Von systemcrash
[Terminologische Vorbemerkung: ich verwende in diesem Artikel den Begriff "Transkapitalismus" an Stelle von "Antikapitalismus". Zum Einen, um eine Abgrenzung zum demagogisch-faschistischen "Antikapitalismus" zu haben; zum Anderen, um ein 'revolutionäres' 'Projekt' nicht nur als Negation darzustellen. Die Frage, was eine postkapitalistische Gesellschaft positiv ausmachen sollte, muss im Rahmen dieses Artikels aber unberührt bleiben.]
Nationalstaat und Kapitalismus
Die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft war an die Entwicklung von "Nationen" gebunden. Dies zum Einen, um einen einheitlichen Markt zu schaffen; aber zum Anderen auch, um eine gewisse 'kulturelle' Vereinheitlichung zu schaffen. Denn auch Kulturtechniken sind 'Produktivkräfte'.
Darum würde ich Marx widersprechen wollen, wenn er im Kommunistischen Manifest schreibt:
"Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse."
Die Globalisierung in der Gegenwart scheint mir eher eine gegenteilige Entwicklung anzuzeigen.
Auch der berühmte Satz:
"Den Kommunisten ist ferner vorgeworfen worden, sie wollten das Vaterland, die Nationalität abschaffen. Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben. Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen [sic!!!!systemcrash] Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß, ist es selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie."
scheint mir mit der Realität nicht übereinzustimmen.
Die Arbeiter haben sehr wohl ein "Vaterland" und sie scheinen wenig Lust darauf zu haben, die Reste des fordististischen Sozialstaates mit armen Flüchtlingen aus arme-Leute-Gegenden zu teilen (dies auch ganz unabhängig von kulturellen Differenzen und Vorurteilen). Und noch weniger Lust verspüren sie, wenn ihre eigene soziale Lage immer prekärer wird angesichts neoliberaler Konterreformen.
"Reform" und "Revolution"
Zwischen Reformpolitik und 'revolutionärer(n)' Strategie(n) scheint ein (tendenzieller) Widerspruch zu existieren; zumindest wenn man auf der Ebene des Reformismus und Gradualismus verbleibt. Da aber eine absolute Mehrheit der Lohnabhängigen nichts von 'Revolution' wissen will, muss man dies als 'Normalzustand' annehmen.
Reformpolitik ist tatsächlich an die Existenz des Nationalstaates gebunden (daran ändert auch die EU nichts. Mit der Einschränkung gesagt, dass ich mich mit den EU-Strukturen nicht eingehender beschäftigt habe).
Revolutionäre Politik kann letztlich nur als internationale Strategie erfolgreich sein, und setzt in den Metropolenländern die Bereitschaft voraus, die eigene privilegierte Stellung zugunsten übergeordneter Interessen zurückzustellen.
Sie setzt also eine höhere 'Bewusstseinsstufe' in einer Massenbewegung voraus, als sie aktuell in der Gesellschaft als ganze vorhanden ist.
Dies könnte tatsächlich die Achillesferse in der Theorie der permanenten Revolution sein, auch wenn Rosa Luxemburgs Diktum "Sozialismus oder Barbarei" davon unberührt bleibt.
Die "Kulturfrage" und Europa
Zwar scheint mir eine 'Weltkultur' durchaus möglich zu sein, aber ich bezweifle, dass die kapitalistische Globalisierung diese befördert. Eher scheint im Gegenteil die Globalisierung nationalistische und regionalistische Tendenzen wieder zu bestärken.
Nun gehöre ich nicht zu jener Sorte 'linke', die jede Form von Nationalismus und Regionalismus per se als 'reaktionär' ansehen. Auch ein Begriff wie "Idiotie des Landlebens", wie er sich auch bei Marx und Engels finden lässt, scheint mir eher ein Ausdruck eines gewissen Kultur-Chauvinismus und Kultur-Imperialismus zu sein, als dass er wirklich emanzipatorischen Interessen dient. Zwar kann man ganz allgemein zwischen 'höher' und 'niedriger' entwickelten Kulturen (ob es [universale] Kulturstufen gibt ist schon eher wieder Geschichtsphilosophie) unterscheiden, aber man kann daraus kein Recht ableiten, anderen Kulturen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben. Veränderungsprozesse können bestenfalls von innen kommen, auch wenn es natürlich äussere Einflussfaktoren geben kann (und es sie meistens auch tatsächlich gibt).
Eine 'Weltkultur' könnte nur auf den universalistischen Tendenzen beruhen, wie sie sich im Humanismus, der Aufklärung und im Marxismus finden. Auch in den Religionen lassen sich universalistische Ansätze finden. Aber ein Universalismus benötigt auch immer als Gegengewicht kulturelle Besonderheiten, die viele Ursachen haben können; nicht zuletzt auch die Entscheidung, nach anderen ethischen Grundsätzen zu leben, als es der mainstream vorgibt. Diese Besonderheiten müssen nicht zwangsläufig ausschliessenden (exklusiven) Charakter haben, können ihn aber haben. Auch damit müsste eine universalistische Hauptkultur oder dominante Kultur umgehen und sie integrieren (oder besser: tolerieren) können.
In einem Beitrag vom Deutschlandfunk Kultur über "Warum die Linke die Nation" braucht schreibt Klaus-Rüdiger Mai [09.02.2018]:
"Die Kraft und die Größe Europas kommt aus den unterschiedlichen Kulturen, aus denen sich die Nationen als soziale und demokratische Institutionen gebildet haben. Diese Vielfalt Europas bedingt die Freiheit, denn nur der in seiner Region lebende Mensch kann wirklich frei sein. Der globalisierte Mensch ist lediglich ein Sklave internationaler Finanz- und Wirtschaftsinteressen. Höchste Zeit, eine positive Bestimmung des Nationalstaates und der Nation vorzunehmen."
So ein unkritischer Begriff von "Nationalstaat" und "Kultur" ist natürlich nicht marxistisch, da die Klassenspaltung und die Machtfrage unter den Tisch fallen. Auch der Vergleich mit dem „Sklaven“ scheint mir nur dann berechigt zu sein, wenn es sich tatsächlich um eine kapitalistische Globalisierung handelt. Aber zumindest theoretisch wäre ja auch eine Globalisierung denkbar, die sich nicht aus der Marktlogik ergibt, sondern aus den bewussten und freiwilligen Entscheidungen der Assoziationen der freien Produzenten (also Gesellschaften, die schon weitgehend Klassen- und Herrschaftsverhältnisse überwunden haben).
Nun gut, von solchen Zuständen sind wir weit weg, - um nicht zu sagen: Lichtjahre. Umso wichtiger ist es, sich eine Strategie zu überlegen, die Reform und Revolution stärker verbindet und den tendenziellen Widerspruch zwischen national basierten (Klassen)Kämpfen und Internationalismus zumindest verringert.
Leo Trotzki schreibt in seinem berühmten Essay "Porträt des Nationalsozialismus":
"Der Faschismus entdeckte den Bodensatz der Gesellschaft für die Politik. Nicht nur in den Bauernhäusern, sondern auch in den Wolkenkratzern der Städte lebt neben dem zwanzigsten Jahrhundert heute noch das zehnte oder dreizehnte. Hunderte Millionen Menschen benutzen den elektrischen Strom, ohne aufzuhören, an die magische Kraft von Gesten und Beschwörungen zu glauben. Der römische Papst predigt durchs Radio vom Wunder der Verwandlung des Wassers in Wein. Kinostars laufen zur Wahrsagerin. Flugzeugführer, die wunderbare, vom Genie des Menschen erschaffene Mechanismen lenken, tragen unter dem Sweater Amulette. Was für unerschöpfliche Vorräte an Finsternis, Unwissenheit, Wildheit! Die Verzweiflung hat sie auf die Beine gebracht, der Faschismus wies ihnen die Richtung. All das, was bei ungehinderter Entwicklung der Gesellschaft vom nationalen Organismus [herv. v. mir, systemcrash] als Kulturexkrement ausgeschieden werden mußte, kommt jetzt durch den Schlund hoch; die kapitalistische Zivilisation erbricht die unverdaute Barbarei. Das ist die Physiologie des Nationalsozialismus."
Also selbst der Theoretiker der permanenten Revolution spricht nicht von einer internationalen Staatengemeinschaft oder gar Weltgemeinschaft für die "ungehinderte Entwicklung", sondern vom "nationalen Organismus".
Heutzutage von der Notwendigkeit der "Vereinigten sozialistischen Staaten von Europa" zu reden, verpufft im reinen, abstrakten Propagandismus (auch wenn es theoretisch richtig ist). Vielmehr müsste an den (Lern)Erfahrungen konkreter sozialer Kämpfe aufgezeigt werden, dass nur eine Vernetzung mit den Lohnabhängigen in anderen Ländern zu einer erhöhten Wirkmächtigkeit für ArbeiterInnen-Interessen führen kann (z. B. im Gewerkschaftsbereich). Nur aufgrund solcher konkreten Erfahrungen an praktischer internationaler Solidarität kann der national-bornierte Standpunkt in Sachen Verteidigung sozialer Standards allmählich überwunden werden und ein echter Internationalismus (und eben kein nur theoretischer!) an seine Stelle treten.
Aber man darf sich nichts vormachen: dies kann und wird keine harmonische Entwicklung sein. Die Arbeiterklassen der Metropolenländer haben gegenüber den Arbeiterklassen der Peripherie (materielle) Vorteile, die sie nur dann aufgeben werden, wenn sie dadurch etwas 'Besseres' bekommen (und kann sich auch durchaus in Nationalismus, Protektionismus und Chauvinismus ausdrücken. Der Trumpismus ist nicht nur in den USA virulent). Was dieses 'Bessere' sein soll, diese Frage wird die 'revolutionäre linke' beantworten müssen, wenn sie überhaupt was von 'Realpolitik' wissen will (und sich nicht nur abgrenzen will).
Der Weg dorthin wird allerdings lang und steinig sein und es ist keineswegs sicher, dass er zum 'Erfolg' führt. Aber weder der 'postmoderne' Flügel der 'Linken' noch der (Wagen)knechtische 'Linkskeynesianismus' ist für diese Aufgabe gerüstet.
Eine ganz neue transkapitalistische Organisation muss fast (aber nur fast ;) ) vom Nullpunkt aus erst geschaffen werden. Das ist aber nichts für Leute, die zur geistigen Kurzatmigkeit neigen.