten sie sich über die „Dolchstoßlegende“ und nährten die Ressentiments der Rechten. Unter miserableren Vorzeichen konnte der politische Umsturz nicht fortgesetzt werden, der mit dem Ende des Krieges so verheißungsvoll begonnen hatte. In der der Theorie des Kriegsimperialismus war dies voraus zu sehen. Es rächte sich erneut, dass schon vor Jahrzehnten große Teile des Proletariats vom Internationalismus Abschied genommen  hatten.

Zeitgleich mit dem Matrosenaufstand im Norden brach die Revolution in München aus. Hier gab es einen ähnlichen Vorgang wie in Kiel. Durch den Zusammenbruch Österreichs war München urplötzlich die am meisten gefährdete Stadt des Reiches geworden. Die Münchener Garnison sollte an den Brenner, um ein letztes Bollwerk gegen die Alliierten zu bilden. Auch hier ergab sich die Alternative Tod oder Revolution, und die Antwort war nicht schwierig.

1918: Großvaters  Rückweg zur Familie mit Kanone und Pferden

Hindenburg blieb vorerst auf seinem Posten im Großen Hauptquartier, angeblich um die Demobilisierung zu organisieren, in Wirklichkeit, um sich auf spätere große Aufgaben für das Vaterland vorzubereiten. Mein Großvater väterlicherseits zog im Spätherbst 1918 wochenlang mit zwei Pferden und seinem Feldgeschütz über tausend Kilometer ostwärts, von Frankreich nach Danzig durch das revolutionsbewegte Reich, um in der Danziger Garnison sein Geschütz abzuliefern, an der selben Stelle, wo er vier Jahre zuvor   mit dem Gerät auf einem Güterwagen nach Westen aufgebrochen war. In der Zwischenzeit waren 6 Pferde unter seinem Sattel weg geschossen worden. Dem Kaiser im Exil hielt er bis zu seinem Tod  die Treue. Auf der Schichauwerft baute er bis vierzehn Tage vor seinem Tod U-Boote. Den Friedhof, auf dem er nahe dem Danziger Bahnhof 1944 beerdigt wurde, schleiften die neuen polnischen Eigner zwei Jahre später. Man kann es ihnen nicht verdenken.

1918: Brüder, zur Sonne, zur Freiheit

Am 2. Mai 2014 trauerten 400 GenossInnen um Bruno Engelhardt, Leiter der bayerischen Landesgeschäftsstelle der Linken und mein  Kampfgenosse während der Wende,  in seiner fränkischen Heimat, wo er überraschend gestorben war. Auf der berührenden Feier durfte das schmissige Arbeiterlied „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“  nicht fehlen, das 1918 Hermann Scherchen aus der jungen Sowjetunion nach Deutschland mitgebracht und getextet hatte. Die Pathetik....“Brüder zum Licht empor!“....atmet den trotzigen Geist der Revolution mit kleinen Anlehnungen an Hölderlin. Aber trotz der Aufbruchsstimmung des Liedes findet sich in der 3. Strophe eine Reminiszenz an den beendeten Weltkrieg, wenn es heißt: ....“Brüder, das Sterben verlacht“....und zuletzt....“heilig die letzte Schlacht!“

Am Ende hatten viele alles verloren, aber das nationale Kapital am wenigsten

Wie sah am Ende des Krieges die Bilanz aus?  In Russland hatte das nationale Kapital alles an die Bolschewiki verloren.  Mit den goldabgesicherten Rubelanleihen  im  westlichen Portefeuille für die Finanzierung der Eisenbahn, der Industriezentren konnten sich die Kuponschneider in Westeuropa ihre Wände tapezieren.  Auch im Deutschen Reich waren die Kriegsanleihen das Papier nicht mehr wert, große Teile der Bourgeoisie waren verarmt, Tausende brachten sich um. Das Proletariat  hatte seinen Traum vom globalen Standort Deutschlands in der Welt ausgeträumt. Die Militäraristokratie hatte ausgespielt, das Militär wurde vorerst auf einhundert tausend Mann abgewrackt.

Und das nationale Kapital?  Eine gemischte Bilanz: Einerseits hatte die Industrie im Rahmen der zentralen Planwirtschaft  von den Aufträgen des Reiches profitiert und ihr Kapital kräftig aufgestockt. Hinzu kam die Geldentwertung, die die realen Kapitalbesitzer  bevorzugte.  Andererseits  waren schon zu Beginn des Krieges alle internationalen  Handelswege gekappt worden.  Die englische und amerikanische Konkurrenz hatte die Reedereirouten von Hapag Lloyd übernommen, der Kolonialwarenhandel in Bremen lag danieder. Der Produktion wurden Millionen Facharbeiter für die Front entzogen, die Frauen an den Drehbänken für Kanonenrohre ausfüllten.

Frankreich als Sieger hatte unter dem 1. Weltkrieg weitaus mehr zu leiden als im zweiten. Wer einmal über die weiten Felder des ostfranzösischen Kriegsschauplatzes gefahren ist, durch die Dutzenden von Friedhöfen mit den Massen von weißen Kreuzen, kann sich ein Bild davon machen. Eine  „psycho-kollektive Depression, ein soziales Psychodrama“ hatte  Millionen von Frontsoldaten erfasst, die vor Verdun revolvierend eingesetzt wurden. Sigmund Freud hat kurz nach dem Krieg seine psychologischen  Studien über die „Neurosen des Krieges“ gemacht (18). Schon ein Jahr nach dem Krieg  entwickelte er aus den klinischen Fällen von Kriegstrauma, die in Wien auf seiner Couch landeten, die Theorie, dass aus der Aggression heraus sich „ein Impuls des Todes“ entwickelt.  Der Frontsoldat weiß zwar sein Volk hinter sich, vor sich sieht er im Niemandsland der Leere des Todes ins Auge. Diese Zerreißprobe kann er nicht aushalten und erkrankt seelisch. Es kann sein, dass das kollektive „Psychodrama“  das Seine dazu beitrug, dass Frankreich wehrlos gegen Hitlers Aggression werden ließ.

England und Frankreich konnten sich zwar aus dem „Raub“ der  deutschen Kolonien und der Konkursmasse des osmanischen Reiches (Syrien, Irak)  bedienen, aber England hatte gegenüber dem kapitalistischen Wettbewerber USA viel an Boden verloren. England begann, seine Weltgeltung zu verlieren. So entfielen am Ende nur auf zwei Kapitale das große Los: auf Japan in Asien und auf die USA als neue unbeschränkte Weltmacht.  War es dies, was die europäischen nationalen Kapitale mit ihrem Imperialismus bezwecken wollten? 

Die seelische Deformation der Frontsoldaten

Eine Folge des „Großen Krieges“ wie es heute noch in Frankreich heißt,  ist die seelische Deformation der Soldaten durch ihre Erlebnisse an der Front. Heute würde man von posttraumatischer Belastungsstörung  sprechen. Die Literatur der Weimarer Republik hat einige Formen der Deformation dargestellt. „In Stahlgewittern“ des Oberleutnants Ernst Jünger legt Zeugnis ab über eine kalte Ästhetisierung des Massensterbens.  Jünger setzte in einer präzisen Sprache sein  gleichgültiges Reporterauge für das Normale im Entsetzlichen ein.  Erich Maria Remarques Held ist ein Beispiel für die „Kick-Droge Front“. Wie ein Extremkletterer, der die Spannung des Lebensgefährlichen für seinen ständig wiederholten Adrenalin-Kick braucht, ödet den Helden die Heimat an. Ihn zieht es wieder aus dem Urlaub an die Front, um im Schützengraben kurz vor Kriegsende durch Kopfschuss eines Scharfschützen zu sterben. An diesem Tag meldet der Wehrmachtsbericht: „Im Westen nichts Neues“.

Aber nicht jeder ging verletzt aus dem Krieg. Der böhmische Soldat Schwejk von Jaroslav Hasek  ist der Typus des  friedensbewegten „Durchwurstlers“, der als „Bursche“ eines österreichischen Leutnants nur ein Ziel hat, als schlauer Überlebenskünstler den Krieg, der als Tscheche nicht der seine ist,  durchzustehen, um danach wieder zu den Kneipen seines geliebten Prags zu kommen. Er ist der Gegentyp  der Kriegshelden, der Antiheld, der seinem armen Leutnant die Uniformknöpfe putzt und in die Schaftstiefel verhilft. Er gibt keine Lösung vor, wie der Krieg zu beenden sei, hält aber die Fahne der Menschlichkeit hoch. 

Der Gefreite Hitler, der Fliegeroberst Göring, der Hauptmann  Röhm,  der Oberleutnant  Rommel sind stereotype  Nazis, die die Front geprägt hat: aus der ständigen Nähe des Todes die Abwertung des Lebens, die Bedeutungslosigkeit des Massensterbens, die Rigorosität des  Alles oder Nichts, die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden anderer, mit einem Wort: das Inhumane. Das Unmenschliche war nicht nur auf die Nazis beschränkt. In der Nachkriegszeit gibt es Beispiele für eine allgemeine Brutalisierung der Politik und der Ethik.

Als im Gefolge des „Röhmputsches“, der eine Erfindung von Hitler war, „so nebenbei“  noch offene Rechnungen beglichen und viele völlig Unbeteiligte ermordet wurden, ging die deutsche Gesellschaft mit einem Achselzucken darüber hinweg. Selbst die Ermordung des Generals von Schleicher durch die SD, der  vier Jahre zuvor Reichskanzler war, berührte niemanden, auch nicht die adligen Offiziere, aus deren Stand er kam. Im Fall Schleicher hätte sich Hitler im Verständnis der alten Eliten als ein gemeiner Verbrecher, der die  Reichsidee besudelt, offenbaren müssen. Aber niemand in den alten Cliquen und der Reichswehr regte sich auf.  Tiefer kann die Moral einer Gesellschaft nicht mehr sinken.  

Unerklärbares bleibt

Einige Gründe sind aufgeführt worden, die den Wechsel von braven Bürgern zu Massenmördern  zu erklären versuchen: die nationale Hybris, der Kadavergehorsam, das Ende der Zivilisation, das Kraus eurozentrisch als das Ende der Menschheit benannte. Aber etwas Unbefriedigendes bleibt: Die massenhafte Abkehr von der Vernunft, die Freiwilligkeit, sich einem Moloch auszuliefern, der mit ziemlicher Sicherheit die eigene Existenz verschlang. Und unerklärt bleibt auch, warum ein zu Beginn schon verspielte  Krieg so lange dauerte, bis die Revolution ihn endlich beendete. Wie konnte es sein, dass Urinstinkte wie Todesangst das menschliche Verhalten nicht mehr steuerten, bis es zu spät war? Wie oft passierte es im Kampf, dass ein Soldat im Augenblick der Gewissheit, eine tödliche Kugel empfangen zu haben, alle bisherige Konventionen aufgeben musste und  vor einem unerträglichen Schmerz und der Todesangst zu wimmern und zu schreien anfing? Und seine Kameraden neben ihm – scheinbar unberührt -  ihr eingeübtes Kriegshandwerk weiter ausübten, das ihnen lehrte im Bajonettkampf nicht in die Rippen des Feindes zu stoßen – dort könnte sich das Bajonett verklemmen – sondern in den Unterleib zu zielen?

Das Ich hatte seine Autonomie aufgegeben. Todesangst und Vernunft, die dem Ich die Natur zum Überleben mitgegeben hat, waren abgelegt worden. Bis zu dem Augenblick der Wahrheit im Angesicht des Todes herrschte die gesellschaftliche Konvention vor, die in Kriegszeiten gegenteilige Regeln wie die des Friedens verlangte, wie „Du sollst nicht töten!“  Warum lernten die Überlebenden nichts von den Sterbenden? Bis es zur Revolution kam, um dem Töten ein Ende zu bereiten, mussten vier Jahre des Entsetzens  vergehen, bis es  nicht mehr weiter ging.

Der Fall Franz Marc

Man könnte behaupten,  dass in der Moderne des Wilhelminismus das „Ich“ noch nicht so ausgereift sei wie heute im Individualismus der  Postmoderne.  Die  repressiven Ansprüche der Gesellschaft an das Individuum konnten sich vor hundert Jahren eher durchsetzen. Aber wie konnte es dann sein, dass Franz Marc,  der sich in seinem Malstil mit einigen anderen  Gleichgesinnten gegen die „Sehkonventionen“  der Gesellschaft stellte, am Anfang seiner Kunst also ein Außenseiter war, sich freiwillig zur Front meldete, um 1916 zu fallen, nachdem er den Tod seines Freundes Macke beklagen musste? Es gibt ein Foto von ihm und seiner Frau, das in seiner ergreifenden Intimität und Zärtlichkeit tiefen Frieden ausstrahlt. Wie konnte er es ihr antun, ins Verderben zu laufen?  Ein Künstler der „Blauen Reiter“ war in die Schweiz „desertiert“. Es war möglich, sich dem Wahnsinn zu entziehen.

Hatte er kein Verantwortungsgefühl gegenüber dem guten Teil der Zivilisation, sich für viele zukünftige Bilder mit Weltgeltung aufzusparen? Fragen über Fragen, auf die es nie eine Antwort geben wird. Im Bayerischen Kriegsmuseum sind seine bescheidenen Utensilien von der Front ausgestellt, die wahrscheinlich aus dem Fundus seiner Frau stammen: ein Tonpfeifchen, Holzdöschen, ein Besteck, ein paar Malstifte, mit denen er die Postkarten bemalte, die heute im Kunsthandel hohe Preise erzielen.

An der Schwelle zu einem neuen Weltkrieg?

Im Mai 2014 stehen wir an der Schwelle zu einem neuen Weltkrieg.  Lernt die Welt aus ihrer Geschichte nichts? Überdeckt unsere Friedenszivilisation nur als dünner Firnis die Barbarei? In Deutschlands kollektives Gedächtnis hat sich die Friedenssehnsucht nach  zwei verlorenen Weltkriegen tief eingegraben. Ein kostbares Gut, um das uns andere Nationen beneiden sollten. Umso verderblicher war es, dass  führende Repräsentanten des Staates die Antikriegsstimmung vor der Ukraine-Krise umstülpen wollten.  Bundespräsident und Außenminister sprachen auf der Münchener Wehrkundetagung noch   allgemein von „der Übernahme von mehr internationaler Verantwortung“, die Verteidigungsministerin  war deutlich für kleine begrenzte militärische Einsätze in Afrika zu haben. Die Perspektive einer großen Auseinandersetzung hat alles geändert. Für „Militärspielchen mit kleinem Einsatz“  ist kein Raum mehr gegeben.

Gauck sollte aus seiner Studentenzeit als angehender Theologe sich weniger an Fichtes „Rede an die Deutsche Nation“ als an Kants „Schrift über den ewigen Frieden“ erinnern. Für Kant war der innere mit dem äußeren Frieden eng verknüpft. Der innere kann ohne den äußeren nicht existieren. Der Friede ist für Kant ein ethisches Postulat, für das es keine Alternative gibt. Die Frau Verteidigungsministerin sollte sich an ihre Kollegin aus Ecuador halten. María Fernanda ist neben ihrem Job als Verteidigungsministerin eine Frau, die Gedichte schreibt. Auf dem Fest der Bücher in Havanna Mitte Februar 2014 hat sie ihren neusten Gedichtband mit dem Titel: „Gequälte Geographien“ vorgelegt  (19). „Gequälte Geographien“ bezieht sie auf  Arizona, den Grenzstaat der USA zu Lateinamerika. Es könnte sich aber auch um die „gequälte Geographie Osteuropas“ handeln.

Gedicht der ecuadorianischen Verteidigungsministerin María Fernanda Espinosa

Der Goldfisch von Arizona.

In dem Dunklen Wasser, Wüste von Arizona/lebt der Goldfisch./Er hat ein Gedächtnis, das drei Sekunden dauert./Er lebt allein in der Gegenwart. Nichts Unaufhörliches./Er erfindet wieder alles, in jedem Augenblick,/aber er erreicht kein Ziel,/weil sein Weg immer ein anderer ist.

Der Goldfisch vergisst seinen Namen,/vergisst die Liebe,/vergisst seine Vorsätze,/seine Kinder, seine Eltern./Es ist wie die Geschichte, geschrieben durch die Mächtigen:/Sie ist gemacht mit einem Gedächtnis von knapp drei Sekunden,/so dass sich niemand an den Krieg oder die Nacht erinnert.

Die Geschichte, die auf den Goldfisch aufpasst/sie ist wie die unsere, sie dauert kaum drei Sekunden./Unsere Schmerzen wiederholen sich/und erscheinen neu, jedes Mal.

María Fernanda wendet sich gegen das Vergessen in der Geschichte, für das die Mächtigen sind. Folgen wir nicht den Mächtigen und vergessen wir nicht. Ansonsten wiederholen sich unsere Schmerzen. 

Literatur

1. Ursula Hauser, in: Entre la violencia y la esperanza, Escritos de una Internac ionalista, La Habana, 210, S. 126

2. www.das-blaetchen.de

3. Carlos Marx, Federico Engels, Manifiesto  Comunista, La Habana, 2008

4. Manifest: 48. Die Zitate beziehen sich auf die kubanische Ausgabe in Rückübersetzung

5. Manifest: 56

6. Jürgen Habermas, Thesen zur Theorie der Sozialisation, Frankfurt/Main 1968

7. Manifest: 61

8. Die Schlacht bei St. Quentín 1914, Teil II, Oldenburg/Berlin 1925, S. 153

9. Theodor Adorno. The  Authoritarian Personality, New York; London 1950

10. V.I. Lenin: El Imperialismo. Fase superior del capitalismo, hrsg. v. Isabel Monal, et. al., La Habana, 2010

11. Lenin: p. 19

12. Briefe von Engels an Marx vom 7. Oktober 1858 und 11. August 1881

13. Lenin: p. 124

14. Lenin: p.126

15. Lenin: 124

16. www.revolution-heute.de

17. Gerd Elvers: Hegemonie und Zivilgesellschaft von Antonio Gramsci, in: scharf-links, 10 April 2014

18. Sigmund Freud, Introducción al psicoanális de las neurosis de guerra, Obras completas, T. XIV , Ed., Amorrortu, Buenos Aires, 1919

19. juventud rebelde, Diario de la juventud Cubana,  15. Februar 2014

Gerd Elvers


VON: GERD ELVERS


Leserbrief zu Gerd Elvers: "Das Entsetzliche des Krieges und sein Ende durch die Revolution" - 15-05-14 14:40




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