Die bürgerliche Soziologie [Teil III]

10.08.14
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von Reinhold Schramm (Bereitstellung)

2. Zeitgenössische bürgerliche soziologi- sche Theorien

»Ein charakteristischer Zug der zahlreichen bürgerlichen soziologischen Theorien ist heute die Apologetik des Kapitalismus [sog. „Soziale Marktwirtschaft“].

Selbst wenn sie einige negative Seiten des Kapitalismus registrieren, verfolgen sie doch das Ziel, die auf dem Privateigentum beruhenden Verhältnisse zu rechtfertigen und zu beweisen, dass dies „natürliche“ und entwicklungsfähige Verhältnisse sind. Viele bürgerliche Soziologen sind führende Antikommunisten.

Die alten traditionellen Schulen der bürgerlichen Soziologie – die biologistische, die psychologische, die geographische und andere – sind nichtverschwunden; sie haben bedeutende Veränderungen erfahren und sich an die neuen Bedingungen des ideologischen Kampfes angepasst. Neue Schulen und Richtungen – insbesondere solche neopositivistischer Observanz – haben Verbreitung gefunden. Es kamen Lehren in Mode, die die Soziologie auf die psychoanalytische Untersuchung des Gruppenverhaltens und des individuellen Verhaltens reduzierten. Einen bedeutenden Platz nahm die strukturell-funktionale Analyse ein.

Weite Verbreitung fanden in der bürgerlichen Gesellschaft die Theorien der „einheitlichen Industriegesellschaft“, die „Konvergenztheorie“ usw. Gemeinsame Grundlage dieser Theorien sind gewöhnlich die Konzeptionen von einem „technologischen Determinismus“. Unter dieser Bezeichnung werden die bürgerlichen Lehren zusammengefasst, die die Rolle der Produktivkräfte, die Rolle der Technik in der gesellschaftlichen Entwicklung besonders hervorheben, aber dabei gleichzeitig die ökonomischen Verhältnisse, die Produktionsverhältnisse, ignorieren. [Anm.: Das Wesen der Produktionsverhältnisse wird dadurch bestimmt, in wessen Eigentum sich die Produktionsmittel befinden und welche Klassenverhältnisse herrschen.]

Besonders deutlich wird diese Auffassung in dem Buch des amerikanischen Ökonomen und Soziologen Walt Whitman Rostow (geb. 1916) „Die Stadien wirtschaftlichen Wachstums. Ein nicht-kommunistisches Manifest“.

Rostows Versuch, den Geschichtsprozess, seine hauptsächlichen Stufen in Abhängigkeit vom Entwicklungsniveau der Produktivkräfte zu untersuchen, ist symptomatisch. Er zeugt davon, dass die marxistische Konzeption der gesellschaftlichen Entwicklung in der heutigen bürgerlichen Soziologie eine spezifische Widerspiegelung erfährt. [4] Hinter der scheinbar objektiven Berücksichtigung der Ergebnisse der marxistischen Gesellschaftstheorie, insbesondere der ökonomischen Lehre von Marx, verbirgt sich jedoch die Ablehnung des Marxismus als Ganzes, die Negierung seiner dialektischen Methode sowie seiner grundlegenden Einschätzungen und Schlussfolgerungen. So macht Rostow seine Leser von vornherein darauf aufmerksam, dass er die gesellschaftliche Produktion zum Unterschied von Marx nicht als Fundament der Gesellschaftsstruktur betrachtet. Er schreibt: „Obwohl die Wachstumsstadien eine Methode sind, von der Wirtschaft aus ganze Gesellschaften zu betrachten, beinhalten sie keineswegs, dass die Welt der Politik, sozialer Organisationen und der Kultur nur Überbauten darstellen, die auf der Wirtschaft aufbauen oder aus ihr allein entstanden sind.“ [5]

Die dialektische Determiniertheit der sozialen und politischen Verhältnisse durch die ökonomischen Verhältnisse möchte Rostow durch Wechselwirkung, durch einen funktionellen Zusammenhang zwischen ihnen ersetzen. Seine Erörterungen über die Wechselwirkung von materiellen und nichtmateriellen Faktoren und ihre angebliche Gleichwertigkeit münden schließlich in die Behauptung, dass die treibenden Motive der ökonomischen Entwicklung in den „inneren Bedürfnissen“ der Menschen, in den menschlichen Kenntnissen, Wünschen, Leidenschaften usw. zu suchen seien. So endet die Hervorhebung der Rolle der Produktivkräfte [bei Rostow] in einer kaum verhüllten idealistischen Erklärung des Geschichtsprozesses.

Dadurch, dass Rostow die Frage nach den Produktionsverhältnissen, nach den Formen des Eigentums an den Produktionsmitteln, nach den Klassenverhältnissen ausklammert, schafft er sich die Möglichkeit, die qualitativen Grenzen zwischen den ökonomischen Gesellschaftsformationen aufzuheben und den Begriff der ökonomischen Gesellschaftsformation überhaupt zu eliminieren.

Rostow teilt alle bisherigen und gegenwärtigen Gesellschaften in fünf Stufen ein: „traditionelle Gesellschaft“, „Stadium der Schaffung von Voraussetzungen für den Aufschwung“, „Stadium des Aufschwungs“, „Stadium des schnellen Reifens“, „Zeitalter des hohen Massenkonsums“. [Anmerkung: Dies könnte man heute mühelos auf die kapitalfaschistische Gesellschaftsideologie der antikommunistischen Konvergenzpartei/en {...} und ihrer westlichen und deutsch-europäischen pseudomarxistischen kleinbürgerlichen Satrapen übertragen. / R. S.]

Die Ignorierung der Produktionsverhältnisse macht es möglich, Kapitalismus und Sozialismus als Spielarten einer „einheitlichen Industriegesellschaft“ darzustellen. [Anm.: Siehe auch hierzu ‘unsere’ pseudomarxistischen Konvergenzideologen und heutigen wohlbestalten ostdeutschen und gesamtdeutschen Pensionär/innen – der deutsch-europäischen, nordamerikanischen und chinesischen Bourgeoisie und Administration heute. Der Klassenverrat und Systemwechsel hat sich auch für sie materiell und finanziell gelohnt. / R. S.] -

Auf der künstlichen und schwankenden Grundlage des „technologischen Determinismus“ beruht auch die in bürgerlichen Kreisen überaus populäre „Konvergenztheorie“, derzufolge die industrielle Entwicklung zur Annäherung und Verschmelzung von Kapitalismus und Sozialismus führt und der Kampf gegensätzlicher Ideologien sich abschwächt und verschwindet. -

Dabei wird die Sache so dargestellt, als ob die gegenwärtige wissenschaftlich-technische Revolution allein, ohne Klassenkampf, einen Überfluss an Gütern für alle schaffe, allmählich alle sozialen Probleme löse und die Klassen und Klassenantagonismen aufhebe. [Anm.: Sinngemäß der postbürgerlichen und transformierten Scheißhausideologie: ‘zuerst werden wenige Reich’, ‘anschließend folgt der große Rest’ – hierfür in „zwölf Generationen“, bis ins Jahr 2300. / R. S.]

Die Anhänger der Theorie von der „einheitlichen Industriegesellschaft“ verweisen auf solche dem Kapitalismus und Sozialismus gleichermaßen eigene Erscheinungen wie die industrielle Produktion, ähnliche Methoden ihrer Organisation, die Rolle der Wissenschaft, Urbanisierung und anderes und lassen das wesentliche, was Sozialismus und Kapitalismus voneinander unterscheidet, außer acht: das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln, das Fehlen von Ausbeutung, die Existenz einer Staatsmacht, die eine Macht des Volkes selbst ist.

Wenn man die Theorie der „einheitlichen Industriegesellschaft“ und die Konvergenztheorie aufmerksam betrachtet, so wird klar, dass ihre Anhänger weniger an der Konvergenz, an einer Annäherung von Sozialismus und Kapitalismus interessiert sind als vielmehr daran, dass der Sozialismus allmählich in den Kapitalismus aufgeht. [Anm.: Dieser Text wurde bereits in der historischen DDR im Jahr 1972 veröffentlicht! - Zuvor in der historischen UdSSR ausgearbeitet und veröffentlicht! / R. S.]

Eine Reihe bürgerlicher Soziologen und Ökonomen vertritt heute die Auffassung, dass die „Industriegesellschaft“ in ihrer kapitalistischen und in ihrer sozialistischen Variante von einer „postindustriellen (nachindustriellen) Gesellschaft“ abgelöst werde. In seinem Vortrag auf dem VII. Internationalen Soziologenkongress in Varna versuchte der amerikanische Soziologe Daniel Bell die Sache so darzustellen, als gäbe es bereits eine „postindustrielle Gesellschaft“. [Anm.: Auch heute noch ein gefundenes Fressen für alle bürgerlichen und/bzw. pseudomarxistischen Konvergenzideologen internationaler und ‘nationaler’ Prägung. / R.S.] Wollte man seinen Beteuerungen Glauben schenken, so hat sich die „postindustrielle Gesellschaft“ bereits in den Nachkriegsjahren in den USA herausgebildet. Diese Gesellschaft wird nach Meinung ihrer Theoretiker in erster Linie dadurch charakterisiert, dass der Mensch und die menschliche Arbeit aus der Produktion verdrängt werden, dass es in ihr eine übermächtige Technik, eine „intellektuelle Technologie“ sowie höchste Einkommen gibt, dass die wissenschaftlich-technische Intelligenz, genauer gesagt ihre obersten Schichten (die Elite), in Gesellschaft und Staat die führende Rolle spielt. [Lit. vor 1972.]

Bei näherem Hinsehen wird klar, dass es sich bei der „postindustriellen Gesellschaft“ ebenfalls nur um eine Spielart des Kapitalismus handelt, und zwar mit staatsmonopolistischen Eigentum und anderen Formen des Privateigentums, mit der Herrschaft übermächtiger kapitalistischer [kapitalfaschistischer] Monopole und anderen Attributen des entwickelten Kapitalismus [= u. a.: Vervollkommnung der imperialistischen und gesamtgesellschaftlichen Überwachung – im Herrschaftsinteresse des nationalen und internationalen Finanz- und Monopolkapitals. / R. S.]

Viele bürgerliche soziologische Theorien entstellen das Wesen des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Sie versuchen, den Prozess der „Entpersönlichung“ des kapitalistischen Eigentums, die Entstehung und Entwicklung des staatsmonopolistischen Eigentums als Verschwinden der Kapitalisten und des Kapitalismus hinzustellen. [Siehe heute: die Gaucksche BDI-BDA-CIA-BND-BfV-GroKo-„Soziale Marktwirtschaft“ und u. a. SPD-DGB-„Sozialpartnerschaft“ etc.] -

In Wirklichkeit aber behält das staatsmonopolistische Eigentum, das vereinigte Eigentum der mächtigsten Schichten der herrschenden Kapitalistenklasse und ihres Staates, seinen Charakter in vollem Maße bei, denn nach wie vor sind seine Quelle die Resultate der Mehrarbeit von Millionen Lohnarbeitern [werktätigen Jugendlichen, Frauen und Männern], die sich das Kapital durch Ausbeutung aneignet.

Die Trennung der Produktivkräfte, der Technik von den Produktionsverhältnissen ist so zu einem beliebten methodologischen Verfahren geworden, um das Bild der gesellschaftlichen Entwicklung im allgemeinen und der kapitalistischen Gesellschaft im besonderen zu entstellen.

Besonders anschaulich kann man das am Beispiel einer Richtung der technokratischen Theorie verfolgen, deren Hauptvertreter Thorstein Bunde Veblen (1857-1929) und James Burnham (geb. 1905) sind. Sie erklären, in den USA sei eine „friedliche Revolution“ vor sich gegangen, die darin zum Ausdruck komme, dass die Kapitaleigentümer nicht mehr über das Kapital verfügten, dass sie ihren Platz an die Manager abgetreten hätten. Wenn diese Erklärungen überhaupt etwas besagen oder bezeugen, so ist es vor allem die parasitäre Natur der herrschenden Klasse der derzeitigen bürgerlichen Gesellschaft, die in ihrer überwiegenden Mehrheit aufgehört hat, im Prozess der Produktion und Distribution gesellschaftlich nützliche Funktionen auszuüben. -

Die Tatsache, dass zwischen Eigentum und unmittelbarer Leitung der Produktion bis zu einem gewissen Grade eine Trennung vor sich gegangen ist, bedeutet keineswegs, dass das kapitalistische Eigentum, die Macht der Kapitalisten und ihrer Vereinigungen (Monopole usw.) und die Herrschaft eines solchen kollektiven Kapitalisten wie des [post-] bürgerlichen [transformierten, staatsmonopolistischen und/bzw. kapitalfaschistischen] Staates verschwunden sind. [Siehe: USA, Japan, China, Schweiz, BRD-Frankreich-Europäische Union etc.]

 

Alle diese Theorien, die zu beweisen versuchen, dass der Kapitalismus* aufgehört hat, Kapitalismus zu sein [*„Soziale Marktwirtschaft“], sind einem einzigen Ziel untergeordnet: Leugnung der Gesetzmäßigkeit der [kommenden] sozialistischen Revolution, der Notwendigkeit der revolutionären Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft in die sozialistische.

Verschiedene bürgerliche Theoretiker vertreten die These, dass jeder Mensch Wohlstand erreichen könne, ohne dass das kapitalistische Wirtschaftssystem im Prozess der sozialistischen Revolution liquidiert wird. Sie möchten glauben machen, dass jeder Mensch im Kapitalismus ohne weiteres die Stufen der sozialen Leiter erklimmen könne, dass es eine unbegrenzte „soziale Mobilität“ gebe. In diesem Zusammenhang sprechen sie von der bürgerlichen Gesellschaft auch als von einer „offenen Gesellschaft“, in der die starren Schranken zwischen den verschiedenen Klassen und sozialen Gruppen gefallen seien. Doch die zunehmende Proletarisierung, die Reservearmee von Arbeitslosen, die unüberwindlichen Rassenbarrieren, Standesdünkel und Korpsgeist, das Wirken nationalistischer und religiöser Vorurteile, die selbst in den am weitesten entwickelten kapitalistischen Staaten noch heute zu finden sind, führen die Konzeption der „offenen Gesellschaft“ deutlich genug ad absurdum.

Neben den offen apologetischen Theorien des derzeitigen Kapitalismus werden in der bürgerlichen Soziologie auch solche Theorien ausgearbeitet, deren apologetische Absicht nicht so deutlich in Erscheinung tritt. Aber auch diese Theorien erfüllen bestimmte ideologische Funktionen: Ihr Sinn und ihre Bestimmung bestehen darin, der marxistischen Theorie eine eigene Auffassung von den Triebkräften und vom Funktionsmechanismus der Gesellschaft entgegenzusetzen. [Siehe: ‘zuerst werden wenige Reich’, dann folgt der große Rest, ‘voraussichtlich’ noch „zwölf Generationen“ etc.]

 

Neben der direkten Ablehnung des historischen Determinismus, der Ablehnung des gesetzmäßigen Charakters der historischen Entwicklung [dies beinhaltet zugleich auch die historische Möglichkeit einer Entwicklung, einer – vom kapitalfaschistischen Welt-Imperialismus getragenen – erfolgreichen ideologischen, ökonomischen und gesellschaftspolitischen Konterrevolution. Siehe hierzu auch die historische Entwicklung der gesellschaftspolitischen Konterrevolution und Implosion, u. a.: in der historischen UdSSR, VR China, VR Polen, DDR usw.], wird in der bürgerlichen Soziologie auch die Idee vertreten, dass auf einzelnen engen Abschnitten des sozialen Lebens gesellschaftliche Entwicklungsgesetze wirksam sind.

So erklärt der amerikanische Soziologe Alex Inkeles (geb. 1920), dass die Perspektive der wissenschaftlichen Soziologie nicht nur auf der Wiederholbarkeit sozialer Erscheinungen basiere, sondern auf dem Glauben, dass sie regelmäßig oder gesetzmäßig sind. [6] In diesem Sinne äußert auch der amerikanische Ökonom Henry Morgenthau (geb. 1891), „um die Gesellschaft zu verbessern, muss man vor allem jene Gesetze verstehen, denen sie gehorcht“, da das Wirken dieser Gesetze unabhängig von unseren Neigungen sei. [7]

 

Diese Gesetze betreffen jedoch nur einzelne Gruppen sozialer Erscheinungen und keine tieferen historischen Prozesse. So weist zum Beispiel Inkeles vorsorglich auf die engen Grenzen des Wirkens dieser Gesetze hin: „Die Soziologen haben die Suche nach einer einzigen allumfassenden Theorie der Veränderungen aufgegeben. Statt dessen versuchen sie, die Veränderung konkreter, man kann sagen, realistischer zu behandeln ...“ [8]

Gleichzeitig werden in der bürgerlichen Soziologie Konzeptionen entwickelt, die darauf Anspruch erheben, einige allgemeinere gesetzmäßige Zusammenhänge zum Ausdruck zu bringen. So werden alle möglichen „Gesetze“ der Transformation des Kapitalismus erfunden, „Gesetze“ der Konvergenz antagonistischer sozialökonomischer Systeme, Gesetze des sozialen Handelns usw.

 ▪ Der bürgerliche englische Philosoph Karl Popper (geb 1902) entwickelte sogar eine spezielle Konzeption des „soziologischen Determinismus“ als Gegensatz zum marxistischen historischen Determinismus. Es gibt keine Vorherbestimmung der Zukunft, schrieb Popper, und daher ist der Glaube an ein historisches Schicksal ein reiner Aberglaube, wie es auch keinerlei Voraussage des Verlaufs der menschlichen Geschichte geben kann. Dafür aber ist nach Poppers Meinung im Bereich der Geschichte Berechnung und Messung von Kennziffern konkreter sozialer Prozesse möglich, und in diesem Sinne existiert ein soziologischer Determinismus und eine ihm entsprechende „technologische Voraussicht“. Sie kann die Grundlage des „social engineering“, Grundlage der gleichsam ingenieurtechnischen Vervollkommnung einzelner Seiten des sozialen Lebens sein. ▪

Die Anerkennung des Determinismus beschränkt sich also in der derzeitigen bürgerlichen Soziologie auf ein Gebiet von Erscheinungen, die die Grundinteressen der Bourgeoisie nicht unmittelbar bedrohen, nämlich auf den Fortschritt der Technik und auf die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse im Rahmen der bürgerlichen Ordnung. Gleichzeitig aber schließt die Anerkennung dieser Art von Determinismus die objektive Bedingtheit des revolutionären Klassenkampfes aus, der zur Ablösung einer ökonomischen Gesellschaftsformation durch die andere führt.

In Übereinstimmung damit ist in der zeitgenössischen bürgerlichen Soziologie, wie wir bereits bemerkt haben, eine Tendenz zu beobachten, das Entwicklungsprinzip zu verdrängen und durch das Funktionsprinzip zu ersetzen. Das Wesentlichste ist danach nicht die Untersuchung des gesellschaftlichen Organismus in seiner Entstehung, Entwicklung und Auflösung, sondern die Analyse der funktionellen Zusammenhänge einzelner Teile des sozialen Ganzen, des Gleichgewichts zwischen den verschiedenen Sphären des gesellschaftlichen Lebens.

In der gegenwärtigen bürgerlichen Soziologie nimmt die Theorie des „sozialen Handelns“ (social action), die von dem amerikanischen Soziologen Talcott Parsons (geb 1902) und einigen ihm gleichgesinnten Soziologen entwickelt worden ist, einen bedeutenden Platz ein. Sie erhebt Anspruch darauf, eine abgeschlossene allgemeine Theorie des „sozialen Verhaltens“, ein umfassendes theoretisches System der Soziologie zu sein.

Der Terminus „Handeln“ in Parsons’ Theorie bezeichnet das soziale Verhalten des Menschen, seine Aktivität im gesellschaftlichen Milieu. „In der Wechselwirkung (interaction) finden wir jenen grundlegenden Prozess, der in seinen verschiedenen konkreten Formen der Vervollkommnung und Anpassung den Keim dafür liefert, was wir auf dem spezifisch menschlichen Niveau Persönlichkeit und soziales System nennen.“ [9]

Die Theorie des „sozialen Handelns“bringt die Haupttendenz der bürgerlichen Soziologie zum Ausdruck, nämlich die Methoden und Verfahren zu ermitteln, mit deren Hilfe das Individuum die Wirklichkeit „akzeptiert“ und sich ihr damit unterordnet, mit anderen Worten, mit deren Hilfe es sich an kapitalistische Verhältnisse besser anpasst. Das gesamte System der gesellschaftlichen Verhältnisse, die in der Gesellschaft existieren, reduziert Parsons’ Konzeption auf vier Komponenten: den Handelnden oder Akteur, Zielsetzung, Mittel und Situation. In vereinfachter Gestalt beschränken sich diese Komponenten auf Akteur und Situation.

Diese Theorie ersetzt im Grunde die realen Verhältnisse der Menschen in der Gesellschaft durch ihre Vorstellungen davon. Das Funktionieren des sozialen Systems hänge von der Übereinstimmung der Erwartungen des einen Menschen mit den Erwartungen des bzw. der anderen Menschen ab. So werden die gesellschaftlichen Verhältnisse auf die subjektive psychologische und moralische Einstellung der Menschen zueinander reduziert.

Das Individuum wird dabei größtenteils vom objektiven Zusammenhang mit seiner Klasse, seinem Kollektiv usw. isoliert angesehen. Der in der Gesellschaft vorhandene Reichtum an Verhältnissen zwischen den Menschen wird durch eine Summe von Verhältnissen zwischen den einzelnen Individuen ersetzt. Bekanntlich treten jedoch die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse häufig in „unpersönlicher“ Form in Erscheinung, wie zum Beispiel die Verhältnisse zwischen den Warenproduzenten, die über die Bewegung der Waren zum Ausdruck kommen.

Die Theorie des „sozialen Handelns“ ignoriert also im Grunde die außerordentlich wichtige Tatsache, dass das Handeln der Menschen durch den objektiven Platz des Menschen in der Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse, vor allem im System der Produktionsverhältnisse, bestimmt wird.

Die Lösung der in der Gesellschaft entstehenden großen sozialen Probleme sucht diese Theorie nicht in der Veränderung der objektiven Wirklichkeit, der ökonomischen Verhältnisse, des sozialpolitischen Lebens, sondern in der Umwandlung der subjektiven Seite, der Anschauungen, Vorstellungen, Empfindungen der Menschen, das heißt, es geht ihr um die „Umwandlung des Verhaltens der Menschen durch Umwandlung ihrer Vorstellungen“ [10]. Der Zustand des „Gleichgewichts“, der „Stabilität“, der „Ordnung“ wird als das Hauptsächliche im [bestehenden spätbürgerlichen] „sozialen System“ angesehen. Jedes beliebige System „des sozialen Handelns“, schreibt Parsons, „beruht auf dem funktionalen Bedürfnis nach Ordnung“ [11]. Einer solchen Unterstützung der „Ordnung“ in den gesellschaftlichen Verhältnissen soll die „soziale Kontrolle“ dienen, die dazu bestimmt ist, die Gesellschaft [die kapitalfaschistische Gesellschaftsformation] vor unerwünschten Abweichungen und Erschütterungen zu bewahren.

Mit der Schaffung und Entwicklung der Theorie des „sozialen Handelns“ fand die „strukturell-funktionale Analyse“ in der bürgerlichen Soziologie Verbreitung. Sie ist heute nahezu die Hauptforschungsmethode geworden.

An und für sich sind Struktur und Funktion untrennbare Seiten eines jeden sozialen Systems, eines jeden gesellschaftlichen Organismus. Die dialektische Methode, sagte Lenin, auf Marx verweisend, verpflichtet dazu, „dass die Gesellschaft als ein lebendiger Organismus in seinem Funktionieren und seiner Entwicklung betrachtet wird“ [13].

„Jedes System der Produktionsverhältnisse bildet nach der Theorie von Marx“, so betonte Lenin, „einen besonderen sozialen Organismus, der in seiner Entstehung, seinem Funktionieren und seinem Übergang zu einer höheren Form, seiner Verwandlung in einen anderen sozialen Organismus, besonderen Gesetzen folgt.“ [13]

Der historische Materialismus hat als Grundkategorien der Struktur der Gesellschaft die Begriffe Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, materielle und ideelle gesellschaftliche Verhältnisse, Basis und Überbau und andere herausgearbeitet.

Vom Standpunkt Parsons, Robert King Mertons (geb. 1910) und anderer bürgerlicher Soziologen sind die grundlegenden Elemente des sozialen Systems Werte, Normen, Rollen, Institutionen. Das funktionieren dieser Strukturelemente bildet angeblich auch den Inhalt der Entwicklung der Gesellschaft. Diese Entwicklung reduziert sich auf ein Wechselverhältnis zwischen dem individuellen Bewusstsein und dem gesellschaftlichen Bewusstsein, dies aufgefasst als System der Kultur, das in der Gesamtheit der Normen, Rollen und Institutionen verkörpert ist. Der Mechanismus der Anpassung des Individuums an die vorhandenen, vorgegebenen Standards und Normen, der Mechanismus seiner „Sozialisierung“, erweist sich also als der Hauptgegenstand der bürgerlichen Soziologie.

Im ersten Falle haben wir es mit einem materialistischen strukturell-funktionalen Herangehen an das gesellschaftliche Leben zu tun, im zweiten Falle mit einem idealistischen. Wie Parsons selbst erklärte, geht es um den „Streit zwischen Erklärungen vom Standpunkt der Ökonomik oder des Interesses und den Erklärungen in der Sprache der Ideen und der Werte“ [14].

Der Marxismus-Leninismus betrachtet das strukturell-funktionale Herangehen als eines der wesentlichen Momente einer wissenschaftlichen Methodologie, verabsolutiert es aber keineswegs und verwandelt es nicht in die einzige Methode der Analyse gesellschaftlicher Erscheinungen. Außer den Prozessen der Funktion hat er auch die Prozesse der Entstehung und Entwicklung, der Verwandlung eines sozialen Systems in ein anderes [Gesellschaftssystem] im Auge. In der bürgerlichen Soziologie verwandelt sich die strukturell-funktionale Methode im Grunde in das Hauptinstrument der Analyse des Gesellschaftsganzen und der Wechselbeziehung zwischen seinenTeilen. Der Klassencharakter einer solchen Verabsolutierung der genannten Methode besteht darin, die „Geschlossenheit“, die Stabilität, das Gleichgewicht des Systems der kapitalistischen [modernen imperialistischen und kapitalfaschistischen] gesellschaftlichen Verhältnisse zu begründen. Das Hauptprinzip, von dem dabei ausgegangen wird, reduziert sich auf die Formel: Alles, was in der [kapitalistischen] Gesellschaft besteht, muss sein. Daher sind Parsons und seine Anhänger bestrebt, nur jene Mechanismen der sozialen Regulierung aufzudecken, die die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Systems im gegebenen „Normalzustand“ gewährleisten können. Die Tendenz zur Verteidigung der kapitalistischen sozialen Verhältnisse tritt hier in einer sorgfältig verschleierten Form in Erscheinung.«

[Teil III von IV.]

Merke: Eine in Folge der ideologischen und gesellschaftspolitischen Implosion und Konterrevolution heute notwendige Modifikation, vgl.

Anmerkungen

4 Das bezieht sich auf Aron und andere Theoretiker der „Industriegesellschaft“ und der „postindustriellen Gesellschaft“, die die – abstrakt aufgefasste – wissenschaftlich-technische Revolution in eine dämonische Kraft der gegenwärtigen Geschichte verwandeln wollen.

5 W. W. Rostow: The stages of economie growth. A non – Communist manifesto, Cambridge 1960. Dt.: Stadien wirtschaftlichen Wachstums. Eine Alternative zur marxistischen Entwicklungstheorie, Göttingen 1960, S. 16.

6 Siehe A. Inkeles: What is Sociologie? Englewood Cliffs. New Jersey 1964, S. 95.

7 H. J. Morgenthau: Macht und Frieden, Gütersloh 1963, S. 49.

8 A. Inkeles: What is Sociology, S. 88.

9 Towards a General Theory of Action. Hrsg: T. Parsons/E. A. Shils, Cambridge (Massachusetts) 1951, S. 17.

10 K. Lewin: Resolving Social Conflicts, New York 1948, S. 139.

11 Towards a General Theory of Action, S. 173.

12 W. I. Lenin: Was sind die „Volksfreunde“ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten? In: Werke, Bd. 1, S. 184.

13 W. I. Lenin: Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung und die Kritik an ihr in dem Buch des Herrn Struve. In: Werke, Bd. 1, S. 424/425.

14 Theories of Society. Hrsg.: T. Parsons u. a., New York 1965, S. 72.

Quelle: Grundlagen der marxistisch-leninistischen Philosophie. Dietz Verlag Berlin 1972. Vgl. XXIII. Kapitel: Die gegenwärtige bürgerliche Soziologie. 2. Zeitgenössische bürgerliche soziologische Theorien.


VON: REINHOLD SCHRAMM (BEREITSTELLUNG)






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