Von Johannes Schillo
Deutschland blickt nach vorn…
... auf die vor ihm liegenden Aufgaben – europäische Aufrüstung, Aufstellung als führende Militärmacht – und nicht zurück. Genauer gesagt, man blickt nach Russland, entdeckt einen Präsidenten, „der zunehmend in Nazi-Jargon verfällt“ (General-Anzeiger, 21.3.22), und damit die eigene deutsche Vergangenheit. Denn: Putin ist der neue Hitler, wahlweise der größte Kriegsverbrecher aller Zeiten, und hierzulande gibt es kaum Kritik an Selenskyjs Diagnose, dass die russische Führung die „Endlösung“ der Ukrainefrage betreibe (FR, 21.3.22).
Russischer Faschismus
Die Zeit (Nr. 12/22) hat tiefer gebohrt und mit Hilfe des US-Historikers Timothy Snyder Bemerkenswertes zur Genese des aktuellen russischen Faschismus zu Tage gebracht. Die zentrale Gestalt ist demnach der russische Philosoph Iwan Iljin (1883-1954), ein strammer Antikommunist, der seinerzeit die orthodoxe Kirche und den Faschismus verherrlichte. „Heute inspiriert er das Denken und Handeln Wladimir Putins… Der russische Präsident bezieht sich seit 2005 in Reden auf ihn. Vor der Annexion der Krim stattete er seine Beamten mit Iljins Aufsatzband Unsere Aufgaben aus.“ Ja, nicht nur der Ukraine-Krieg ist von diesem faschistischen Nationalideologen inspiriert, sondern mit seiner Philosophie in der Hinterhand betreibt Putin allerlei subversive Aktivitäten im Internet und anderswo, so dass „die Krise der westlichen Demokratien und das Erstarken der rechten sadopopulistischen Bewegungen“ hier bei uns letztlich den russischen Manipulationen zuzuschreiben sind (https://www.frankfurter-hefte.de/artikel/der-weg-in-die-unfreiheit-2762/). Ob Trump, ob Brexit oder das generelle Erstarken des Rechtspopulismus in der „freien Welt“ – immer steckt also der Russe dahinter!
Der Hochschullehrer Micha Brumlik dagegen weiß, dass „der Philosoph hinter Putin“ (taz, 4.3.22) Alexander Dugin heißt. „Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine ist es höchste Zeit, Wladimir Putin als einen Revolutionär im Geiste des rechtsextremen Dugin zu begreifen.“ Kein Zufall soll es außerdem sein, dass der Nationalideologe Dugin zu einem Vordenker der Rechtsradikalen in Deutschland wurde, „plädiert dieser doch für eine radikale Umkehr des politischen Denkens, für eine ‚Kehre‘, weswegen er immer wieder auf den – auch hier von der Neuen Rechten hochgeschätzten – Philosophen Martin Heidegger verweist.“ Dugin veröffentlichte 2011 in Russland das Buch „Heidegger: Die Möglichkeit der russischen Philosophie“ und indoktrinierte so laut Brumlik nicht nur Putin, sondern auch deutsche Denker: „Über Dugin hat Heideggers Denken Eingang in die Ideologie der deutschen Identitären gefunden“.
Die Entdeckung des russischen Rechtsextremismus passt auch gut ins Bild, das die hiesigen Medien gegenwärtig vom Krieg in der Ukraine und von dessen nationalen Helden zeichnen. Man kann es nämlich nicht mehr ganz verschweigen, dass sich dort, etwa beim Asow-Regiment, Rechtsradikale heimischer sowie ausländischer Bauart tummeln. Ungerührt wird ja auch hierzulande mitgeteilt, dass um den faschistischen Helden Stephan Bandera ein Nationalkult veranstaltet wird. Von „Bandera-Smoothies“, mit denen der Volkswiderstand Putins Panzertruppen begrüßt, schreibt begeistert die deutsche Presse (General-Anzeiger, 2.3.22). Der ukrainische Botschafter Melnyk legt am Grab des OUN-Faschisten Bandera Blumen nieder etc. pp. Das wird inzwischen schon mal in der deutschen Presse kritisiert (vgl. FR, 22.3.22), die sich bei Kriegsbeginn fassungslos gab, wieso Putin von einer Entnazifizierung der Ukraine sprechen konnte. Jetzt heißt es an die russische Adresse gerichtet: Selber Nazis! Bei euch zuhause gibt es viel mehr Rechtsradikale als in der Ukraine, wo sie eigentlich harmlos, da ins reguläre Militär integriert sind.
Am Erstaunlichsten im Blick auf die deutsche Situation sind allerdings Aussagen von Snyder oder Brumlik, die im russischen Faschismus gleich noch die Brutstätte entdecken, aus der die hiesigen rechten Ableger hervorgegangen sein sollen. Dugin hat Heideggers Denken in die neueste deutsche Ideologie von rechts eingeführt!? War dieser alte Nazi-Philosoph denn hierzulande unbekannt? Fehlt da nicht ein ganzes Kapitel?
Deutsche Philosophie
Brumlik scheint auch ganz vergessen zu haben, was er noch im letzten Jahr veröffentlichte, etwa im Rahmen des „Zentrum Liberale Moderne“ (siehe „Adenauers Geist im Dunstkreis der Grünen“ https://www.heise.de/tp/features/Adenauers-Geist-im-Dunstkreis-der-Gruenen-5054199.html). Dort wurde der neue Rechtstrend in Deutschland seziert, der an ältere, aber in der Nachkriegs-BRD durchaus geschätzte Denker wie Spengler oder Heidegger anschließt. Brumlik entdeckte hier eine bemerkenswerte geistige Kontinuität. Was die neurechten Interpreten mit Heidegger veranstalten, sei kein Missbrauch einer philosophischen Tradition Deutschlands, sondern eine adäquate „Diskursstrategie, die auf völkische Emotionalisierung“ setzt und anstelle „eines aufgeklärten Begriffs menschlichen Fortschritts den heroischen Realismus einer schicksalhaften Bewährung im ‚Eigenen‘ eines nur ethnisch und herkunftsbezogen verstandenen ‚Volkes‘“ präferiert. Eben Seinsphilosophie at its best!
Das war aber nicht Brumliks letztes Wort. In bester neudeutscher Tradition wiederholte er anschließend die bekannte Würdigung Heideggers und zollte den erklommenen seinsphilosophischen Höhen Anerkennung. An Heideggers „Bedeutung für die Philosophie des 20. Jahrhunderts“ darf laut Brumliks Resümee „weder sein Eintreten für Hitler noch seine zuletzt unübersehbar gewordene antisemitische Haltung etwas ändern“. Der ganze Aufwand führte also wieder da hin, wo man im Adenauer-Staat war: Wer wie Heidegger „uralte Fragen der abendländischen Philosophie“ aufgreift, hat uns heute – Faschismus hin oder her – immer noch viel zu sagen. (Vgl. „Heidegger und die Folgen“ Scharf links 13.2.21.)
Hochgeschätzt wird der Faschist Heidegger also nicht nur von Dugin, Putin und Co., sondern auch von deutschen Rechtsradikalen und Professoren wie Brumlik. Übrigens im besten Einklang mit einer westdeutschen Nachkriegstradition, wie jetzt eine neue Publikation von Klaus-Peter Hufer über „Philosophie im Nationalsozialismus“ deutlich macht („Im Auftrag des ‚Volkes‘ und des ‚Führers‘“ https://www.klemm-oelschlaeger.de/). Die deutschen Philosophen wechselten 1933 – von einigen marxistischen und jüdischen Emigranten abgesehen – fast komplett ins NS-Lager. Hufer kann gerade mal drei prominente Ausnahmen benennen, wobei einer der drei „Aufrechten“, der Philosoph Karl Jaspers, nach 1945 entscheidend an der Rehabilitierung Heideggers mitwirkte – wider besseres Wissen. Gemeinsam mit Heideggers ehemaliger Geliebter Hannah Arendt hat Jaspers sich, wie eine neue Studie festhält, „aus einer Haltung der Treue heraus davor gedrückt, der Wahrheit einer Verstrickung Heideggers in das NS System ins Auge zu blicken“ (Ingeborg Gleichauf, Hannah Arendt und Karl Jaspers, 2021, S. 63).
Mit dieser Reinwaschung wurde wesentlich zum Nachkriegsruhm eines bekennenden Faschisten beigetragen. Hufer betont auch die enge Anbindung Heideggers ans faschistische Programm bereits vor 1933, als der schwurbelnde „Philosophenkönig“ mit seinem Opus „Sein und Zeit“ Furore machte. Schon da störte sich Heidegger an der „wachsenden Verjudung“ der Wissenschaft – und der Notwendigkeit eines völkischen Aufbruchs und eines heroischen Realismus in Gegnerschaft zu den Dekadenzerscheinungen einer jüdisch-marxistischen Moderne blieb er auch nach 1945 treu, legte jedenfalls nie ein Schuldbekenntnis ab. Nach einer kurzen, eher symbolischen Pause konnte Heidegger im Adenauer-Staat zu seiner Hochschultätigkeit zurückkehren, übrigens wie fast alle seine Kollegen, denn es gab „nur wenige, die nicht wieder in Amt und würden gekommen sind“, wie Hufer abschließend festhält.
Faschistischer Nationalideologie – in veredelter philosophischer Gestalt und um einige zu offenkundige Nazi-Bezüge bereinigt – wurde also ein ungestörtes „Weiterwirken nach dem Krieg“ (Hufer) garantiert. Das war und ist deutsches Geistesleben bis auf den heutigen Tag. Denselben „nationalideologischen Stuss“ (https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/zeitenwende) kann natürlich auch ein Putin von sich geben. Aber siehe da, wenn er das tut, dann entdeckt der Westen nicht die Gemeinsamkeit, noch nicht einmal – siehe den Fall Dugin – die Ursprünge in der hochgeschätzten deutschen Geistestradition, sondern fremde slawische Einflüsse, die auch noch die eigentliche Triebkraft hinter dem Rechtstrend im freien Westen darstellen sollen.
So ist das aktuelle Feindbild komplett: Putin ist der neue Hitler, der den aktuellen Holocaust in der Ukraine – in Fortsetzung von Stalins „Holodomor“ – zu verantworten hat, während Deutschland Teil – und bald vielleicht führende Macht – der Anti-Hitler-Koalition ist. Dafür muss es sich nur noch von der immer wieder beschworenen, jetzt mit dem Ukraine-Krieg endlich erledigten „Last der historischen Verantwortung“ freimachen. Aber das ist ja mit der „Zeitenwende“ (Scholz) im Grunde schon vollzogen.