Von systemcrash
Schon lange plagen mich Zweifel an der 'postmodernen' no border-linken, konnte diese aber (noch) nicht richtig in Worte kleiden. Leider bin ich in dieser Frage bisher nicht viel weiter gekommen; ich habe mir aber noch mal den Aufruf 'Solidarität statt Heimat' (im Folgenden SSH abgekürzt) angeguckt, und würde gern versuchen, ein paar Kritikpunkte dazu zu entwickeln.
Inspiriert hat mich dazu ein post von einer facebook-Freundin, den ich für recht scharfsinnig halte:
"Wir zerstören durch Krieg, Waffenexporte, Ausbeutung und Freihandel die Heimat vieler Menschen, die aufgrund dessen flüchten müssen. Und nun gibt es einen Slogan "Solidarität statt Heimat". Das müsste doch heißen "Solidarität für Heimat". Wie gesagt, man hat den Menschen ihre Heimat genommen."
In der Tat berührt diese Bemerkung den Kern der 'pomo'-linken, die Negierung der Nation [1]. Leider ist dieses Thema recht umfassend und weitläufig und ich werde nicht einmal annähernd auch nur die wesentlichsten Aspektive dieser Problematik berühren können. Aber die Kritik an diesem Aufruf (SSH) scheint mir ein guter Ausgangspunkt dafür zu sein, den linken Migrationsdiskurs neu zu justieren.
Dass dieses Thema nicht nur ein 'theoretisch-akademisches', sondern auch ein höchst politisch-aktuelles ist, zeigt nicht zuletzt die Debatte um Wagenknecht und die 'linke Sammlungsbewegung'.
Fangen wir mit der Grundthese von SSH an:
"Wir sind uns sicher, dass es keine fortschrittlichen Antworten auf reaktionäre Fragen gibt. Der rechte Diskurs formuliert keine Probleme. Er ist das Problem.
Nennen wir das Problem beim Namen. Es heisst nicht Migration. Es heisst Rassismus."
Auch wenn ich selbst gerne zur Stilfigur der Überspitzung greife, so drückt sie in diesem Fall mindestens eine Schieflage aus, wenn sie nicht gar direkt 'falsch' ist.
Der 'rechte Diskurs' ist eine mögliche Antwort auf das Problem der Migration. Dass darin auch 'Rassismus' enthalten ist, ist unbestritten. Aber der ursächliche Anlass für diese Diskursverschiebung ist die Debatte über Migration. Dies zu leugnen, ist nicht 'links', sondern eine Kinderei (im leninschen Sinne). Dass sich in der 'rechten Hegemonie' auch eine Schwäche (wenn nicht gar Versagen) der 'linken' darstellt, ist dann nur eine abgeleitete Binsenweisheit, die 'uns' erst mal nicht weiterbringt.
Im letzten Abschnitt des SSH-Aufrufes heisst es:
"Nicht nur die bürgerliche Mitte bekennt nicht Farbe. Auch Teile der politischen Linken machen Zugeständnisse an rechte Rhetorik und reaktionäre Ideen und verklären die Ablehnung von Migrant*innen sogar zum widerständigen Moment, ja unterstellen ihr einen rationalen, klassenpolitischen Kern. Doch eines muss klar sein: Rassismus ist niemals ein Akt des Widerstands. Und ebenso klar ist, dass der neue Rassismus, ob von rechts oder links, ohne uns läuft."
und weiter:
"Diese Gesellschaft ist geprägt durch die zahlreichen, millionenfachen Geschichten der Migration. Migration ist eine Tatsache. Sie ist mindestens seit den Zeiten der „Gastarbeit“ in der alten Bundesrepublik bzw. der „Vertragsarbeit“ in der DDR und bis auf den heutigen Tag keine Gefahr, sondern eine Kraft der Pluralisierung und Demokratisierung dieser Gesellschaft. Im Sommer 2015 haben wir das erneut erlebt. Damals war die offene Gesellschaft der Vielen für alle real, sie war greifbar und lebendig."
Ich stimme überein, dass Rassismus kein 'Akt des Widerstandes' ist. Und ebenso finde ich die Kritik berechtigt, dass Teile der 'linken' dem rechten Diskurs zumindest Zugeständnisse machen. Allerdings halte ich es für falsch, dass die Abschottungspolitik keinen 'rationalen Kern' hätte. Denn dieser existiert sehr wohl; nämlich begründet in der Logik in der 'besten' Existenzweise für die bürgerliche Gesellschaft (die natürlich unterschiedliche Konjunkturen hat).
An dieser Stelle beginnt beginnt jetzt die schwierige Arbeit der 'Kunst der Unterscheidung' (die ursprüngliche Bedeutung des Wortes 'Kritik': unterscheiden, 'trennen). Die 'bürgerliche Mitte' hat tatsächlich ein Interesse an Migration, sofern sie in ihre 'ökonomische Konjunktur' passt. Natürlich sollen es gut qualifizierte Leute sein, die in den Metropolen für Niedriglöhne arbeiten. Das schafft gleichzeitig eine Konkurrenzsituation für die 'einheimischen' Lohnabhängigen. Man erkennt leicht: einen 'realen, klassenpolitischen Kern' gibt es also schon. Und dieser kann nicht einfach mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit 'gemeinsamen [Klassen]Kampfes abgebügelt werden. Zumal es mit [Klassen]Kämpfen bei 'uns' ohnehin nicht so dolle bestellt ist.
Und solange kapitalistische Nationalstaaten existieren, wird es diesen (tendenziellen) Widerspruch zwischen 'Einheimischen' und 'Zugewanderten' nun mal geben. Diese unglaublich einseitige Darstellung, dass Migration zu einer 'Pluralisierung und Demokratisierung' [sic!!] der Gesellschaft führe [2], verkennt, dass mit Migration mindestens ebenso viele Probleme verbunden sind. Und dies zu sagen, ist nicht 'rechts', sondern realistisch. Noch blöder allerdings ist der Satz, dass im Sommer 2015 die 'offene Gesellschaft der Vielen real' war. Die BRD im Sommer 2015 war genauso kapitalistisch und imperialistisch, wie sie es heute ist. Merkel mag aus einem Impuls heraus mal was 'Richtiges' gemacht haben (und das sollte man auch sagen [dürfen]), aber letztlich zeigen ja gerade die jüngsten Ereignisse um Seehofer, dass auch sie sich für eine Migrationssteuerung einsetzt; nur eben europäisch koordiniert statt nationale Alleingänge. [3]
Und solange die 'kommunistische Weltrevolution' noch Lichtjahre von uns entfernt ist, wird die Migration sich nach 'ökonomischer Nützlichkeit' (aus Kapitalsicht und nationalstaatlich, woran auch die EU nichts ändert, wie wir gerade sehen) gestalten und nicht nach 'humanistischer Solidarität'. [4]
Müsste man daher den Satz aus SSH:
"In Deutschland und Europa sind infolge der Ideologie „ausgeglichener“ Haushalte wichtige Ressourcen für gesellschaftliche Solidarität blockiert. Dringend notwendige öffentliche Investitionen in soziale Infrastruktur, in Bildung, Gesundheit, Pflege, sozialen Wohnungsbau und eine integrative Demokratie bleiben aus. Der deutsche Pfad von Sparpolitik und einseitiger Exportorientierung schließt viele Menschen von Wohlstand aus, schafft prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen und nährt Zukunftsängste. Seine Probleme lassen sich jedoch nicht durch eine ständische oder nationalistische Wohlfahrtsstaatlichkeit lösen, die auf soziale Vorrechte und Abschottung setzt - und auf weltfremde Phantasien einer „Steuerung“ von Migration und des wohligen Privatglücks in der „Heimat“."
angesichts der 'linken Schwäche' nicht genau umgekehrt lesen?
[1] „Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ (Ernst Bloch)
Dieser 'emanzipatorische Heimat-Begriff' sollte nachvollziehbar sein. Aber der Begriff 'Nation' ist komplexer. Denn eine Nation ist nicht (nur) die Konstruktion eines Staatengebildes, sondern auch eine historisch gewachsene 'Kulturgemeinschaft', die nicht zuletzt durch die Sprache zusammengehalten wird. Mögen auch alle 'nationalen Narrative' sich in letzter Instanz als 'Ideologie' [ich würde es es nicht ausschliessen, dass es auch 'notwendige Illusionen' geben mag] erweisen, so ist der Gegensatz von Nationalismus nichtsdestotrotz Internationalismus und nicht 'Anti-Nationalismus'. Diese albackene 'marxistische Weisheit' bleibt richtig und richtungsweisend.
[2] Man schaue sich die Situation der Schwarzen in den USA an, auch wenn da eher Kolonialismus statt Migration den historischen Hintergrund bildet. Aber auch die Nachfahren der Sklaven stehen ja trotzdem vor der Aufgabe der 'Integration' in die bestehende Gesellschaft; trotz aller berechtigten Zweifel und Ressentiments, die es dagegen geben mag.
[3] Ich habe erst jetzt gesehen, dass A. Holberg zu meinem Artikel (Migrations-Politik und die Europafrage) einen Leserbrief geschrieben hat, den ich gern vollständig wiedergeben möchte:
"Überaus nachvollziehbare und begrüßenswerte Überlegungen. Ich möchte noch hinzufügen, dass z.B. auch der DKP-Professor Georg Fülberth im vom PapyRossa-Verlag 2014/15 herausgegebenen Buch "Explorationen" darauf verwiesen hat, dass kommiunistische Parteien nur dann Massenparteien (z.B. PCF, PCI) geworden sind, wenn sie mit nicht-authentisch kommunistischen Agenden aufgetreten sind (hier vorallem: Antifaschismus, nationale Befreiung). Die einzige kommunistische Partei, die je eine im Kern proletarische Revolution angeführt hat, waren die Bolschewiki in Russland, wo das Industrieproletariat aber maximal 5% der Bevölkerung ausmachte, und auch die Bolschewiki, die siegen konnten, weil die sich überwiegend aus der Bauernschaft rekrutierende zaristische Armee geschlagen und kriegsüberdrüssig war, hat die Parole "Brot und Frieden" ins Zentrum ihrer Agitation gestellt und nicht "Sozialismus". Den hielt sie - zumindest mehrheitlich - ohnehin erst für ansteuerbar auf der Grundlage der durch die Oktoberrevolution zunächst verwirklichten Herrschaft des Proletariats (im Bündnis mit dem armen Teil der Bauernschaft) und der Unterstürtzung dieser Diktatur des Proletariats durch die westlichen Industrienationen nach entsprechenden Umwälzungen dort.
Was uns heute hier anbelangt, so scheint es mir unverkennbar zu sein, dass im Zentrum (des unbedingt notwendigen!) revolutionären Strebens die Hinführung der "proletarischen Massen" (und ihrer potentiellen Verbündeten aus dem "Kleinbürgertum") zu - zunächst - durchaus reformistischen Kämpfen ist. Erst durch die eigene Erfahrung in solchen Kämpfen können die ihnen innewohnenden Grenzen des Erreichbaren deutlich werden und damit die Bereitschaft, diese zu durchbrechen, entstehen. Die Frage etwa, ob Sahra Wagenknecht in Wahrheit eine revolutionäre Sozialisten oder nur eine Repräsentanten des "trade unionistischen" Reformismus ist, ist so gesehen aktuell ziemlich irrelevant. Wesentlich wichtiger ist es zu sehen, dass diejenigen, die mit "revolutionärem" Pathos laut erklären, dass reformistische Kämpfe oder gar die Anerkennung der aktuellen Realitäten (wie z.B. der, dass riesige Migrantenzahlen ungeachtet aller moralischen Berechtigung eine Belastung gerade der proletarischen und eher traditionell kleinbürgerlichen Massen in Europa darstellen) sinnlos seien, weil sie die Internationalität des Kapitalismus und die sozialistische Moral ignorierten, diesen unverzichtbaren Prozess von eigener Kamperfahrung für Reformen hin zu revolutionären Zielen verbauen." (scharf-links)
[4] “Look, everything the Communists say about capitalism is true, and everything the capitalists say about Communism is true. The difference is, our system works because it's based on the truth about people's selfishness, and theirs doesn't because it's based on a fairy tale about people's brotherhood. It's such a crazy fairy tale they've got to take people and put them in Siberia in order to get them to believe it." -- Philip Roth, I Married a Communist
["Sehen Sie, alles, was die Kommunisten über den Kapitalismus sagen, ist wahr, und alles, was die Kapitalisten über den Kommunismus sagen, ist wahr. Der Unterschied besteht darin, dass unser System funktioniert, weil es auf der Wahrheit über die Selbstsucht der Menschen basiert, und das nicht, weil es auf einem Märchen über die Brüderschaft der Menschen basiert. Es ist so ein verrücktes Märchen, dass sie Leute mitnehmen und nach Sibirien bringen müssen, damit sie es glauben." (google Übersetzung)]
Leserbrief von A. Holberg - 12-07-18 14:27