Anmerkungen zur ZeroCovid-Initiative
von Detlef Georgia Schulze
Anfang des Monats hatten Verena Kreilinger, Winfried Wolf und Christian Zeller ein Papier mit dem Titel „Die Pandemie solidarisch europaweit eindämmen“ und dem Untertitel „Regierungen schützen die Kapitalinteressen – nicht die Gesundheit der Menschen“ veröffentlicht. In meinem Blog hatte ich aus diesem Anlaß bekundet: „Ich stimme insbesondere dieser [der in meinem Blog-Artikel angeführten[1]] These – soweit zitiert – und weitgehend (aber nicht vollständig) dem Rest zu.“
Inzwischen gibt es quasi eine popularisierte Fassung des Textes als Unterschriftensammlung; von der editio vulgata kann ich leider allenfalls folgende Sätze unterschreiben:
• „[Infektionsschutz-]Maßnahmen können nicht erfolgreich sein, wenn sie nur auf die Freizeit konzentriert sind, aber die Arbeitszeit ausnehmen. Wir müssen die gesellschaftlich nicht dringend erforderlichen Bereiche der Wirtschaft für eine kurze Zeit stilllegen. Fabriken, Büros, Betriebe, Baustellen, Schulen müssen geschlossen und die Arbeitspflicht ausgesetzt werden.“
• „Sammelunterkünfte müssen aufgelöst, geflüchtete Menschen dezentral untergebracht werden.“
• „Das Personal muss in diesem Bereich [im Gesundheits- und Pflegebereich] aufgestockt werden. Die Löhne sind deutlich anzuheben. […]. Wir verlangen die Rücknahme bisheriger Privatisierungen und Schließungen.“
Aber auch bei diesen Sätzen ist – wie bei vielen linken Aufrufen und Programmen – der moralische Imperativen „müssen“ ein Problem: Außer im letzten zitierten Satz wird nicht gesagt, was die Unterzeichnenden wollen (und warum sie es wollen und was eventuell auch andere ‚auf den Geschmack kommen‘ ließe), sondern es werden vermeintliche politische oder moralische Objektivitäten postuliert.[2] – Aber warum passiert es nicht, wenn es doch „muß“?!
Darum herum – um die drei zitierten, von mir tendenziell geteilten Spiegelstriche – steht leider die übliche linksreformistische, unanalytische und strategielose Wunschzettel-Lyrik – die weder revolutionäre politische Praxis noch realistische Reformpolitik, sondern eine Zweierkiste von Vagheit und Utopismus ist. Aber kommen wir, bevor ich mich darüber allzu sehr aufrege, zu den Punkten, die mir schon an der ursprünglichen – analytischeren – Fassung bedenklich erschienen.
1. Senkung der Infektionszahlen als Selbstzweck (oder zum Zwecke des Senkens des Covid-19-Todesfallzahlen) – oder aber als Mittel zur Erleichterung der Nachverfolgung?
a) Schon in der elaborierten Fassung hieß es: „Entscheidend für die Pandemie-Eindämmung sind die Identifizierung der Infektionen und das Verfolgen der Infektionsketten.“ (S. 4 [These 5]) „[S]trikte Lockdown-Maßnahmen, die auch den Bereich der Arbeitsplätze erfassen,“ sollten erfolgen, „um ein solches Identifizieren und Nachverfolgen erst zu ermöglichen“ (S. 6 [These 12]).
Ohne die Nützlichkeit der Verfolgung von Infektionsketten zu bestreiten, scheint mir das doch den Akzent falsch herum zu setzen – nämlich den Selbstwert eines Senkens der Infektionszahlen (und folglich der Erkrankungen mit Symptomen und der Todesfälle) zu vernachlässigen. Denn, wenn es eine Infektion zum Nachverfolgen gibt, dann ist das Kind ja mindestens schon einmal in den Brunnen gefallen – die Identifizierung von Infektionsketten und Kontaktpersonen kann dann bestenfalls noch dazu dienen, weitere Infektionen zu verhindern.
Da Personen unter Umständen infektiös sind, bevor sie Symptome bemerken oder jedenfalls ernstnehmen oder gar ein Infektionsverdacht labor-bestätigt wird, gehen mit Infektionen immer schon weitere Infektionen einher – egal, wie gut oder schlecht die Kontaktverfolgung funktioniert. Auch von der Infektionsquelle, bei der sich unsere Beispielperson angesteckt hat, können (jedenfalls zunächst: unbemerkt) parallel weitere Infektionsketten ausgehen – je nachdem, wie früh etwaige Symptome bemerkt und ernstgenommen wurden bzw. wie lange die Identifizierung der Infektionsquelle dauert.
b) Die Kontaktnachverfolgung ist also eine technokratische Perspektive. Die Identifizierung der Infizierten und zeitweilige Quarantänisierung der Infizierten und deren Kontaktpersonen ist (trotz Personalmangels in den Gesundheitsämtern) auch die ‚Lösung‘, die dem Staat am liebsten wäre – würde sie doch den kapitalistisch-ökonomischen Kollateralschaden am geringsten halten.
Daher kann es m.E. nicht Aufgabe von Linken sein, diese um-zu-Logik (Reduzierung der Infektionszahlen, um die Kontaktverfolgung zu erleichtern) auch noch zu unterstreichen. Vielmehr sollten Linke m.E. den Selbstwert der Reduzierung der Infektionszahlen betonen.
Dies scheint mir auch deshalb richtig zu sein, weil
• die Fokussierung auf die bereits Infizierten und deren Kontaktpersonen – solange die Kontaktverfolgung funktioniert – eine viel größere Gefahr der Stigmatisierung der Betroffenen bedeutet (dies war ja im Sommer – als die Kontaktverfolgung noch funktionierte – bei einigen Häuserblocks in Göttingen und Berlin zu beobachten),
• während allgemeine Maßnahmen zur Kontaktreduzierung und damit zur Reduzierung der Infektionsgelegenheiten und folglich auch der tatsächlichen Infektionen (und wiederum folglich der Infektionen mit schweren Symptomen und/oder tödlichem Ende) zumindest formal alle gleich trifft.
Die materielle Ungleichheit zwischen Leute, die in beengten Wohnverhältnissen leben, und Leuten, die in Villen leben, ist in beiden Fällen gegeben. Bei der Quarantäne-Strategie kommt zur faktischen Ungleichheit noch die juristische Ungleichheit hinzu, daß sie nur Infizierte und deren Kontaktpersonen (im Polizei-Jargon: „Gefährder“) trifft.
(Ich sage nicht, daß Quarantänisierung falsch sei; vielmehr ist sie unvermeidlich [und auch zumutbar: Wir reden über Tage oder wenige Wochen!]. Aber ich sage: Statt die Infektionszahlen zu reduzieren, um die zu quarantänisierenden Leute leichter identifizieren zu können, sollten die Infektionszahlen auch deshalb nach unten gedrückt werden, um die Zahl der zu quarantänisierenden Personen möglichst gering zu halten.)
2. Vorbild Asien, insbesondere China?
a) Auf S. 21 (in Abschnitt 8 des Papiers von Kreilinger, Wolf und Zeller) heißt es:
„Für elf Länder[3] wurde in Tabelle 2 dokumentiert, dass es die Möglichkeit einer relativ erfolgreichen Eindämmungspolitik gibt. Damit wird das Argument ‚Das, was in China gemacht wurde, ist autoritär und mit einer offenen Gesellschaft nicht vereinbar‘, durch die Vielzahl von anderen – höchst unterschiedlichen – Ländern, die vergleichbar erfolgreich waren, relativiert. Wobei man sicher auch von der Art, wie in China die Epidemie erfolgreich eingedämmt wurde, Erkenntnisse gewinnen kann.“
Die AutorInnen schreiben zwar auch: „Selbstverständlich gibt es spezifische Faktoren (wie Insellage, Einbindung in die Globalisierung, Durchschnittsalter der Bevölkerung), die den Erfolg der Pandemieeindämmung positiv oder negativ beeinflussen.“ (S. 16 Mitte)
Aber auf S. 16 unten läuft es dann doch auf eine eindeutige politische Schuldzuweisung (und damit umgekehrt: politische Präferenz hinaus):
„Es gab die Möglichkeit, zur Eindämmung der Corona-Epidemie. Das wurde auch in Europa deutlich, wenn auch in geringerem Maß als in einigen asiatischen Ländern. Insgesamt jedoch erweisen sich ausgerechnet die europäischen Staaten als ein Schwerpunkt der Epidemie – das heißt, diese Länder und die EU als Institution erwiesen sich in besonderen Maß als unfähig, gegenüber der Pandemie eine angemessene Politik zu entwickeln.“
Dies vernachlässigt aber zum einen, daß von den elf (in dem Zitat auf S. 21 mutmaßlich gemeinten) Ländern (s. noch einmal das Ende von FN 3)
• fünf (Taiwan, Neuseeland, Kuba, Japan, Australien) in der Tat Inseln sind – wenn auch Australien eine sehr große; hinzugezählt werden kann noch Südkorea mit einer Seegrenzen im Süden, Westen und Osten und einer geschlossenen Nordgrenze;
• vier in der Tat eher wenig in die Globalisierung eingebunden sind (Vietnam, Ruanda, Kuba, und Uruguay – und viele ländliche Gebiete in China wahrscheinlich auch noch)
und
• vermutlich eine ganze Reihe der genannten Länder eine eher junge Bevölkerung hat.
Und es vernachlässigt, daß die meisten EU-Länder
• Landgrenzen haben,
• eher stark in die Globalisierung eingebunden sind
und
• eine eher alte Bevölkerung haben.[4]
Insbesondere wenn – wie es in Tabelle 2 geschieht – Todesfall-Zahlen und nicht Infektionszahlen miteinander verglichen, ist die Altersverteilung der Bevölkerung aber bekanntlich von erheblicher Bedeutung. Denn die Überlebenschance von älteren Infizierten ist deutlich schlechter als die von jüngeren Infizierten.
Außerdem sollten:
• noch die Bevölkerungsdichte (sie dürfte zwar in den EU-Ländern tendenziell geringer sein als in den asiatischen Ländern, aber höher als in Australien und Neuseeland; sie ist in den mittel- und südeuropäischen Ländern höher als in den nordeuropäischen Ländern)
und
• der Umstand, daß die höhere zweite europäische Welle in den europäischen Herbst und Winter fiel und fällt, während in Australien und Neuseeland im Moment Sommer ist,
berücksichtigt werden.
b) Problemlos vergleichbar sind m.E. nur die verschiedenen nordeuropäischen Länder einerseits und sowie die mittel- und südeuropäischen Länder anderseits. Diese Vergleiche
• führen angesichts der hohen schwedischen Infektions- und Todesfallzahlen zu einem eindeutig negativen Urteil über den schwedischen Weg
und
• verweisen auf die unterschiedlichen ökonomischen Möglichkeiten insbesondere der BRD einerseits und der südeuropäischen Länder andererseits.
Die BRD hatte und hat – trotz aller Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen – eine hohe Zahl von Intensivbetten auf ihrer Seite, sodaß selbst die jetzigen hohen Infektionszahlen noch nicht zu einer solchen Überlastung des Gesundheitssystems wie im Frühjahr in Italien, Spanien und Frankreich führt(e).
Die Bundesregierung und die Landesregierungen hatten sich – nach anfänglichem Zögern – im Frühjahr – in Relation zur Höhe der Infektionszahlen und im Vergleich mit Italien, Spanien und Frankreich eher früh zu einem Lockdown entschlossen – und aufgrund der starken ökonomischen Position der BRD entschließen können.
c) Statt die „europäischen Staaten [...] und die EU als Institution“ über einen Leisten zu schlagen, ermöglichen die von Kreilinger, Wolf und Zeller selbst angeführten Zahlen vielmehr, einen deutlichen Unterschied in der Handhabung der zweiten Welle durch die EU-Staaten + Vereinigtes Königreich zu erkennen:
Covid-19-Todesfälle je 100.000 EinwohnerInnen
| bis zum 31.10. | bis zum 31.12. | Anstieg in % |
Polen | 14,7 | 74,4 | 406,1 |
Germany | 12,7 | 40,6 | 219,7 |
Rumänien | 36,5 | 82,5 | 126,0 |
Italien | 64,0 | 123,0 | 92,2 |
Frankreich | 54,9 | 96,7 | 76,1 |
Großbrit. | 70,1 | 110,9 | 58,2 |
Niederlande | 42,8 | 66,6 | 55,6 |
Spanien | 79,2 | 107,9 | 36,2 |
Quelle: Spalte 1 - 3: Kreilinger, Wolf und Zeller, Tabelle 3 auf S. 15; Spalte 4: eigene Berechnung.
Auch unter Berücksichtigung von kapitalistischen ‚Sachzwängen‘, die sich nicht durch linksreformistischen Voluntarismus aufheben lassen, wird hier ein deutliches Versagen[5] der deutschen Landesregierungen deutlich, die sich bis Mitte Dezember gegen Schul- und Geschäftsschließungen sträubten – und meinten mit Herumgefummel im Freizeit- und Gastronomiebereich auskommen zu können.
3. Wollen die Lohnabhängigen überhaupt mehr Infektionsschutz zulasten der Kapitalakkumulation?
Ein weitere Problem wird gegen Ende des Papiers von Kreilinger, Wolf und Zeller zwar angesprochen:
„Nicht wenige GewerkschaftsexponentInnen tendieren selbst dazu, die Pandemie zu verharmlosen und die Ansteckungsgefahr an den Arbeitsplätzen herunterzuspielen. Sie fürchten, strengere einschränkende Maßnahmen würden Arbeitsplätze gefährden und die Krise verschärfen. Auch viele Lohnabhängige haben zwar Angst vor einer Ansteckung, wollen aber dennoch möglichst einen härteren Lockdown vermeiden. Die Furcht vor Arbeitsplatz- und Lohnverlust wiegt schwer.“ (S. 28 f.; meine Hv.)
Auch dieses Problem wird dann allerdings mit dem üblichen Voluntarismus und „Bürokratie“-bashing sofort beiseite gewischt:
„Diese Unterschätzung der Pandemie ist auch Ausdruck der eigenen Schwäche. Die Gewerkschaften gehen davon aus, dass sie nicht in der Lage sind, die Lohnabhängigen wirklich zu verteidigen. Dafür sind sie allerdings auch selbstverantwortlich. Weil sich die bürokratischen Gewerkschaftsführungen seit Jahrzehnten komplett den Unternehmerinteressen und dem Dogma der Wettbewerbsfähigkeit unterordnen, sind sie nicht mehr in der Lage, eine eigenständige an den unmittelbaren Interessen der Lohnabhängigen orientierte Strategie zu entwickeln.“ (S. 28)
Es fehlt eine Analyse von geführten (und nicht vermiedenen) Kämpfen, die – trotz mehr oder minder entschlossenen Wollens – verloren wurden. Dies mag zu verschmerzen sein, solange es sich um ein analytisches Papier zur Covid-19-Pandemie handelt. Wenn das analytische Papier dann aber in die populäre (um nicht zu sagen: populistische) Form einer Unterschriftensammlung gegossen wird, wird es ein Problem.
In der editio vulgata heißt es: „Wichtig ist, dass die Beschäftigten die Maßnahmen [„Fabriken, Büros, Betriebe, Baustellen, Schulen müssen geschlossen und die Arbeitspflicht ausgesetzt werden.“] in den Betrieben selber gestalten und gemeinsam durchsetzen.“
Alles ist realistischer als dies in der Bundesrepublik des Jahres 2021. Eher als solche Träume (‚die Beschäftigten gestalten selber und setzen gemeinsam durch‘) jenseits von Zeit und Raum – ohne Mittel und Wege – dürften sich noch Teile des Kapitals und des Staatsapparates von der simplen Tatsachen überzeugen lassen, daß sich (relativ) niedrige Infektionszahlen schneller wieder auf ein handhabbares Niveau senken lassen als höhere – und daß das herbstliche Zögern der Landesregierungen auch den Kollateralschaden für das Kapital nur erhöht hat.[6] Dies dürfte auch eher geeignet sein, auf die Zustimmung einer größeren Zahl von Lohnabhängigen zu stoßen – als eine Wunschtraum-Lyrik, die sie schon seit Jahrzehnten nicht hinter dem Ofen hervor- oder vom Sofa herunterholt oder gar von der Werkbank oder dem Schreibtisch weglockt.[7])
Zwar spricht nichts dagegen, sondern alles dafür, die Perspektive hochzuhalten, daß die Beschäftigten selber gestalten und gemeinsam durchsetzen. Aber der Voluntarismus des Textes der Unterschriftensammlung liegt darin vorauszusetzen, diese Perspektive falle mit der Aktualität der Covid-19-Pandemie zusammen. – Ob es wohl an der trotzkistischen Neigung einiger der UnterzeichnerInnen liegt, auf jede aktuelle, konkrete Reformforderung auch noch ein „Übergangsprogramm“ draufzusatteln[8]? ;-)