Von Niedersächsische Initiative gegen Berufsverbote
Am 28. Januar 2023 jährt sich zum 51. Mal der von den Ministerpräsidenten der
Bundesländer unter Vorsitz von Bundeskanzler Willy Brandt verabschiedete sog.
Radikalenerlass, der vermeintliche „Verfassungsfeinde“ vom Öffentlichen Dienst
fernhalten sollte. Er führte zu einer jahrzehntelangen Verfolgung Andersdenkender, zu Berufsverboten fast ausschließlich für linke und systemkritische Oppositionelle und wirkt bis zum heutigen Tage nach.
In Niedersachsen beschloss der Landtag am 16.12.2016 mit den Stimmen von SPD
und Grünen u. a.:
• „dass die Umsetzung des sogenannten Radikalenerlasses ein unrühmliches
Kapitel in der Geschichte Niedersachsens darstellt und das Geschehene
ausdrücklich bedauert wird,
• dass politisch motivierte Berufsverbote, Bespitzelungen und Verdächtigungen nie
wieder Instrumente des demokratischen Rechtsstaates sein dürfen ...“
Eine Landtagskommission unter der Leitung von Frau Jutta Rübke hat ein Jahr lang
einen Teil der Berufsverbotsfälle aufgearbeitet und dokumentiert. Das war ein
vielversprechender Anfang, es besteht aber noch weiterer Handlungsbedarf.
Sechzehn vom Berufsverbot Betroffene wenden sich nun – sieben Jahre nach
diesem Beschluss – an den Landtag mit Petitionen, in denen sehr eindrucksvoll
dargestellt ist, welches grobe Unrecht und Leid sie durch den sog. Radikalenerlass
erfahren mussten. Ihre Forderungen sind:
• endlich Vorstellung des Berichts der Rübke-Kommission im Landtag und
Diskussion;
• individuelle Rehabilitierung und Entschädigung;
• dazu Einrichtung eines Runden Tisches unter Beteiligung von Betroffenen und
Gewerkschaften;
• keine Neuauflage des sog. Radikalenerlasses für den Öffentlichen Dienst in
Niedersachsen;
• Aufnahme des Themas in die politische Bildung an niedersächsischen Schulen.
Am 27. Januar 2023 um 12.00 Uhr werden Betroffene aus Niedersachsen der Vorsitzenden des Petitionsausschusses, Frau Claudia Schüßler, sechzehn Petitionen öffentlich vor dem Niedersächsischen Landtag übergeben. Bei der Übergabe werden sie unterstützt durch Vertreter:innen der GEW, von Ver.di und
einzelnen Mitgliedern des Landtags.
Hintergrund:
Der sog. Radikalenerlass, auch als „Extremistenerlass“ bekannt, wurde am 28. Januar 1972 von der Ministerpräsidentenkonferenz unter Vorsitz von Bundeskanzler Brandt beschlossen. Auf der Basis von durch den Inlandsgeheimdienst „Verfassungsschutz“ gesammelten Daten wurde daraufhin in den 1970er und 1980er Jahren der Bonner Republik einer Vielzahl von linken Oppositionellen der Zugang zum Öffentlichen Dienst verwehrt. In Schulen und
Hochschulen, aber auch bei Post und Bahn erhielten angebliche „Verfassungsfeinde“ Berufsverbot, die Existenzgrundlage wurde ihnen entzogen. Betroffen waren Kommunist*innen, andere Linke bis hin zu SPD-nahen Studierendenverbänden, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN-BdA ebenso wie Gewerkschafter*innen, Sozialdemokrat*innen und in der Friedensbewegung engagierte Menschen. Es gab bundesweit
• ca. 3,5 Millionen Überprüfungen von Bewerber*innen,
• etwa 11.000 Berufsverbotsverfahren,
• 2.200 Disziplinarverfahren,
• 1.256 Ablehnungen von Bewerbungen und
• 265 Entlassungen.
Auf Jahre hinaus wurde dadurch die gesamte Linke diszipliniert und eingeschüchtert. Eine Vielzahl von Berufsverbots-Opfern hat bis heute erhebliche materielle Nachteile z. B. in der Altersversorgung. Eine Entschuldigung für ihre Diskriminierung als „Verfassungsfeinde“, mit der sie für ihr demokratisches politisches Engagement gestraft und ihre Lebenswege massiv
beeinträchtigt wurden, steht bis heute aus.
Auch gab es in den Jahren 2004, 2017, 2018 und sogar 2022 in Baden-Württemberg und Bayern noch einzelne Berufsverbotsfälle.
Die Praxis der Berufsverbote wurde bereits 1987 von der Internationalen Arbeitsorganisation für rechtswidrig erklärt. 1995 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem höchstinstanzlichen Urteil fest, dass der sog. Radikalenerlass gegen elementare Grund- und Menschenrechte verstößt, nämlich gegen die Artikel 10 und 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Ebenso verletzt er die Artikel 3, 4 und 12 des Grundgesetzes der BRD, den Gleichheitsgrundsatz und das Diskriminierungsverbot, die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des weltanschaulichen Bekenntnisses und die freie Berufswahl.
Viele Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und große gesellschaftliche Organisationen wie z. B. der DGB und die Einzelgewerkschaften GEW und Ver.di treten inzwischen dafür ein,
• dass die Betroffenen des sog. Radikalenerlasses voll umfänglich rehabilitiert und
entschädigt werden,
• die Praxis der Berufsverbote aufgearbeitet und in aller Deutlichkeit als Unrecht
gebrandmarkt wird
• und Bestrebungen zurückgewiesen werden, sie in ähnlicher Form wieder aufleben zu lassen, um demokratiefeindliche Kräfte aus dem Öffentlichen Dienst fernzuhalten.