Eine italienische Reise mit Antonio Gramsci
von Gerd Elvers
Es gab verschiedene Gründe für eine Reise nach Rom und Neapel im März 2017. Da war der verführerische Gedanke, dem Nachwinter im kalten Deutschland mit einem Billigflieger nach Rom ein Schnippchen zu schlagen und den Frühling um einen Monat vorzuziehen, der sich - von Süden über die Alpen kommend - viel Zeit bei seinem Vordringen ließ. Da war der langgehegte Wunsch, das altrömische Städtchen Herculaneum zu besuchen, das 79 nach Christus wie Pompeii und Stabia vom explodierenden Vesuv verschüttet worden war. Zwei Bücher in meiner Bibliothek hatten meine kulturelle und archäologische Neugier geweckt: „Vorbild Herculaleum, Römisches Bayern und Antikenrezeption im Norden“ von Dieter Richter und „Die letzten Stunden von Herculaneum“ von Philipp von Zabern. Was nur Experten wissen: Weil während des Ausbruches eine Glut-Plasma-Wolke den Vesuv-Hang in Richtung Herculaneum herunter „gerollt“ und durch die Keller und Fenster geflutet war, blieben viele Dächer des Hafenstädtchen erhalten. Die Gebäude als ganze wurden mit einer zementartigen Hülle versiegelt, im Gegensatz zu Pompeii, das einen tagelangen Ascheregen über sich ergehen lassen musste, unter dessen Gewicht die Dächer bis zu den Kellern eingedrückt wurden. Aber dann kam alles ganz anders.
Eine unerwartete Begegnung mit Antonio Gramsci
Bei meinen ersten Wanderungen durch Rom folgte ich noch den archäologischen Neigungen mit dem Besuch der aktuellen Ausgrabungen der Domus Aurea, des Goldenen Hauses von Nero. Wie konnte es sein, dass nach 500 Jahren Ausgrabungen erst jetzt die riesigen Gemächer, darunter eine Kuppelhalle, ausgegraben werden, die als Vorbild für das spätere Pantheon diente, und wie konnten diese Gemäuer erhalten bleiben, obwohl nach Neros Ermordung Vespasian alle Spuren dieses Despoten tilgen wollte? Erst vor Ort fand ich die Antwort: Das Goldene Haus wurde in den Hang des Esquilino-Hügels hinein gebaut. Seine Wände standen nicht frei in der Gegend herum, sondern wurden durch das umgebende Erdreich geschützt. Ein Vergleich mit Herculaneum bietet sich an.
Als ich meine Touren erweiterte, kam ich zum Porto San Paolo, eines der altrömischen Stadttore und stieß auf die hohe Mauer des benachbarten protestantischen Friedhofs. Ohne zu ahnen, auf was ich mich einließ, suchte ich nach dem versteckten Eingang. An der Pforte hing ein Schild, das einige berühmte Gäste des Cimiteros aufführte: den englischen Dichter Keats, den Sohn Goethes, einige berühmte Rabbis, einen Haufen amerikanischer Botschafter und Antonio Gramsci, meinen Mentor der neomarxistischen Philosophie. In Relation zum Grab von Karl Marx in London oder gar Lenin auf dem Roten Platz von Moskau ist es schlicht, versteckt am Rande des Friedhofs und erst mit Hilfe einer Römerin auffindbar. Auf dem Grab haben einige VerehrerInnen Kieselsteine gelegt. Ich setzte mich auf den Rand des Grabes.
Den protestantischen Friedhof nennt die zuständige katholische Kirche: Cimitero Acattolico; das Nichtkatholische klingt wie heidnisch, wie ein Fluch, und in der Tat durften diese Heiden früher nur nachts neben der Cestius Pyramide beerdigt werden, um sie den Augen der braven Katholiken zu entziehen. Um 1550, nach etlichen Schlachten zwischen Protestanten und Katholiken, besuchte der siegreiche Kaiser Karl V Luthers Grab in Wittenberg. Er hielt den Einflüsterungen seiner frommen Gefolgschaft stand, das Grab seines Todfeindes zu verwüsten. 1937 fand der atheistische Kommunistenführer Gramsci mit Hilfe seines ehemaligen journalistischen Berufskollegen Mussolini eine schlichte aber um so würdigere Grabstelle. Vielleicht erinnerte sich Mussolini der gemeinsamen Zeit als Sozialisten vor dem 1.Weltkrieg.
Gedenkstätte Fosse Ardeatine
Während ich einen Kieselstein zu den anderen auf das Grab lege, erfasst mich eine Welle von Emotionen, bei denen ich zu einer gewissen unangepassten Theatralik neige. Ich bilde mir ein, er spräche zu mir und fragt: Wohin gehst du? Wenn auch eine solche Assoziation zu einem ganz anderen Ereignis deplatziert wirkt, kann man einer solchen Frage nicht gänzlich ihre Berechtigung absprechen. In der Tat. Was soll die bourgeoise Attitüde, als Kunstbeflissener durch die Stadt zu wandern? Ich schlage den Reiseführer auf und folge der neuen Spur nach: Quo vadis? Mit der Metro zum Porto Sebastiano, Eintauchen in die Schlucht der Via Appia Antica, ein lebensgefährliches Unternehmen, eingeklemmt zwischen den vielen Autos und der lehmigen Wand, vorbei an der Kirche: Quo Vadis, auf einem schönen, autofreien Fußweg zu den Calixtus-Katakomben, dann der Weg nach rechts und der Eingang zu den Fosse Ardeatine. Ich bin an meinem Ziel angekommen: der zentralen nationalen Gedenkstätte der Nazigräuel.
In den alten Stollen, getrieben in den Sandstein, wurden 350 Römer im März 1944 erschossen. Ich bin fast allein in dem Höhlengewirr. Die Erschießungen war die Reaktion auf die Tötung von 10 südtiroler Faschisten, die durch einen Bombenattentat von kommunistischen Partisanen getötet worden waren, weil sie sich an Mordaktionen besonders hervor getan hatten. Die Nazis unter dem Oberbefehl von Generalfeldmarschall Kesselring setzte als Vergeltung eine Quote von 10 zu erschießenden Geiseln auf einen getöteten Südtiroler an. Da in den Gestapo-Gefängnissen nicht genügend Juden und Partisanen waren, um die Quote zu erfüllen, trieb die deutsche Wehrmacht mit Hilfe von italienischen Kollaborateuren Passanten in einer Straße in Rom zusammen, verluden sie auf Lastwägen und erschossen sie mit den anderen aus den Gefängnissen in den Fosse Ardeatine. Die Prozedur dauerte Stunden und war in ihrer Grausamkeit nicht zu überbieten. Eine lange Schlange von Delinquenten bildete sich in den Stollen, bis sie an die Reihe waren. Sie mussten sich auf einen Holz-Stuhl setzen und wurden hinterrücks erschossen.
Obwohl alle Beteiligte der Massenhinrichtungen bekannt waren, geschah ihnen in der Bundesrepublik nach dem Krieg kaum etwas. Der auf allen Fotos ewig grinsende Kesselring wurde nach dem Krieg wegen dieses und anderer Verbrechen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, die er bei seiner vorzeitigen Begnadigung schon 1952 abgesessen hatte, um danach seine Pension zu genießen, hochgeachtet von vielen in der Bundeswehr.
Ein besonderer Tag mit Marchello und Sophia
Mit der Buslinie 218 kehrte ich wieder in die Stadt zurück. Ich hatte eine Wandlung durchlebt. Aus dem Touristen mit archäologischen Interessen wurde ein Historiker für die jüngere Geschichte mit einem besonderen Auge für die Mussolini-Zeit. Und auf meinen neuen Fußwanderungen wurde ich schnell fündig. So auf dem hübschen Wanderweg von Trastevere zum Piazzale Garibldi, wo ich eine Stele mit dem Faschistenadler passierte, die Mussolini für gefallene national gesinnte Trentiner errichtet hatte (Fotodokumentation www.revolution-heute.de.) Aber auch auf Denkmälern der Opfer der Nazis stieß ich, so im Hof eines während des Faschismus gebauten großen Wohnkomplexes von Testaccio, in dem sie während des Krieges gewohnt hatten. Der große Gebäudekomplex erinnert mich an den wunderbaren Film: „Ein besonderer Tag“ mit Marchello Mastroaianni und Sophia Loren des Regisseurs Etore Scola von 1977. Er spielt einen schwulen Rundfunkreporter, der seinen Job verloren hat, sie eine 6fache Mutter eines faschistischen Ehemanns, der mit seinen Kindern beim Besuch Hitlers bei Mussolini am 3. Mai 1938 an der großen Parade teil nimmt. Im Hintergrund ist die textlich authentische Reportage des neuen Rundfunksprechers (auf Deutsch) zu hören, der in begeisterten Tönen von dem „Neuen Germanien“ spricht, während beiden Allein Gelassenen sich näher kommen. Die Begeisterung und der Triumph des Faschismus und das Verloren-Sein des Humanen wird in dem Film verdichtet eingefangen.
Ein weiteres Mussolini-Monument: die Grabstätte des Freiheitskämpfers und Schöpfers des modernen Italiens passiere ich auf dem Anfstieg zum Piazzle Garibaldi. Im neoklassizistischen Stil ist sie 1941von Mussolini erbaut und feierlich zu einer Zeit eingeweiht worden, als beide faschistische Diktatoren sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht wähnten. Aber auch woanders finden sich im Stadtbild Roms deutliche Spuren: Ein ganzer Stadtteil: Universale Romana (E. U. R.) ist 1939 bis 1942 von Mussolini gebaut worden und heute ein bevorzugter Ort internationaler Konzerne, die eine Vorliebe für imponierende Gebäude haben.
Gramsci`s gültige Interpretation des „unreifen“ Faschismus Italiens
Wie kann es sein, dass im heutigen Italien offen faschistische Denkmäler herum stehen? Wie kann es sein, dass heute im Internet die „Movimento Fascismo e Libertà “ vollmundig auf ihrer Wegsite verkündet, die „einzige Bewegung von und für das italienische Volk“ zu sein? Schamlos wird das Faschisten-Bündel Mussolinis als offizielles Partei-Logo der MFL im Internet publiziert. Sicherlich, die faschistische Nachfolgebewegung von Mussolini hat an Resonanz durch die Konkurrenz von Berlusconi und der Lega Nord verloren. Dennoch: Keine rechtsradikale deutsche Partei kann das Hakenkreuz als Emblem zeigen, weil diese Demonstration in Deutschland gesetzlich verboten ist. Warum ist Italien so anders?
Die tiefere Begründung über die Besonderheit des italienischen Faschismus hat mein Mentor Antonio gegeben, wie ich es in meinem Artikel über Gramsci, publiziert auf meiner Homepage unter www.revolution-heute.de 2014, dargestellt habe. In seinen „Heften (Kladden) im Kerker“ hat er Italien – im Gegensatz zu Deutschland – als einen „unreifen“ kapitalistischen Staat charakterisiert, der einen unreifen Faschismus gebar. Kurz gesagt: Für die imperialistischen Träume des Duces fehlte ihm zu ihren Realisierungen die industrielle Basis als Boden für eine höchst effizient Bürokratie und Kriegsmaschinerie. Mussolini konnte die Inhumanität seines Faschismus nicht so voll ausleben wie Hitler. Aber es kommen noch zwei Sachen dazu: Gramscis soziologische Erkenntnisse über das Alltagsleben und seine Entdeckung der Zivilgesellschaft.
Gramsci befand sich in dem Kerker Mussolinis in einer misslichen Lage. Er hatte die Frage zu klären, warum saß der Kommunistenführer im Gefängnis von Mussolini und nicht der „Duce“ in einem sozialistischen Volksgefängnis? Es zeichnet die innere Souveränität von Gramsci aus, dass er auf diese fatale und höchstpersöhnlich schmerzliche Lage eine objektive Antwort fand. Sie waren in seinem Denken über
Alltagserlebnis Alltagsdenken, mediale Vermittlung und Ideologie
eingebunden. Die Legitimität einer Staatsdoktrin oder Ideologie bemisst sich nach dem Grad ihrer Konformität mit dem Alltagsdenken. Das Alltagsdenken entwickelt sich aus dem Alltagserlebnis. Das Alltagserlebnis, also das konforme alltägliche Erleben von Klassen oder sozialen Schichten, formt die politischen und geistigen Strömungen in einer Gesellschaft. Das real Erfahrbare im Alltag bestimmt so die Grundstrukturen des „Überbaus“, eine Vorstellung, die Marx und Engels schon im Kommunistischen Manifest hatten, und mit dem Begriff der Zivilgesellschaft. Das real Erfahrbare kann auch das Fiktive der Medien sein, in den Worten von Gramsci „die Sprache“, die sich vermittelnd zwischen Alltagsrealität und Ideologie stellen will.
Der Faschismus hatte es in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zeitweise besser verstanden, über die Pforte der Alltagserlebnisse vieler Italiener überzeugender ihr Denken zu prägen, und die medialen faschistischen Formen der Demagogie, verbunden mit Kolonialismus, Mare-Nostrum-Phantasien und dem Versprechen einer neuen Volksgemeinschaft jenseits des Kapitalismus eine scheinbar schlüssigere Ideologie in den Köpfen zu verankern als die politischen Alternativen – heute wieder in vielen Ländern ein attraktives Polit-Modell. Zugleich aber galt die These Gramsci`s vom unvollkommenen Staat, mit dem die faschistischen Versprechen nicht eingehalten werden konnten, im Gegensatz zu Nazi-Deutschland bis zu dessen otale Niederlage. Das faschistische Italien scheiterte an seinen inneren Schwächen, während Nazi-Deutschland erst auf den Schlachtfeldern nieder gerungen werden musste. Bis in den letzten Tagen waren Zehntausende Deutsche bereit, in Berlin für ihren Führer sich zu opfern, was sich zu spät als ein fürchterlicher Irrtum heraus stellen sollte.
Weil das italienisch-faschistische Programm der Inhumanität, der Brutalität, der Ausbeutung anderer Völker nicht voll durchgespielt wurde, mit dem Waffenstillstand 1943 durch den Großen Faschistischen Rat vorzeitig abgebrochen worden ist, und die Republik Salò unter Mussolini sich nur noch als Vasall Deutschlands bis zu seiner endgültigen Niederlage, erzwungen auch durch die Partisanenbewegung, durch die Geschichte bis zu ihrem Aus schleppte, hatte der Faschismus für etliche Italiener sein wahres Gesicht verhüllt, und verblieb nach dem Kriege für einige noch „salonfähig“, fähig, in den Salons Nachkriegsitaliens noch als Nebenfigur aufzutreten, aber verbannt von der Bühne der Großen Italienischen Oper.
Aber da war noch etwas anderes, was die totale Abwrackung des italienischen Faschismus in den Augen vieler im Wege stand: die Rolle der Moderne im italienischen Faschismus. Die Moderne bemisst sich gemäß Karl Marx nach dem Entwicklungsfortschritt des Kapitalismus in Staat und Gesellschaft. Zwar wies und weist immer noch Italien in der ökonomischen Unterentwicklung von Landesteilen, in der Funktionsunfähigkeit des Staates, des Steuersystems, der Bürokratie, der Militärmaschinerie erhebliche Defizite auf wie die Mafia, andererseits kann sich jeder Besucher von außen über moderne kulturelle Elemente in der faschistischen Periode überzeugen, die bis heute noch nachwirken. Ich will dies nur kurz an folgendem festmachen:
Drei Elemente der faschistischen Moderne: Film, Architektur. Malerei.
Im italienischen Film ist es die Rezeptionsbiographie des Regisseurs Roberto Rosselini, die auf einen Aspekt der Moderne im Faschismus hinweist. Es ist seine faschistische Filmtriologie 1941-43, beginnend mit dem faschistischen Propagandafilm „La Nave Bianca“, der den italienischen Neorealismus entwickelt: Verlebendigung des Gegenständlichen, Synthese von Fiktion und Realität, Darstellung von unabdingbaren, unvermeidbaren Schicksalssträngen. Zwei Monate nach der Befreiung Roms im Juni 1944 begann er mit den Dreharbeiten des antifaschistischen Films: Roma Città Aperta, ein späterer Welterfolg, in der gleichen Form des Neorealismus wie in der faschistischen Zeit. Georg Lukasc frühes Essay: „Die Seelen und die Formen“ lassen grüßen. In dem Film ist die großartige Ana Magnani für das Seelische zuständig.
In dem Stadtteil E. U. R. ist die unverfälschte Architektur Mussolinis zu bestaunen. Einerseits weist der Baustil den Neoklassizismus auf, der mit seinem Imponiergehabe den Benutzer des öffentlichen Raumes einschüchtern und erdrücken will, wie der Hitlerarchitekt Speer, andererseits tritt aber der Rationalismus als Teil der Moderne hinzu und macht das Bombastische erträglicher: kostensparende Einfachheit mit unverputzten Beton und viel Glas, Verzicht auf vorgehangene Fassaden, Betonung regelmäßiger Fenstergliederung.
Die faschistische Moderne in der Malerei ist eigentlich kein Eigenbeitrag des Faschismus, sondern eine Duldung schon vorher aktiver Maler wie Georgio de Chirico. Anders als in Deutschland, wo sich die Moderne mit Beckstein, Nolde, Kirchner und mit dem gar nicht so avantgardisischen Kokoschka mit ihrer „entarteten“ Kunst vor dem Trivial-Geschmack des ehemaligen Postkartenmalers Hiter verstecken musste. Als Beispiel kann man sein Bild „Die Familie des Malers“ von 1926 nehmen (Bild in: www.revolution-heute.de).
Der Historikerstreit in Deutschland und Mussolini
Auch wenn der Historikerstreit in Deutschland in den 80iger Jahren weitgehend ein akademischer Diskurs war und nicht die Alltagserlebnisse breiter Schichten der Bevölkerung erfasste und sie prägte, so darf er doch nicht in seiner Wirkung unterschätzt werden. Eine Gruppe von Historikern hinter Ernst Nolte, der vor kurzem verstorben ist, verstiegen sich zu der atemberaubenden These, dass Hitler und Holocaust in der Nachfolge der stalinistischen Verbrechen und Gulag zu verstehen seien. Aus diesem relativierenden Blickwinkel war der Führer kein Ungeheuer, der aus der deutschen Geschichte „herausgefallen“ war, sondern als ein Teil der deutschen Geschichte einzuordnen sei, wenn auch in einem düsteren Szenario. So unglaublich atemberaubend und provozierend diese Thesen vielen 68igern erschien, die wegen der Verbrechen ihrer Eltern auf die Barrikaden geklettert waren, bei der Mehrheit der Gesellschaft erfolgte kein Aufschrei über derartig Ungeheuerliches, sondern eine mehr kühle akademische Zurechtweisung unter Führung von Jürgen Habermas, der darin einen revisionistischen Versuch sah, das „Nationalistische“ in Deutschland wieder hoffähig zu machen.
In dieser rein deutschen Nabelschau erfolgte kein Blick über den Zaun nach Italien. Das hätte den Blick erweitern können. Es hätte hilfreich sein können zu fragen, ob in Italien ein solcher Historkerstreit über ihren Duce möglich gewesen wäre. Wäre er nicht. In Italien hätte man einen solchen Streit nicht verstanden, denn selbstverständlich war und ist Mussolini für viele – in diesen Kreis sind nicht eingeschlossen die kommunistischen Partisanen und die Opfer faschistischer Gewalt – ein zwar brutaler Führer, aber der Gestank eines „widerlich Aussätzigen“ steigt nicht soweit in die Nase von Historikern, dass er von der italienischen Geschichte ausgeschlossen wäre. Er war und ist für viele zwar ein missratener Sohn, aber für die italienische Mama zählt er irgendwie zur Familia. Ironischer Weise hat die „Schwäche des italienischen Staates und somit des Faschismus (Antonio Gramsci) zu einer „milderen“ Beurteilung von Mussolini geführt, verglichen mit Hitler.
Die Deutsche Rechte (Götz Kubitschek) beruft sich auf die Moderne unter Mussolini
Das Ergebnis des Historikerstreits in Deutschland war die „Ächtung“ von Nolte. Spiegel-Online- Nachruf: „selbst gewählt im Abseits“. Die Relativierung Hitlers blieb aus, und damit hat die Neue Rechte in Deutschland ein Identitätsproblem. Der obskure „Stellvertreter des Führers“ Rudolf Heß bringt es nicht. Marine Le Pen hat ebenfalls ein Identitätsproblem mit Marchall Petain, und daher greift sie auf die Volksheilige Jeanne dÀrc zurück und missbraucht sie. Aber die Neue Rechte in Deutschland weiß sich zu helfen. Sie knüpft an die kulturelle Moderne an, die als Element der Gesellschaft den Anspruch erhebt zukunftsfähig zu sein. Der sich intellektuell gebende Teil der „Neuen Rechten“ wie der Verleger, Pegida-Sprecher und ehemals Mitgestalter der „Neuen Freiheit“, Götz Kubitschek, greift gerne auf das faschistische Italien zurück. Hitlerdeutschland, mit dem in den Wochenschauen brüllenden Hitler oder die wahnsinnigen Entwürfe zu einem „neuen Germanien“, womit ein „menschliches Berlin“ augenfällig ausgelöscht werden sollte, erfüllen nicht die Anforderungen eines Menschen mit höherer Schulbildung. Kubitschek steht lieber für Themen wie „italienischer Faschismus und Avantgarde“. Es wäre zu kurz gegriffen, ihn als einen bloßen Tapetenmaler abzutun, der mit bunter Tünche über braune Wände streicht.
Man wird ihm und seinesgleichen auch nicht zur Gänze mit der These gerecht, der intellektuelle Anspruch diene nur als Vehikel, um mit den intellektuellen Teilen der Bourgeoisie in Diskussionen auf Augenhöhe zu kommen. Sein im angestrengten Modus geführtes Gespräch mit einem Bundeswehrgeneral kann die Qualität eines Habermas-Diskurses nicht erfüllen. Gefährlicher ist der Versuch, die Rechte generell aus der Ecke des süffelnden, miefigen, glatzköpfigen Milieus zu den geistigen Sphären des Goethe-Olymps zu führen, wie im Grundsatzprogramm der AFD ausgeführt, und in intellektuellen Gesprächen auf der „Höhe der Zeit“ zu sein, will sagen: die geschmäcklerischen Häppchen, also die Schnipsel der Postmoderne aufzugreifen und den feuilletonistischen Duft der Weltgewandtheit aufzunehmen - trotz aller Mysophobie und Xenophobie in der eigenen Mitgliedschaft, kurzum: Man will der selbstverordneten provinziellen Enge entkommen. Denn wer ein nationales Programm der Befreiung proklamiert, muss im Sinn der deutschen Klassik zum Höheren streben.
Deshalb greifen auch alle Interpretationen zu kurz, die den internen Streit in der AFD zwischen Petri, Gauland, Hocke usw. allein als personifizierten Machtkampf definieren oder die Brutalität der eingesetzten Mittel gegen Parteimitglieder als Ausdruck von Menschen zu psychologisieren, die durch das bisherige randständige Leben gekränkt wurden und den auf Flüchtlinge eingeübten Hass nun gegen ihresgleichen wenden. Der Richtungsstreit zwischen Petri, die ihre Partei offen halten will im Hinblick auf spätere bürgerliche Koalitionen einerseits und den Fundamentalopponenten andererseits ist nicht weg zu diskutieren. Trotz ihrer Niederlage auf dem letzten Parteitag wird sie ihre Linie weiter vertreten.
1943 – vertane Chance einer schnellen Beendigung des Weltkriegs
Wenden wir uns wieder den Mordaktionen der Hitleristen gegen das italienische Volk zu. Das G-6-Treffen in Lucca am 6. April 2017 hat die Aufmerksamkeit auf die Gräuel der Waffen-SS bei ihrem Rückzug durch Italien gelenkt. Der US-Außenminister besuchte die Memorial-Gedenkstätte nahe Lucca, wo das Massaker 1944 von 560 italienischen Familien durch die SS-Division „Das Reich“ stattfand. Er tat es demonstrativ, um die neue Politik von Trump darzustellen, dass angesichts vergifteter Babys in Syrien Kriegsverbrechen geahndet werden sollen. Viele werden bis dahin ahnungslos über das Geschehen 1944 gewesen sein. Ein Grund liegt vielleicht – ohne dass dies eine Schuldzuweisung sein soll, denn die Opfer dürfen nicht mit Tätern gleichgestellt werden – bei der „selektiven Erinnerungspolitik“ Italiens. Die deutschen Truppen haben eine Blutspur bei ihrem langsamen Rückzug quer durch Italien hinterlassen. Dabei ist einiges heute ist in Vergessenheit geraten. Tippe ich im Intenet-Suchdienst den konkreten Ort des Massakers: „Sant`Anna di Stazzema“ ein, erhalte ich die Frage auf Italienisch: Meinen Sie Santander totta netbanco di stazzema?“ und das freundliche Angebot, Kredite online zu beantragen.
Der Höhepunkt des Mordens der Deutschen gegen Italiener spielte sich aber nicht auf dem italienischen Festland ab, sondern auf den griechischen Inseln von Korfu und Kefalonia. Auf ihnen ermordete das Alpenkorps, das sind die mit den gemütlichen Maultieren und dem Edelweiß auf den Mützen, Tausende von gefangenen italienischen Soldaten, die sich nach dem Sturz Mussolini den Deutschen ergeben hatten. Im September 1943 wurde Mussolini wegen des Vordringens der Amerikaner und Engländer im Süden von Italien durch den Großen Faschistischen Rat gestürzt, und Feldmarschall Badoglio, der sich zuvor auf Befehl von Mussolini mit den Überfällen auf Libyen und Äthiopien die Hände mit Blut besudelt hatte, zum Ministerpräsidenten bestimmt. Eine einzigartige Chance bot sich auf einem neuen Schlachtfeld. Aber statt nun das Millionenheer Italiens gegen Nazi-Deutschland an der Seite der Alliierten aus zu richten und durch die Mitte und den Norden Italiens bis zum Brenner und München zu stoßen, wie es ursprünglich auch der strategische Plan von Churchill mit der Landung in Nordafrika und Süditalien war, verspielten die Mussolini-Gegner durch Unentschlossenheit, Halbherzigkeiten und Passivität die Möglichkeit, im Zangenangriff mit der Roten Armee Hitlerdeutschland noch 1944 nieder zu ringen.
Nachdem sich die Wehrmacht von ihrem Schock erholt hatte, drangen deutsche Panzerdivisionen von Süddeutschland und Frankreich bis südlich von Rom vor und rangen die wenigen italienischen Kräfte nieder, die sich ihnen entgegen stellten. Die Masse des italienischen Heeres löste sich auf, die Soldaten zogen Zivilkleider an und gingen zu Fuß nach Hause, in der irrigen Meinung, für sie sei der Krieg zu Ende. Oder sie ließen sich von den Deutschen in Italien und Griechenland entwaffnen, um danach ermordet zu werden. Den Deutschen gelang es, südlich von Rom die Front zu stabilisieren und für weitere eineinhalb Jahre Tod und Zerstörung über Italien zu bringen. Der heldenhafte Widerstand der Partisanen hat einen Teil der Schmach getilgt.
Das Gros der Kriegsverbrechen gegen Italien wurde nicht bestraft. Verantwortlich dafür waren nicht nur die Vertuschungen durch die westdeutsche Justiz sondern das persönliche und politische
Bündnis von De Gasperi und Adenauer. Beide verband ein gemeinsames christlich-abendländisches Grundverständnis, und De Gasperi verfolgte nur mit halben Herzen die Verbrechen der
Deutschen Wehrmacht zu sühnen, aus Rücksichtnahme gegen „deutsche Empfindlichkeiten“. Er wollte ein gemeinsames konservativ-christliches antikommunistisches Westeuropa mit Westdeutschland. Darüber hinaus wollte Italien gemeinsam mit Deutschland und Frankreich eine eigene atomare Bewaffnung, wie die jüngste Adenauer-Biografie von dem kürzlich verstorbenen Historiker Werner Biermann enthüllt. Das skandalöse Auftreten von Franz-Joseph Strauß war also kein Alleingang. Die Franzosen stoppten 1959 den paraphierten Vertrag.
Schlussthesen
Die historische Ironie will es, dass der italienische Faschismus Teile der kulturellen Moderne in sich aufnahm oder sogar selbständig entwickelte. Eine, wenn auch nicht die entscheidende Folge war, dass es in Nachkriegsitalien nicht zu einer totalen Abgrenzung zum Faschismus kam, so dass zivilisatorische Rückfälle italienspezifisch ausgeprägt waren. Der Berlusconismus und die Lega Nord sind Ausprägungen dessen.
Dennoch zeigt sich Italien – im Gegensatz zu Deutschland – resistenter gegen Rassenhasst wie die meisten Südstaaten Europas. Auffällig für einen Deutschen auf seiner italienischen Reise ist die selbstverständliche Massen-Präsenz von schwarzen Immigranten in den Zentren von Rom und Neapel. Offensichtlich fühlen sie sich hier weniger im italienischen Alltag diskriminiert als in den Nordländern.
Ich vermute mal, dass bei einem zivilisatorischen Rückfall in einer ökonomischen Krise, ausgelöst durch marode Banken, Italien nicht wie Deutschland die krasse Regression von massenpsychologischer Enthemmung, Abbau von Triebsteuerung und Endsublimierung aufweisen wird. Eine solche soziale Verrohung traue ich mehr Deutschland zu.
Entgegen der These von Karl Polanyis: „Die große Transformation“ hat die kapitalistische Industriealisierungswelle in den 70iger und 80iger Jahren für Italien nur teilweise zur Zerstörung traditioneller Lebenswelten geführt. Beispiele: Mafia, kulturell geprägte Entgleisungen bei Steuerhintergehungen und bürgerliche Verantwortungslosigkeit in den politischen Eliten. Die Einschätzung von Antonio Gramsci von einem „unvollkommenen Staat“ hat sich als richtig erwiesen. Der Versuch der Neuen Rechten in Deutschland, das partiell Moderne von Mussolini-Italien als Modell für eine Aufpolierung des eigenen Bildes zu machen, ist nicht überzeugend und wird scheitern.
Gerd Elvers
(Zu diesem Artikel gibt es auch eine Power-Point-Präsentation mit vielen Fotos unter www.revolution-heute.de)