von Gerd Elvers
unter Verwendung von kubanischer Literatur
Bürgerkrieg in der Mitte der Gesellschaft
Der Mittelstand marschiert in Dresden als „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“. Die Technische Universität Dresden hat den typischen Pegida-Demonstranten ausgemacht, der den üblichen Klischees widerspricht:
„Der Parteilose entstammt der Mittelschicht, ist gut ausgebildet, berufstätig und verdient mehr als der Duchschnittssachse", schreibt die 'Süddeutsche Zeitung' am 11. Januar 2015.
Wenn auch die statistische Basis mit 38 Prozent Antworten auf die Befragungen mager erscheint, so ist allein schon der hohe Anteil der Verweigerer typisch für das Verhalten einer Gruppierung in der Gesellschaft, die sich unter dem Druck der öffentlichen Meinung noch nicht öffentlich als ausländerfeindlich outen will, die aber auf die Stunde des öffentlichen Bekenntnisses wartet. Denn sie glaubt, dass die schweigende Mehrheit in der Bevölkerung auf ihrer Seite steht.
Dies bestätigen andere Untersuchungen. Im Ortsteil der selben Ausgabe der 'Süddeutschen Zeitung' heißt es:
„Laut einer Studie der Technischen Universität München sind 51 Prozent der (Münchener) Bevölkerung stark oder mittelstark muslimfeindlich. Aber auch Homosexuelle und Juden seien Anfeindungen ausgesetzt“.
Die Sozialen Wissenschaften Kubas haben ein Buch des russischen Marxisten Borís Kagarlitski über die Mittelklasse publiziert, die in das Bild eines Bürgerkrieges in der Mitte der westlichen Gesellschaft passt (1). Aus der „Rebellion der Mittelklasse“ ergibt sich:
Die konträren Proteste der Anständigen in Paris und der Guten in Deutschland wie aber auch der bösen Pegida samt ihrer Ableger haben ihre Wurzeln in der Mitte der Gesellschaft und nicht im Rande. Zerrissen im Streit untereinander, beginnt die bisherige Säule des „Abendlandes“ zu wanken.
Existenzielle Angst des Mittelstandes um den eigenen Arbeitsplatz
Dieser „Bürgerkrieg in der Mitte der Gesellschaft“ kommt nicht von ungefähr. Die Mittelklassen - Schicht reklamierte für sich die größte und somit auch die wichtigste in der Gesellschaft zu sein. Sie war bisher die bewegende Kraft der westlichen Gesellschaft („Abendland"), von der sich vieles ableitet, zum Beispiel dass ein Teil von ihr den „Kampf des Abendlandes gegen Gottesstaaten“ aufgenommen hat, was Samuel Huntingtion „the clash of civilizations“ nennt.
Nach Huntington begann der Kampf, weil der Westen den Sieg der iranischen Revolution nicht hinnehmen wollte. Mit ihrem Kampf macht sie sich logischerweise wiederum zum vorherrschenden Angriffsziel des militanten Islam, samt ihrer Ableger aus den Unterschichten im Westen. Diese Verschärfung des Konflikts will ein anderer Teil des Mittelstandes nicht, der sich der Toleranz verschrieben hat.
Der Kern der Krise ist darin zu sehen, dass ein Teil der Mitte nicht mehr wie im „rheinischen Kapitalismus“ das Hätschelkind der kapitalistischen Kräfte ist. Im Berliner Kapitalismus werden große Teile von ihr krisenhaft gebeutelt. Diese Teile haben den Glauben an die vorherrschende Politik verloren, die sie nicht vor den Gefährdungen des radikalen Turbokapitalismus schützt.
So stellt die Gewerkschaft Vereinigung 'Cockpit' zum bevorstehenden Streik gegen die Deutsche Lufthansa fest:
„Das Ziel des Lufthansa-Management ist die komplette Beseitigung der klassischen Tarifstrukturen, … weg von positiver Motivierung der Mitarbeiter hin zu einem System mit existenzieller Angst um den eigenen Arbeitsplatz" (2). Das System jagt die mit hundert Tausend Euro Gehalt privilegierten Lufthansa-Piloten Angst ein.
Die Dresdner Untersuchung besagt:
„Es ist nicht die vermeintliche Islamisierung des Abendlandes, die ihn (den Mittelstand, G.E.) auf die Straße bringt. Vielmehr ist er ganz allgemein unzufrieden mit Politik – dieses Motiv vor allem hat ihn in Bewegung gesetzt“.
Aus der Sicht vieler im Islam – und nicht nur der Gottesstaatler - sind die mittelständischen Vertreter des Abendlandes zur Gänze – und nicht nur Teile von ihr - die neuen Kreuzritter. Diese Meinung ist nicht ganz abwegig. Der Aufstand der Anständigen in Paris gegen Fremdenfeindlichkeit ist heuchlerisch Sie haben zwar nicht direkt in Gaza gemordet, viele lehnen die Politik Israels gegen die Palästinenser sogar ab, diese passive Ablehnung führt aber nicht zu einem aktiven Handeln gegen die Kriegsverbrechen. Allein gelassen von dem ach so toleranten europäischen Mittelstand sehen sich die Palästinenser in ihrer Verzweiflung genötigt, den Internationalen Gerichtshof anzurufen, wissend, dass die USA und Israel besonders schwerhörig auf dem Gebiet der Menschenrechte sind.
Ein Großteil der eineinhalb Millionen, die als Protestler der Noch-Anständigen die Straßen von Paris gefüllt haben, wollen zwischen militanten und „guten“ Moslems unterscheiden, eine heuchlerische Haltung. Denn es war und ist dieser Mittelstand – und nicht nur der bekennende ausländerfeindliche Teil - der seit Jahrzehnten die in Deutschland wie Frankreich faktische Einwanderungsgesellschaft erst wegdefiniert und dann auf die Innere Sicherheit reduziert hat. Heuchlerisch ist auch, dass dem „guten Moslem“ sein Platz im Abendland eingeräumt wird. Der Marsch der eineinhalb Millionen wird am Elend der Banlieues in Paris und Marseille wie in den Flüchtlingslagern in Deutschland nichts ändern. Der Aufstand der Ghettos am Rande Paris 2004 hat nichts gebracht. Die Abschiebepraxis der Flüchtlinge durch die Bundesregierung wird verschärft. Diese verantwortungslose und inkonsequente Haltung führt zum moralischen Bankrott und bildet letztlich den Nährboden dafür, dass sich rechte Kräfte wie Pegida in Deutschland und Le Pen in Frankreich aus dem Mittelstand ihre Stücke heraus schneiden und die alte Mitte ruinieren werden. Vor allem in Frankreich droht, dass aus den heutigen rechten Schmuddelkindern die staatstragenden Kräfte von morgen werden, weil Frankreich sein republikanisches Versprechen auf Gleichheit und Brüderlichkeit nicht eingelöst hat. Mit dem Zerbrechen der alten Mitte werden auch alte Staatsstrukturen weggewischt. Als erstes in Frankreich.
Zentrifugale Fliehkräfte drohen die Mitte zu zerreißen
Was in anachronistischer Weise zeitgleich zentrifugal gegeneinander steht, Protest und Gegenprotest, kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Quer durch die Parteien, am augenfälligsten in der CSU und der Alternative für Deutschland, gehen diese Zerrkräfte, die einerseits an der toleranten alten Mitte festhalten und andererseits in Richtung zur neuen Rechten ziehen. Die alte Mitte hält sich für Globalisierungsgewinner und ist europafreundlich, die Fliehkräfte halten sich für globale Loser und sind europafeindlich. In ihrer Ablehnung ziehen sie das „Ausländische“ mit ein. Wenn die Hälfte der Münchener Bevölkerung – bekräftigt durch die Gräuel der IS - zur Xenophobie neigt, ist das rechtslastige Potenzial riesig. Der Gründer der Alternative für Deutschland, der wertkonservative Wirtschaftsliberale Bernd Lucke, will „seine“ mittelständische Bewegung, die er als sein „Eigentum“ versteht, vorerst von „schmutzigen“ rechtsradikalen Gruppen sauber halten. Der mühsam ausgehandelte Kompromiss zwischen ihm und den Rechten in seinen Reihen um die Macht wird nicht von Dauern sein. Wenn er begreift, dass die „Schmuddel-Typen“ mit ihrer populistischen Ansprache an die niedrigen Instinkte zunehmend in die Ränder des alten Mittelstandes einbrechen, wird er seine Haltung ändern.
Wetterleuchten einer historischen Wende in Europa
Die jüngsten Ereignisse wie Pegida, Muegida, Lepida, Bagida, Paris, Aufstand der Anständigen sind das Wetterleuchten einer historischen Wende, die die bisherigen Mittelschichten weltweit und in Deutschland vor sich her treiben wird, alarmierend für die alten bürgerlichen Kräfte. „München macht mobil gegen rechts“, proklamiert der Stadtrat und versackt in Symbolismen. Wie will er es auch anstellen, wenn die Hälfte der Münchener Bürger von der Ausländerfeindlichkeit angefressen ist, wie die Technische Universität feststellt? Die von einem vereinten Mittelstand getragene Nachkriegszeit ist endgültig zu Ende. Das Neue steht in der Tür und tritt in die Geschichte ein, getrieben durch die Krise des Kapitalismus: Revolution oder Rechtsruck, in extremen Formen. Welchen Weg die bisherige Mitte der Gesellschaft auch gehen wird, nach rechts oder nach links, nichts wird mehr sein wie zuvor. Sie ist dabei, durch die Verschärfung der kapitalistischen Krise aus ihrem bisherigen Stand der Mitte heraus zu „kippen“. Vielleicht treten neue unverbrauchte Kräfte aus dem linken Spektrum auf wie in Südeuropa, vielleicht rettet sich die Mitte über ein Bündnis mit der „politisierten Armut“, nachdem das Tischtuch zwischen ihr und der Oberklasse zerschnitten ist. Ergreift sie nicht die wenigen Optionen, die ihr noch verblieben sind, wird sie aus der Geschichte austreten und verschwinden, wie das Proletariat vor ihr.
In Distanz zur momentanen Aufgeregtheit und um aus den Unwägbarkeiten heraus zu kommen, wollen wir im folgenden einige Analysen anstellen, in welchen gesellschaftlichen Rahmen sich die bisherige Mitte der Gesellschaft bewegt hat und welcher Dynamik sie in Zukunft unterworfen sein wird. Daran bemisst sich, welche Richtung die historische Wende in Europa einschlagen wird. Der mögliche andere Weg ohne dynamischen Prozess, der Weg der Passivität, Lethargie und Lähmung, wie sie die japanische Gesellschaft seit langem vorzeichnet, soll hier ausgeklammert werden.
Das gebräuchliche Wort „Mittelschicht“ verneint Klassencharakter der Gesellschaft
In Deutschland sich mit der „Mittelschicht“ zu beschäftigen, ist ein besonders sprödes Thema. Das fängt schon mit den Worten Mittelschicht oder Mittelstand an. Im deutschen Sprachgebrauch spricht man scheinbar unpolitisch von der „Schicht“, analog zur Geologie. Der Schicht will man das politisch Aufrührende, das dynamisch-Bewegende nicht zusprechen. Eher greift man zur sprachlichen Verbindung mit der Geologie, das in vielen Schichten Abgelagerte, das Abgehangene, das Ruhende. Wie wir aber von der Geologie wissen, ist dem statisch Begrabenen eine innere Unruhe zu eigen, denn die obere Schicht drückt auf die mittlere und diese auf die untere. Die inneren Spannungen entladen sich in Erdbeben. Das Ruhende kann urplötzlich ins Rutschen kommen. Dies passiert in der heutigen Gesellschaft.
International wird eine politische Sprache mit dem Wort „Klasse“ verwendet. Im Deutschen fällt es schwer, der in der „Mitte„ bisher angesiedelten gesellschaftlichen Gruppierung den politischen Stempel „Klasse“ aufzudrücken, was die Sprach- Assoziation von Klasse gleich Klassenkampf gleich Revolution gleich dynamische Gesellschaft nahe legt. So was lag der deutschen Nach-Kriegs-Mitte fern; sie wolle das nicht. Sie wollte ihre Ruhe haben. Seitdem das Finanzkapital und Draghis Billiggeldpolitik ihr das Ersparte wegnimmt, seitdem der Berliner Radikapitalismus ihre Full-time-Jobs zerschlägt, seitdem der ohnmächtige Staat ihre Renten nicht mehr absichern kann, seit Ukraine, Gaza, Syrien international einen wütenden angstmachenden Sturm ausgelöst haben, zerfällt die Mitte in verschiedene Lager. Die am meisten von der Angst Betroffenen lagern ihren Frust auf die Fremden ab. Jahre lang war Mutti Angie in ihrer betulichen Behaglichkeit die seelenverwandte Protagonistin eines intakten Mittelstandes, bis der kapitalistische Marktradikalismus den schönen Schein vom friedvollen Sein zerstörte, begleitet von Putin und der IS. Wenn der Münchener OB Reiter bei der bescheidenen Gegen-Gegendemo vom 13. Januar die alte Behaglichkeit beschwor, war es Ausdruck seiner Hilflosigkeit und seines Abgesangs an die alten bequemen Verhältnisse.
Klasse und Schicht in der deutschen Geschichte
Die unterschiedliche Verwendung von Klasse und „Stand“ (Schicht) ist in Deutschland aus der historischen Entwicklung entstanden. Die mittelalterlichen „Stände“ der Reichsstädte hatten schon ein Verständnis von Mitte. Über sich sahen sie die Fürsten, den Kaiser und die Patrizier, die aus ihren Reihen gewählt waren, unter sich die Handlanger und Bauern. Was ihnen aber fehlte, war das Machtbewusstsein, das aus dieser großen Gruppe die entscheidende Machtfrage gestellt werden könnte. Dieses fiel den Bauernmassen zu, denen aber während der Bauernaufstände im Rahmen der Reformation durch ihre „verzettelte“ Organisation ein entschiedener Machtwille gegen die Fürsten fehlte, nachdem Luther sich auf die Seite der Fürsten gestellt hatte.
In den 40iger Jahren des 19. Jahrhunderts, war es dann die Erkenntnis von Friedrich Engels, aus der Dynamik des englischen Kapitalismus die „industrielle Revolution“ heraus zu lesen, aus der das Proletariat entstand. In diesem neuen „Factory system“ arbeiteten die Schneider oder Weber nicht mehr zerstreut zu Hause, sondern fanden sich in Fabriken zusammen als Orte der neuen kollektiven Arbeit und der gemeinsamen politischen Bewusstseinsbildung, während - aus ihrem Mehrwert genährt - die moderne kosmopolitische Kapitalistenklasse entstand, wie der italienische Marxist Antonino Barbagallo in der kubanischen Publikation „Marx Ahora“ feststellt (3). Das Proletariat kam in der industriellen Revolution nicht aus einer wie immer proklamierten Mitte. Den Anspruch auf sie hatte ein Bürgertum eingenommen, das sich aus den unteren Rängen der Händler und Kleinproduzenten, dem progressiven Teil der Militärkaste, kleinen Junkern und Handwerkern gebildet hatte und das lange unter dem Trauma seiner Niederlage 1848 litt. Das Proletariat – inzwischen in der bismarckischen Volksschule mit Basiswissen ausgestattet - wollte als Industriearbeiter an die Macht von „unten“, vom Boden ehemals gesellschaftlich Deklassierter, die sich bis zu den „Arbeitereliten“ von Facharbeitern hochgearbeitet hatten. Unter ihren klassenbewussten Führern strebten sie ursprünglich nicht in die Mitte der Gesellschaft, sondern wollten als Internationalisten die ganze Macht in der Gesellschaft erobern.
Mit dem Verrat am Internationalismus verliert das deutsche Proletariat seine historische Rolle
In der wilhelminischen Zeit verrieten große Teile des Proletariats und ihre Führer den Internationalismus des kommunistischen Manifestes. Die roten Fahnen wurden 1914 mit dem Kaiseradler auf dem Brandenburger Tor eingetauscht, und mit einem hysterischen Patriotismus der preußisch-imperialistische Siegfrieden angestrebt. Das Proletariat hatte seine historische Rolle auf europäischer Ebene verspielt, mit Ausnahme Russlands (4). Viele „Links-Stehende“ verloren auch die kulturelle Hegemonie. Viele verloren die Achtung vor der eigenen Vergangenheit, empfanden das Wort Prolet als diskriminierend, gefördert durch die Ablehnung der sowjetischen Proletkultur durch das auf die Klassik und eine gemäßigte Moderne eingestimmte „Bildungsbürgertum“ der Weimarer Republik. Nach der Spaltung in Kommunisten und „gemäßigte“ Sozialdemokraten ächteten diese in Gemeinschaft mit der Bourgeoisie die Kommunisten unter ihrem „Proletenführer“ Thälmann, ein Hamburger Hafenarbeiter und Seemann mit angeblich niedriger Bildung (Clara Zetkin): ein Mann Stalins.
Der Rat der Volksbeauftragten unter Friedrich Ebert, Repräsentanten der Nachkriegs-Mitte, der die Macht schon in der Hand hatte, gab sie wieder her, überzeugt über Wahlen die Macht auf parlamentarischem Wege zu erobern, mit Unterstützung des Bürgertums. Ein fürchterlicher Irrtum.
Schon von einem modernen Wahlkampf in der Massengesellschaft haben die Ignoranten nichts verstanden: Das Foto eines fetten Ebert in der Badehose bis zu den Knien in der Ostsee stehend, bestätigte das Bild eines ehemaligen Schusters und beendete diesen Sozitraum, die Macht über Wahlen zu sichern. Seine Nachfolger verstanden mehr von der Macht: Hindenburg, nach außen großväterliche Ruhe ausströmend, nach innen ein feudaler, korrupter Junker. Er machte Hitler zum Reichskanzler, ein Wiener Obdachloser mit gestutztem Bart, dem er Charly Chaplin gestohlen hat, wie dieser meinte, und pomadig eingefetteten Scheitel , der vor dem Spiegel dämonisch-lächerlich Grimassen schnitt für seine Pop-Auftritte auf großer Bühne. Beide trafen mehr den damaligen Geschmack der Massen, letzterer vor allem bei den Frauen.
In der Weimarer Republik hatte sich die neue Schicht der Angestellten etabliert, die zusammen mit dem „Bürgertum“, den die Inflation und die Weltwirtschaftskrise gebeutelt hatte, mit Arbeitereliten und Aufsteigergruppen die neue „Schicht der Mitte“ bildeten, die nach dem 2. Weltkrieg als „Mitläufer“ entnazifiziert wurde. Sie waren den Frontsoldaten gefolgt, die - im Grabenkrieg seelisch zerstört - als politische Desperados aus dem 1. Weltkrieg die Hassprediger bildeten. Der Mythos der Adenauerrepublik besagt, dass der sich über den Krieg hinweg gerettete Mittelstand mit den Kriegerwitwen, den Trümmerfrauen, den Staatsbeschäftigten und den aus der Kriegsgefangenenschaft rückkehrenden Facharbeiter den westlichen Teil der Republik „wieder“ aufbaute. Die offizielle Ideologie des Wirtschaftswunders war der Wohlfahrtsstaat des rheinischen Kapitalismus, unter dessen Schirm sich der wachsende Mittelstand wohl fühlen konnte.
Ein Nachruf auf den verstorbenen Groß-Philosophen Ulrich Beck einmal anders
Der am Neujahrstag 2015 verstorbene Ulrich Beck erhielt in vielen ehrenden Nachrufen das Attribut „größter deutscher Nachkriegs-Denker“, nicht unbedingt wegen der Tiefe seines Denkens, sondern weil der Vertreter der „zweiten Moderne“ sich sich in der theoretischen Absegnung des Wortgebrauchs „Mittelschicht“ an Stelle der „Klasse“ hervor tat. Mit seiner „Enttraditionalisierung der industriegesellschaftlichen Lebensformen, der Entstandardisierung der Erwerbsarbeit sowie der Individualisierung von Lebenslagen und Biographiemustern“ (5) hätte er mit den drei „ung“-Wörtern zwar eine Anwartschaft auf das „Unwort“ des Jahres erringen können, wichtiger aber ist, dass er im Erbe von Helmut Schelsky stand, der mit seiner „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft auf den erneuten und nun endgültigen Abgesang des Proletariats einschwor und den Mittelstand an seinen Platz setzte.
Entschlüsseln wir die drei „ung-Wörter von Beck, so meinte er, dass das alte Proletariat durch die Zerstörung seines traditionellen Milieus, durch prekäre Erwerbsarbeit und unsichere Lebenslagen keine „zweite Chance“ nach der Revolution 1918 erhielt, vom Antikommunismus in der Zuspitzung des „kalten Krieges“ ganz zu schweigen. Seine Stelle als die Basis für politische Aktion im rheinischen Kapitalismus nahm der Mittelstand ein. Insofern trifft der Begriff „Schicht“ im üblichen Sprachgebrauch des Deutschen in begründeter Weise auf den deutschen Reformismus zu.
Definition der heutigen Mittelschicht in der Krise
Wer Mitglied des Mittelstandes ist, besitzt keinen Mitgliederausweis, mit dem er eindeutig zu definieren wäre. Man benötigt einige Kriterien, um ihn unscharf in den Abgrenzungen zu anderen „Ständen“ abzugrenzen. Solche Kriterien sind ein „mittleres“ Einkommen zumeist durch Arbeit verdient, die Ideologie des Konsumismus, aufbauend auf den Liberalismus, der die Säkularisierung voran treibt, eine heterogene Zusammensetzung aus Selbständigen, Handwerkern, kleinen Unternehmern, Facharbeitern und Staatsbediensteten. Sie einigt ein verantwortungsbewusster Familiensinn und die Leistungsbereitschaft.
Der radikale Berliner Kapitalismus spaltet Mittelstand
Die Radikalität des Berliner Kapitalismus ist dabei, diese idyllischen Zustände bei vielen zu zerstören. Ein Riss tut sich im Mittelstand auf. Die kapitalistische Krise erfasst zunehmend größere Teile und macht sie zu Krisen-Betroffenen. Das wachsende Bewusstsein einer unsicheren Zukunft vor allem der Arbeitsplätze nagt am positive Bewusstsein von vielen Betroffenen. Der Glaube als größte Gruppe der Gesellschaft in der „Mitte“ zu stehen, wird zunehmend bezweifelt. Die gesellschaftliche Anerkennung durch den Staat wird im wachsenden Maße vermisst. An den „Treueschwur“ gegenüber Staat und Politik halten sich immer weniger. Der im Mittelstand weit verbreitete Glaube an den Neoliberalismus, der ihn bisher an die Oberschicht band, ist brüchig geworden, seit den Exzessen einer außer Rand und Band geratenen Finanzwelt.
Im Machtblock, der über 70 Jahre die Geschicke Deutschlands mit der „Sozialen Marktwirtschaft“ weitgehend bestimmte, hat sich ein Spalt gebildet. Das Ergebnis ist die Trennung von der kapitalistischen Oberschicht sowie die Spaltung des Mittelstandes, der sich ausweitet, je mehr Krisen-Betroffene es gibt. Der zunehmend gesellschaftlichen Entfernung zur Oberschicht fiel die FDP zum Opfer, deren Funktion, als politische Klammer zu dienen, ausgedient hatte. Der Druck, über Hartz IV aus der Mitte nach unten zu fallen, erzeugt Ängste und xenophobe Wahnvorstellungen. Die Folge: Innerhalb der Mitte beginnt der Bürgerkrieg in Deutschland und la guerre civile in Frankreich und droht die Gesellschaft zu zerreißen.
Exklusivität des Konsums der Reichen dient der Exklusion des Mittelstandes
Dass die Abgrenzungen der gesellschaftlichen Schichten kein zufälliges Phänomen darstellen, sondern einen strukturellen Grund haben, belegt die die klassische Theorie des Konsumismus. Diese Theorie (Thorstein Veblen, Jean Boudrillard, Pierre Bourdieu) geht vom Konsum der Oberklasse aus. Sie entwickelt den Konsum zu einem zentralen Kulturbegriff dieser Klasse, der später auf den Mittelstand übertragen wird. Nach Bourdieu sind der gute Geschmack, das korrekte Denken (correctness behavior) und der gepflegte Ausdruck der Oberklasse Mittel, um sich von den anderen abzugrenzen. Solche aristokratische Eigenschaften kann man nicht durch Fleiß und Aneignung erwerben, wie es das gewöhnliche Bürgertum versucht und daran scheitert, sondern nur aus einem elitären guten Haus erwerben. Ihre Exklusivität dient der Exklusion des Diskurses der anderen Klassen von der gehobenen, wie Luis Antrade in einer kubanischen Publikation schreibt (6). Trivialer formuliert: Die Oberklasse befleißigt sich einer Sprache und eines Verhaltens, was die anderen als Plebejer entlarvt und sie ausschließt, auch wenn sie sich noch so sehr um die Aufnahme in elitär-illustre Kreise bemühen. Bei allem Degout der Oberklasse, die sie gegen die Underdogs hegt, ist sie auf die Mittelschichten als Verbündete angewiesen, weil sie zwar das Kapital nicht aber die Stimmen der Massendemokratie hat.
Über die Bildungs- und Kulturpolitik begrenzt die Mitte die Unterklasse
In den Ländern ist die Bildungspolitik weitgehend – vielleicht mit Ausnahme von Bremen – zur Herrschaft der Mitte verkommen. Dies gilt vor allem für die Gymnasien und Universitäten. Diese kann aus dem Ergebnis der jüngsten Untersuchung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) heraus gelesen werden. „Die sog. Bildungsmobilität in Deutschland ist so gering wie kaum in einem anderen Industrieland“ (7). Weil angeblich der soziale Aufstieg über die Bildung erfolgt, und die Mitte in den Unterschichten eine wachsende Konkurrenz befürchtet, die ihren Zutritt zu den kapitalistischen Fresstöpfen eingrenzen könnte, verficht die Mitte eine Politik der Bildungs-Monopolisierung. Das Ergebnis ist eine – mit Ausnahme des kapitalnahen dualen Lehrlingssystems – niedrige „Bildungsstufe“ in breiten Schichten der Bevölkerung, deren triviale Ansprüche im Kulturellen wiederum als Argument der oberen Schichten dient, sie von dem kulturellen Leben fern zu halten.
Eine exklusive Bildungs- und Kulturpolitik geben sich die Hände. Die trivialen Ansprüche der Massen im Kulturellen dienen dem Bildungsbürgertum als Argument, die Theater und Konzertsäle für sich zu reservieren. Dem deutschen Mittelstand ist es gelungen, die höchsten Subventionsmittel weltweit für sich zu ergattern und für den eigenen Kulturgenuss die weltweit höchste Theaterdichte zu realisieren. Für die Unterschichten bleibt das Privat-Fernsehen. Aber damit nicht genug. Über die Quotenregelungen werden die öffentlich-rechtlichen Anstalten dazu dressiert, den Massen die gewünschte niedrige Unterhaltung anzubieten, die auf diese Weise ihren öffentlich-rechtlichen Auftrag nach gehaltvoller Kultur nicht gerecht werden.
Die kommunikative Rationalität von Habermas funktioniert nicht zwischen den Schichten
Die Exklusion des Mittelstandes durch die ökonomische und intellektuelle Elite und die Ausschließung der unteren Schicht ist Habermas entgegen zu halten, der auf einen individuellen und zugleich die Schichten übergreifenden und einigenden Diskurs setzt. Diskurs ist bei ihm der „Schauplatz kommunikativer Rationalität“. In diesem Sinn ist Diskurs ein argumentativer Dialog, in dem über die Wahrheit von Behauptungen und die Legitimität von Normen gesprochen wird (8). Die Oberschicht verweigert sich aber weitgehend einem kommunikativen Dialog auf Augenhöhe mit der Mitte und diese den Dialog mit der Unterschicht. Diese linguistische Verweigerung, einen echten Dialog intern innerhalb einer Nation zu führen, wird auf die internationaler Ebene gehoben, eine wichtige Ursache für die Existenz von Pegida und AfD. Wenn ich als Mitglied der Ober- und Mittelschicht mich einem Dialog mit der Unterschicht verweigere, warum soll ich sie mit Flüchtlingen führen?
Nicht die der Logik folgende Linguistik, wie Habermas meint, sondern der Handel unter kapitalistischem Vorzeichen ist die wahre Weltsprache. Die zwischenstaatlichen ökonomischen Verflechtungen des Globalismus ist der wahre Schauplatz der Kommunikation. Da die ökonomischen Gewichte zwischen den Handelsnationen sehr unterschiedlich sind und die Gewichtung der „Kommunikation“ bestimmen, gibt es einen argumentativen Dialog auf Augenhöhe nur zwischen gleichgewichtigen Handelsnationen. Erst seitdem die USA und China eine gemeinsame Sensibilität gegenüber dem Klimawandel gefunden haben, ist zum ersten Mal eine - minimale - Voraussetzung für einen politischen Dialog für den Pariser Welt-Klimagipfel im Dezember 2015 zu erwarten.
Soumaya Mestiri: Abstand wahren ohne Differenzen aufzubauen
Was die Abgrenzung bis zum Freund-Feind-Schema verstärken kann, hat die tunesische Philosophin Soumaya Mestiri dargestellt. In einem ersten Schritt konstatiert sie im Einklang mit Habermas, dass die Mulit-Kulti-Vielfalt das „Hören des Anderen“ fördert, bis zum Zuhören, was der andere zu sagen hat. Aus dem Abwägen des Gehörten in Antworten entwickelt sich der Dialog. Sie geht aber einen Schritt weiter als Habermas. Sie unterscheidet zwischen Abstand und Differenz. Aus dem Abstand entwickelt sich eine sprachliche Kommunikation. Sich liebende Paare brauchen keinen Abstand. Sie ziehen das Hautnahe vor und können sich stumm verstehen. Abstand wahren sollte aber nicht Differenzen aufbauen (9). Abstand betont das offene und mögliche „Dazwischen“, während „Differenzen“ Grenzen fixieren und auf fehlende Zugehörigkeit zielen. Differenzierung bevorzugt klare Positionen nach dem „Freund-Feind-Schema.
Im rheinischen Kapitalismus existierte kein gespanntes Verhältnis der Mittel- zur Oberschicht wie heute im Berliner Kapitalismus. Heute hat sich die Situation entschieden geändert. Durch die Ausplünderung eines Teils des Mittelstandes durch die kriminellen Finanzmanipulationen der kapitalistischen Oberschicht, durch den Angriff der Europäischen Zentralbank auf sein Sparkapital durch eine Null-Zins-Politik und das Abwälzen der Pleitekosten auf den steuerzahlenden Mittelstand reagiert die betroffene Mitte feindlich gegen die Oberen. Und wenn sich die Mittelschicht durch Steuerhinterziehungen im Ausland wehren will, wird sie von erbarmungslosen Finanzämtern gejagt und kriminalisiert, wie es Uli Hoeneß passiert ist. Die einst beneidete Finanzwelt ist für viele zur Paria geworden, der man keine Lernfähigkeit zuspricht, weil sie wie eh und je durch maßlose Boni die ihnen anvertrauten Finanzinstitute zu Selbstbedienungsläden macht. Weil der Staat sich ohnmächtig gibt, hat auch er viel Vertrauen verspielt. Misstrauen und Verdruss gegen den Staat nehmen überhand. Im Inneren eingegrenzt, neigt die von der Krise besonders betroffene Mitte dazu, mehr Feinde als Freunde zu sehen, und diese Haltung erst recht auf die „Fremden“ draußen vor den eigenen Grenzen zu übertragen. Die weniger Betroffenen hängen noch an alten Vorstellungen einer Harmonie von Weltoffenheit in der Weltkultur. Diese Ungleichheit von Betroffensein innerhalb der Mitte ist der Grund für die Spaltung und der Grund, dass die Betroffenen gegen die Ausländer Front beziehen, wogegen die von der Krise weniger Betroffenen und daher Anständigen angehen.
Mittelstand: Einheit von produktiver Arbeit und hedonistischen Konsum
Nicht nur über eine Abgrenzung zu anderen Schichten ist der Mittelstand zu definieren, sondern wichtiger noch aus seiner eigenen inneren Triebkraft heraus: dem Konsumismus. Allerdings brauchen wir eine neue - erweiterte - Theorie des Konsumismus. Die Nachfrage nach dem Wellness-Leben macht sein Streben allein nicht aus. Eine komplette Theorie muss an den realen Lebensumständen ansetzen und Arbeit (Leistung), Einkommen und gehobenen Konsum in Bezug zueinander bringen. Ein solcher – mehr marxistischer Ansatz – würde einige theoretische Irritationen vermeiden, da die gesellschaftliche Stellung von Schichten aus der Sicht der Arbeit zu definieren wäre. Erst dann hätten wir eine „abgerundete“ Theorie: einen aus der Arbeit definierter gesellschaftlicher Stand und zusätzlich eine Kulturprägung aus der Art des Konsums. Es ist nicht der „gewöhnliche“ Konsum, der der Subsistenzerhaltung dient, sondern der kulturell „gehobene, hedonistische“, der der Abgrenzung dient und zugleich identitätsstiftend ist.
Verlorener Konkurrenzkampf um den Konsumismus führt zum Untergang des Ostblocks
Der russische Marxist Kagarlitski weist darauf hin, dass alle hochindustrialisierte westliche Staaten noch vor 20 Jahren konventionelle Ähnlichkeiten aufwiesen: ein unter dem staatlichen Interventionismus operierender „gemäßigter“ Kapitalismus, ein bürgerliches System des sozialen Ausgleichs, mit einem Mittelstand, der als Träger einer erlebten Demokratie für Verantwortung, Stabilität und Anständigkeit stand, wenn man von einigen „Entgleisungen“ wie den Afghanistan-Krieg, der Einführung des Turbokapitalismus in Lateinamerika und einigen unschönen neokolonialen Ereignissen absieht. Die Konvertierung der alten Arbeiterklasse in die Mittelschicht lässt sich durch den Konsumismus erklären, dessen Verhaltensmuster an Stelle eines Klassenbewusstsein trat, dessen letzte Ausprägung sich in dem Slogan des DGB findet: „Arbeit muss sich wieder lohnen“ . Diese an sich richtige Formel beinhaltet stillschweigend den Verzicht auf die Forderung nach mehr Freiheit durch Arbeitsverkürzung und mehr Demokratie in den Betrieben.
Der orthodoxe Staats- Sozialismus ließ sich auf einen Wettlauf ein, wer das opulentere Konsumieren bieten konnte, und verlor ihn, weil ihm die materiellen Ressourcen zu seiner Verwirklichung fehlte. Mit anderen nichtökonomischen ethischen Werten den Wettlauf der Systeme zu bestreiten, wie globale Solidarität aller für alle, direkte Demokratie, bürgerliche und soziale Freiheiten, Beseitigung der Ausbeutung von Mensch und Natur dafür fehlte dem „Breschnewismus“ die Phantasie der marxistischen Utopie.
Da das alle Gruppen innerhalb der Mittelschichten einigende Band das „selbst erarbeitete“ Einkommen ist, wird der Mittelstand durch Arbeit definiert. Das war und ist zugleich seine Stärke und Schwäche: Es ist seine Stärke, weil ihm das Selbstbewusstsein inne ist, „aus eigener Kraft“ die Existenz und seine Position in der Mitte zu sichern. Es ist zugleich seine Schwäche, denn bricht die Arbeit als individuelle Leistung weg, kann der arbeitslos gewordene nicht mehr die Normen des Mittelständlers erfüllen. Schlimmer noch: Gerät das Wirtschaftssystem in die Krise, fällt das Gerüst des Konstrukts auseinander und mit ihm die Mitte der Gesellschaft. Die alte Form der kapitalistischen Gesellschaft zerfällt, mit unvorhersehbaren Konsequenzen. Wie die Nazizeit lehrt und Pegida einen ersten Anhaltspunkt bietet, kann die Entwicklung nach rechts ausschlagen. Die Schwächung des Kapitalismus eröffnet aber auch Chancen nach links und nicht zu vergessen wie das japanische Beispiel lehrt: der Weg kann auch in einer ökonomischen und gesellschaftlichen Lethargie enden.
Politisch gespaltene Mittelklasse in den USA
Wegen des weltweit wirkenden kapitalistischen Krisenszenarium ist die Krise des Mittelstandes – in den USA sagt man Mittelklasse – ein globales Phänomen: in China, in Italien, in den USA. Obwohl der Konsumismus weltweit sich durchgesetzt hat, sind seine Erscheinungsformen von Staat zu Staat differenziert zu betrachten. Gemeinsam ist allen, dass sich im Grunde die soziale Lage der Massen seit Engels Bericht über England kaum verändert hat. Die „Mitte“ suggeriert das Einlösen des kapitalistischen Versprechens zu Unrecht. Zwar hat sich insgesamt der Wohlstand vermehrt, dennoch hängt über allen das Damoklesschwert der Sicherheit der Arbeitsplätze, die der Kapitalismus nicht garantieren kann. Selbst In der nach wie vor führenden kapitalistischen Gesellschaft, den USA, die dabei sind, sich durch das Fraktionieren von Öl aus Gesteinsformationen neue Energiequellen zu erschließen, sind nach einer Statistik der FED heute die meisten von einem Einkommen abhängen, das ihnen kaum Erspartes für Gesundheitsfürsorge und Altersversorgung überlässt.
Was aber seit einigen Jahren das politische System so bemerkenswert macht, ist die politische Spaltung der Mittelklasse durch eine sich radikalisierende republikanische Partei. Ein ähnlicher Riss bietet sich auch für Deutschland an, falls die Fundamentalisten von Pegida sich weiter ausbreiten. Zwar hat ein Zweiparteiensystem in sich die Tendenz, dass die beiden Parteien sich vor den Wählermassen profilieren, ohne dass sich die Kontroversen wie in Europa nach einem Links-Rechts-Schema durch das Fehlen einer Linken akzentuieren, doch ist die Schärfe der Auseinandersetzung bedrohlich geworden, da sie das politische System lähmt. Dies scheint Präsident Obama erkannt zu haben, wenn er in seiner Rede an die Nation am 20. Januar 2015 von der nötigen „Stärkung des Mittelstandes“ redet. Wir Linke könnten eine Schwächung der USA in ihrem imperialistischen Gehabe hinnehmen. Man muss aber bedenken, dass von einer USA, die mit radikalen Mitteln ihre Lähmung zu überwinden versuchen, eine größere Gefahr als bisher ausgehen kann. Vom Republikaner Abraham Lincoln, dem Sklavenbefreier und Marx-Anhänger, hat die heutige Partei einen guten Weg nach rechts zurück gelegt (10).
Der Zusammenhalt des tradierten Staatsganzen ist gefährdet, wenn das innere Kraftzentrum im entwickelten Kapitalismus, die Mittelklasse, auseinanderfällt. Da die sozialistische Idee in den USA durch den erfolgreichen „Fordismus“ ausgelöscht wurde, ist die Chance für einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel, fort vom Kapitalismus, in den USA weniger gegeben als in Europa. Die Zuspitzung hat ihren Grund in der Krise der New Economy um 2000 und der Finanzkrise seit 2007. Die Finanzkrise, die aus der Deregulierung des Finanzmarktes durch die ideologische Hegemonie des Neoliberalismus entstanden ist, bedroht die amerikanische Mittelklasse insgesamt. Sie braucht sich nicht zu beklagen, da sie ihren Teil dazu beigetragen hat. Um zu ihr aufzusteigen, verschuldeten sich die ärmeren Schichten über ihre Rückzahlungsmöglichkeiten hinaus. Der Traum der desperate house-wives nach dem genormten amerikanischen Einheitshaus in den Suburbs, aus Holz, ohne Keller und mit geringem Wärmeschutz, ließ sich durch die Immobilien-Haie auf einfache Weise zu bankmäßigen Verbriefungen bündeln, die zur Spekulationsblase und deren Platzen führte.
Die politischen Rezepte zur Krisenbekämpfung sind aber unterschiedlich. Beide Parteien sind dem Neoliberalismus verfallen. Es war der Demokrat Clinton, der die von Thatcher und Reagan eingeleitete Deregulierung weiter fort führte und im Zusammenhang mit der Politik des billigen Geldes der FED den Spekulationsballon aufblies. Während aber die Demokraten im New Deal Erbe von Roosevelt den staatlichen Interventionismus wie mehr Kontrolle des Bankensystems zum Mittel der Krisenbekämpfung machte, sieht der Tea-Party-Kern der Konservativen in der Aufwertung des Staates ein Werk des Teufels, ebenfalls aus ihrer Tradition heraus, den Westen mit Schießeisen freier Männer besiedelt zu haben, bevor der Staat auftrat und die Grenzen für die einzelnen Staaten bis zur Pazifikküste mit dem Lineal auf der Landkarte zog.
Der chinesische Mittelstand beraubt in Kumpanei mit der Partei die Bauernschaft
In China existieren keine strukturierte Formen von Interessengruppen. Alles ist der Kommunistischen Partei unterworfen. Ebenfalls fehlt es an einer unabhängigen Jurisdiktion, die störend in das Getriebe eingreifen könnte. Man könnte meinen, in einem solchen Staat mit klaren Zuständigkeiten sind die Regeln eindeutig, die Gesetze der Volksversammlung unter dem Mandat der Partei zur Entwicklung der Gesellschaft werden befolgt, es herrscht Ruhe und Ordnung im Reich der Mitte, um des Zieles einer planvollen Entwicklung im Interesse der Gesamtheit willen. Das Gegenteil ist der Fall. Mit der Einführung des Kapitalismus unter der Führung der Partei entstehen gewollte Gruppen von Millionären und Milliardären, die weitgehend unkontrolliert „das Geld sprechen lassen“, wie ein chinesisches Sprichwort sagt. Korruption und illegale Machenschaften sind die Folge. Und die Parteikader stehen nicht daneben oder über den Dingen, sondern sind vor allem auf provinzialen und lokalen Ebenen ökonomisch involviert, um sich zu bereichern. Bauern werden für Bauprojekte um ihr Land gebracht, Revolten werden mit gemieteten Schlägertrupps niedergeschlagen. Dahinter stehen weniger die Reichen und Superreichen als Projekttanten von Bauerwerbsland für den Mittelstand.
Gemäß der offiziellen chinesischen Entwicklungsleitlinie soll die Kumpanei mit dem Kapitalismus über Exporte so viel Wachstum generieren, dass 600 Millionen arme Bauern in den industriellen Wohlstand integriert werden und die übrigen 100 Millionen auf größeren Flächen eine moderne Agrarwirtschaft entwickeln. Dieser Plan erscheint ohne Alternative zu sein. Aber sein Vollzug stößt auf den Widerstand der inzwischen entstandenen Mittelklasse, dem die Parteikader nicht entgegenstehen, weil sie selber zumeist aus der Mittelklasse kommen und ihre Werte in die konkrete Kaderarbeit – zumeist wohl unbewusst – mit einfließen. Im konkreten Fall heißt das, dass die Devisen aus Exporten nicht erstrangig den Bauern zugute kommen. Die Devisen konsumiert die Mittelklasse für Importe ihres Bedarfs, und wird folglich der Entwicklung der Landwirtschaft vorenthalten.
Audis Mittelklassenwagen – globale Kooperation zwischen chinesischer und deutscher Mittelklasse
Der kapitalistische Handelsaustausch ist der wahre Diskurs im Globalismus und nicht die linguistische Kommunikation über den Dialog, wie Habermas meint. Gut lässt sich dies im Autohandel belegen. Die Flottenpolitik der westlichen Automobilkonzerne entspricht der Kaufkraft der angesprochenen Kundschaft. Groß- Mittel- Kleinwagen spiegeln in etwa die Kaufkraft der gesellschaftlichen Schichten wieder, die als Kunden in Frage kommen, also der unteren- mittleren und oberen Schichten. Max Weber, der es bis zum stellvertretenden Sanitätsoffizier in der Münchener Etappe schaffte und somit sein Überleben vor der „Blutmühle“ des 1. Weltkrieges sicherte, würde sich der wundern, wie die Autobauer seine Theorie der sozialen Klassen für ihre Verkaufsstrategien nutzten. Die Autokonzerne halten es für eine Selbstverständlichkeit, von „Mittelklassen“-Wagen zu sprechen. Audi versteht darunter die Klassen A3 oder A4. Diese wurde anfänglich für den deutschen Markt entwickelt, also für die deutsche Mittelschicht.
Sprachlich aufgemotzter Mittelstands-Modernismus ohne sachlichen Inhalt
Aus der Werbung des A3: „Wie wäre es, wenn Technologie intuitiv zu bedienen wäre? Wenn puristisches Design auf innovative Funktionalität treffen würde? Wenn Sportlichkeit und Fortschritt eins würden? Wir haben die Antwort gefunden: mit dem Audi A3. Das Design spricht eine einzigartige Sprache, die Dynamik beeindruckt auf jeder Fahrt. Und der Innenraum vereint Ästhetik mit intuitiver Funktionalität. Erleben Sie unseren Vorsprung in Fahrzeugen, die weiter voraus sind“. Um den ganzen Reiz dieser Sprache nachzuempfinden, ist es empfehlenswert, diese Sätze lautmalend über die Zunge schmelzen zu lassen.
Es ist kein Zufall, dass das deutsche Produkt Gefallen bei der chinesischen Mittelklasse findet. Es entspricht nicht nur deren Geldbeutel, sondern – was genauso wichtig ist – auch deren kulturgeprägten Geschmack. Der Audi A 3 schafft genügend Distanz zu den Kleinwagen, was für das Prestige der Mittelklassen in Deutschland und China wichtig ist.
Solidarische Mittelklassen vereinigt Euch!
Die sich zur Mittelklasse hoch gearbeiteten Chinesen teilen die Einstellung ihrer deutschen Klassenkumpanen, was die Sorgsamkeit der Bearbeitung, Zuverlässigkeit, Verbindung von modernen Design mit Sportlichkeit, also dem Stilempfinden von Autos angeht. Seitdem die Parteispitze – gemeinsam mit den USA – auf einmal klimabesorgt ist, weil ihre „Prinzen“ trotz der Abschottung im Pekinger Regierungsviertels nahe dem Kaiserpalast an Bronchitis erkranken, darf auch ein bisschen die „energiesparende Show“ ablaufen, was durch den Sprit-Mehrverbrauch der größeren Wagen für die Mittel- und Oberklasse gegenüber kleineren Ausführungen wieder wettgemacht wird. Die „sprachlich aufgemotzte Moderne“ eines 3er wirft genügend Stilprägung ab, um ihre Käufer von den armen Kaufgruppen der Kleinwagen abzugrenzen. Zugleich ist für die Oberklassen beider Staaten mit Mercedes genügend Distanz zur Mitte geschaffen. Man sieht: alle sind dem gleichen kulturbildenden System ausgeliefert: dem kapitalistischen Internationalismus der Mittelklassen. „Solidarische Mittelklassen vereinigt Euch!“
Nur eines ist anders: Deutschland ist ein hochindustrialisiertes Land mit einer hocheffizienten Landwirtschaft mit einem geringen Anteil an Bauern, China will diese Stufe erst noch erreichen. Ein abgerüsteter Mittelklassenwagen deutscher Produktion ohne viel Schnick-Schnack könnte als ein billigerer Wagen in China die gleiche Dienstleistung erbringen - ohne den Prestigeprotz . China könnte das so an Devisen Ersparte dem staatlichen Fonds für die Entwicklung der armen Bauernschaft zur Verfügung stellen. Dem stellen sich aber die Parteicliquen der entsprechenden Ebenen in Erwartung von Dienstwägen gemäß ihrem Stande und die entsprechenden privaten Käuferschichten entgegen. Daran wird auch nicht der laufende Antikorruptionskampf etwas ändern. Die Vergeudung von Volkswohlstand geschieht im Rahmen der Gesetze. Eine Erhöhung der Importzölle zur Finanzierung des staatlichen Entwicklungsfonds brächte nichts, da dann die Käuferschichten wegbrächen. Außerdem folgten einer Erhöhung der Zölle durch China Sanktionen der EU. Der „Zeitgeist“ im Kapitalismus schlägt den umgekehrten Weg an: weitere Senkung der Importschwellen über TTIP.
Das Toskana-Haus, ein Beispiel der deutsch-italienischen Homogenität des Mittelstandes
Während die Oberklasse, die Millionäre und Milliardäre, in Deutschland im Verborgenen leben, so dass selbst bei ihrem Tod die stets neugierige Presse wenig zu berichten weiß wie bei dem reichsten Mann Deutschlands, Karl Albrecht, dem Gründer von Aldi, bestimmt sich der soziale Status im globalen Mittelstand nach Mindeststandards, nach dem, was man sichtbar nach außen repräsentiert: Haus und Wohnungseinrichtung, Reisen, Schulstandards der Kids….. In deutschen Landen macht sich ein viereckiger Kasten breit, genannt das Toskana-Haus, offensichtlich beeinflusst von der hedonistischen rot-grün-Partei-Kaste der „Toskana-Fraktion“, die ihre Zweitwohnungen um Siena und Florenz gebaut hat. Die gepflegten und kultivierten Wein-Hügel der Toskana – der Inbegriff von Genuss und Kultur, von Schönheit, Kunst und raffiniertem Lebensstil.
Besonders im angeblich traditionsbewussten Bayern wuchern diese ihrer Heimat entrissenen italienischen „Kulturexporte“, während die letzten bodenständigen „Jurahäuser“ um Eichstätt mit ihren Schieferdächern abgerissen werden, wogegen das Lamentieren der wahren Kultur-Konservativen gegen die bornierte CSU-Kulturherrschaft wenig ausrichten kann (10a). Das Toskana-Haus ist in seiner prägnanten Form kostenmäßig in vielen Preisklassen variabel gestaltbar. Die billigere Bauausführung kann – von weitem - den Schein des Gehobenen erzeugen. Die teureren Toskana-Häuser werden von ihren Bauherren mit einem Zypressen-Garten umgeben. Dabei wird ihnen nicht bewusst sein, dass Zypressen in der ausklingenden deutschen Romantik (Symbolismus) in den Gemälden von Arnold Böcklin wie die „Toteninsel“ oder die „Villa am Meer“ die düstere Stimmung von Tod ausstrahlen.
Das alltägliche Grauen im kollektiven Konsumterror und der Individualismus der Postmoderne
In Deutschland führte der gleichförmige Kaufzwang zu den bekannten Entartungen, die das alltägliche Grauen im Kulturellen ausmachten, das aber über die Jahrzehnte sich wandelt. Während der Wohnstil der 50iger Jahre der Eltern- und Großelterngeneration schon einen angestaubten Museumswert erlangt hat, kann man die gestrige Mittelstands-Wohnkultur folgendermaßen beschreiben: das „deutsche Schlafzimmer“, dessen Betten von neckischen Schlafkästchen und pompösen Schränken mit Riesenspiegeln umstellt sind; die deutsche Schlafkultur, die von unzähligen Matratzengeschäften bestimmt wird, die deutsche Einbauküche, auf Hochtech getrimmt, die die Hausfrau zur Austronautin macht oder zur Ärztin in einem messing-blank geputzten Operationssaal, das deutsche Wohnzimmer mit seiner plüschigen Couch, auf großen persischen Teppiche als Staub- und Milbenfänger, der riesige Flachfernseher, der eine revolutionäre Umstellen der Möbel erzwingt, die deutschen Garagen mit dem raumverzehrenden Herrschaftsanspruch zur Straßenfront.
Das Missgestylte des schlechten Geschmacks hat seinen Sinn. Das Kitschige sind schnell identifizierbare Symbole, dass man dazu gehört und dazu gehören will. Die Möbelindustrie ist wie bei allem Modischen an einen schnellen Wechsel interessiert, des Umsatzes wegen. Momentan dringt ein sich nüchtern gebender Pseudo-Bauhausstil vor. Und da wird es schwierig. Denn jede neugegründete Jungfamilie will das Neueste. Mit dem Neuesten wird das Ältere zum Unmodischen entwertet. Der gebildetere Teil der Mittelschicht macht den alten Unsinn nicht mehr mit und steigt aus, um sich – wie auf der neugeschaffenen Seite der SZ unter der Rubrik „Stil“ in einen neuen Unsinn zu verirren (11): Aus alten Holzpaletten, die „von der Ladefläche eines Lasters gefallen sind“, wird der letzte Schrei der Möbelindustrie gezimmert: Stühle, Kommoden, Bettgestelle, und fertig ist der Studentenfuton mit dem Charme der Arbeiterklasse. Der Ausstieg selber, die Loslösung vom Alten, wird zum Markenzeichen der neuen Mitte, als Teil der Selbstinszenierung. Man steht souverän über dem Alten. Aber hinter dem Wechsel steht nicht allein der Ausstieg aus der alten Mitte, sondern es fehlen zunehmend die Moneten. Es geht um Budget-Umschichtungen innerhalb des Mittelstandkorbes, dessen Zusammensetzung und Preisindex von dem Nürnberger Institut für Konsumforschung erfasst wird.
Das Faszinosum der Mitte bedingt das Reaktionäre
Der Mittelstand beansprucht in seiner Wortzusammensetzung etwas unwiderlegbar Positives: Er „steht“ in der „Mitte“. Als aufrecht Stehender, behauptet er die zentrale Stellung gegenüber den „Randständigen“. Mit der Definition der Mitte der Gesellschaft sind anderen Schichten in ihrer Position festgelegt, die Oben und Unten, während die Linken und Rechten nach ihren parteiorientierten Strömungen eingestuft werden. Beim Wort „Mitte“ entsteht halluzinativ eine imaginär-atavistische Assoziation, die ihre Wirkung nicht verfehlt: die konzentrischen Monolithenkreise von Stonehenge. die eine religiöse Faszination ausstrahlen, das um die Sonne kreisende Planetensystem oder die aus dem Mittelalter kommenden Mauerringe von Nürnberg, Nördlingen, Rothenburg oder Dinkelsbühl, die Schutz und Geborgenheit versprachen. Mitte, Familie und Heimat entspringen – noch - dem wohlig-anheimelnden Gemütszustand, den Mutti Merkel als Gütesiegel ihrer Politik gepachtet hat, und Wellness-Hotels dem gehobenen Mittelstand anbieten.
Aus solchen plakativen Bildern entsteht der Eindruck, als ob die Mitte der Gesellschaft diese zur Gänze trägt. Allein auf sich gestellt, vermögen die oberen gesellschaftlichen Ränge nicht der Mitte die Richtung vorzugeben, auch wenn sie scheinbar und zeitweise die Macht haben. Dazu brauchten und brauchen die Herrschenden eine Legitimation der Mitte in den verschiedenen historischen Ausprägungen: religiöse, aus der Tradition gegebene oder über einen Gesellschaftsvertrag, der die da Oben und die Mitte in ihren Relationen zusammen bindet, aber anders als es die Philosophen der Aufklärung, Thomas Hobbes oder Jean Jacque Rousseau, in dem souveränen Willen des Volkes gesehen haben.
Die einsichtige Freiwilligkeit des Mittelstands im kapitalistischen System löst sich auf
Lange bestand die Anerkennung der Geltung des kapitalistischen Systems in einer „einsichtigen Freiwilligkeit“ der Mittelschicht. Diese Haltung ist dabei sich aufzulösen. Real galt und gilt die erzwungene Unterwerfung der Arbeitenden in vertragliche Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital, zwischen Staat und seinen Bediensteten. Die Untergeordneten hatten und haben die Einsicht, dass sie ohne das Eingehen auf ungleiche vertragliche Beziehungen im vorherrschenden Machtsystem nicht ihr Leben fristen können. Aus dieser Einsicht in die Notwendigkeit kommt ihre Freiwilligkeit, die allerdings auf der Voraussetzung aufgebaut ist, dass die andere Seite ihre vertragliche Verpflichtung einhält, Arbeitsplätze bereit zu stellen, die der Mittelklassengesellschaft ein ansprechendes Leben ermöglichen.
Wenn es im Einzelfall zu Entlassungen kommt, und genügend Ersatzarbeitsplätze zur Verfügung stünden, läge dies noch im Rahmen der vertraglich akzeptierten Konkurrenzen des Marktsystems. Im Fall einer umfassenden ökonomischen Krise allerdings und im Fall prekärer Arbeitsplätze, die kein lebenswertes Sein mehr ermöglichen, bricht die Kapitalseite ihren Vertragsteil – aus der Sicht des Mittelstandes, der in seiner Existenz gefährdet ist. Es muss nicht zur absoluten Krise kommen. Allein schon die Angst um den Arbeitsplatz kann einen ähnliche Schock auslösen. In diesen Fällen sieht sich die Mittelschicht von ihren vertraglichen Bündnissen mit dem Kapital befreit. Die Krise hat sie – ohne ihr eigenes Zutun - von ihrem alten Leben getrennt. Vorübergehend gewinnt sie eine neue Souveränität in ihrem Handeln. Sie müsste sich aber schnell neu entscheiden, bevor der Zerstörungsprozess sie auseinander reißt und als Klasse handlungsunfähig macht.
Der Kapitalismus verformt den volonté générale
Die Realität des vertikalen, hierarchischen Kapitalismus verformt das Ideal der volonté générale. Wenn die Volkspartei CDU/CSU die „Mitte“ mit aller Kraft behaupten will, und die Volkspartei SPD mit aller Kraft die „Mitte“ erringen will (was ihr trotz aller Kotaus noch nicht gelungen ist), folgen sie der Erkenntnis, dass in der aktuellen Demokratie am besten mit der Mittelschicht die Machtfrage entschieden wird, ohne zu sehen, dass große Teile sich im Auflösungsprozess befinden. Das Gezerre um die Mitte führt dann zu Begriffsbildungen wie „Mitte-Rechts“, womit die „Mitte-Links“ der anderen Seite einen verdächtigen Rechtstrend unterstellt, wie bei der sich am Ende des Jahres 2014 zuspitzenden Auseinandersetzung um die Immigration von Ausländern (Gerhard Schröder). Eine nicht ungefährliche Wortspielerei, weil von der SPD dem alten Zentrum unterstellt wird, nach rechts zu wandern, um in Trüben zu fischen. Darauf käme dann von der anderen Seite die Unterstellung, dass die SPD darauf spekuliert, den freiwerdenden Mittelplatz selber zu besetzen.
Solche Wortspielereien sind gefährlich, denn wo bliebe dann die Einheit der Demokraten, um vereint gegen die Xenophobie in der Bevölkerung vorzugehen? Auf diesem Weg kommt man den Weimarer Verhältnissen einen Schritt näher. Die um das „soziologische Zentrum“ herum horizontal gegliederten linken und rechten Partei-Formationen allein können heute nicht regierungsfähig werden. Die Grünen, die in Hessen und über ihren baden-württembergischen Ministerpräsidenten auf Länderebene an der Macht sind, streben energisch zur kapitalorientierten christlichen Mitte an den Futterplatz der Macht auf Bundesebene zu kommen. Sie ahnen noch nicht, dass sich die alten politischen Kraftzentren in Auflösung befinden.
Die spießbürgerliche Mitte der DDR und Sandkastenspiele
Und selbst viele in der Linkspartei, deren Ostteil noch vor kurzem zwar nicht dem Proletariat aber immerhin einer „Arbeiterpartei“ verpflichtet war, suchen die Mitte, im Glauben, ihre Koalitionsfähigkeit auf Bundesebene damit belegen zu können. In der DDR gab es zwar keine kapitalorientierte Mitte, sehr wohl aber eine machtorientierte, wie die mittlere Funktionärsschicht vom Kaliber eines Modrow, die Kulturschaffenden und Rechtsanwälte mit weitgehend staatstragenden Funktionen, ohne die das Politbüro nicht hätte herrschen können. Die genormten Plattenbauten als neue städtische Zentren beherbergten eine an westlichen Maßstäben gemessene untere Mittelschicht mit einem erzwungen bescheidenen Konsumanspruch, die ihre Spießbürgerlichkeit in ihren Schrebergärten ausleben konnte.
Nicht nur um koalitionsfähig zu werden, verfolgt Gysi seit 25 Jahren seinen Traum, Selbständige und kleine Unternehmer in die Partei aufzunehmen. Er sieht in ihnen eine Bereicherung des Personals seiner Partei. Mit der Auflösung der alten Mitte werden alle diese Sandkastenspiele obsolet. Bei der nächsten Bundestagswahl 2017 haben wir es mit einer anderen Republik zu tun als noch heute. Pläne zerrinnen, dass die SPD als Mehrheitsmacher ins Boot einer rot-rot-grünen Koalition steigt. Dies liefe nicht nur auf eine weitere vertiefte Spaltungen in den Volksparteien hinaus, die politisch den alten Mittelstand repräsentieren, sondern das Umkrempeln des alten Mittelstandes schafft völlig neue Bedingungen für wahlarithmetische Spielchen.
Vollendung der Wiedervereinigung mit Eintritt der alten DDR-Mitte in den heutigen Mittelstand?
Für die Linke ergibt sich ein zusätzliches Dilemma. Das Gros ihrer Mitglieder aus dem Osten, aber auch aus dem Westen kann man zwar ökonomisch als Unterschicht klassifizieren. Diese aus der Einkommensstatistik zutreffende Einordnung sehen die Ostler aber als Abqualifizierung ihrer Stellung in der Gesellschaft an, strebt doch ein Teil der Arbeitenden zu nichts anderem, als in die Mittelschicht sich eingliedern zu können, die sich in Auflösung befindet - ein anachronistischer Vorgang. Das Streben zur endgültigen Wiedervereinigung erweist sich als Chimäre. Das trifft auch auf die Motivation der Hälfte der Hartz IV Bezieher zu, die bei der letzten Bundestagswahl von der Linkspartei zur Mittelstandpartei CDU wanderten. Die Westler in der Linkspartei werden sich bestätigt sehen. Den „arroganten Linksradikalen und Intelligenzlern“, widerte - als Erben des 60iger-Aufstandes- schon immer die Anbiederung an das Bürgerliche an. Sie suchen eher die Solidarität mit den Armen der dritten Welt und in Deutschland.
Das Phantom der Politik
Bei der Suche nach der Mitte tritt ein Dilemma für alle auf: Nicht nur, dass es bald nicht mehr die klassische Mitte geben wird. Schon heute fehlen die Mittelstandvertreter als legitimierte Ansprechpartner des Ganzen. Mittelständische Organisationen gibt es etliche, aber bei näherem Zuschauen entpuppen sie sich als Lobbyisten aus den „gehobenen Ständen“ wie Berufsverbände, die ihre partiellen Interessen gegenüber der oberen Klasse und den Staat vertreten wollen, die Corporate Class der Eigentümer und Leiter der Kapitale. Solche finanzielle Sonderbegünstigungen rufen den Neid der Zukurzgekommenen hervor. Die Mittelstandvertreter in den Parteien fristen ein kärgliches Leben, weil die Parteispitze selbst den Anspruch erhebt, ständig und immer für die Mitte zu stehen.
Habermas Utopie des internen Dialogs und Disputs findet im Mittelstand Rückhalt innerhalb der deutschen Gesellschaft. Nach außen spricht die Kommunikation des kapitalistischen Warenhandels, im Innern die Linguistik. Der permanente Diskurs dient dazu, die divergierenden Berufsgruppen zusammen zu halten. Die verschiedenen Gruppierungen werfen sich ständig neue Bälle zu: Von dem Tod auf Verlangen, springt die Thematik auf die schwarze Null, von ihr geht es weiter zu den Steuerhinterziehungen – ein besonderes Thema der Betroffenen des gehobenen Mittelstandes. Das liebste Thema ist aber die Steuersenkung. Zu hohe Spitzensteuersätze beklagt der obere Mittelstand, Beseitigung der „stillen Progression“ fordert der untere Teil. Es findet ein ständiges Gemurmel statt, aus dem sich die professionellen Mediatoren der Politik, der Medien wie Talk-Shows und Politmagazine das ihre an Thematik auswählen, sie mit heißer Luft aufblasen und platzen lassen.
Die Kontroverse von Ratzinger und Habermas um die Entleerung der Moral
Eine besondere Rolle scheinen dabei die Kirchen und ihre mittelständischen Vertreter zu spielen. Sie haben begriffen, dass das „Schlachtfeld des Säkularisierungsprozesses“ hauptsächlich im Mittelstand stattfindet. Sie erkennen, dass das Mittelstandleben sich von Werten jenseits des Konsumismus entleert hat. Sie finden aber keinen rechten Weg der Ansprache, weil die Modernität in der Postmoderne Heilsbotschaften entgegensteht. Mittelstandkids würden sagen: „Religion? Wie uncool!“ Wie träge Tanker drängeln sich die Kirchen in das wabbelnde Gebrodel und versuchen ihre christliche Botschaft und Ethik schwerhörig Gewordenen nahe zu bringen. In den protestantischen Reihen sind besonders viele mittelständige Sowohl-als-auch-Vorbeter: „Marktwirtschaft ja – Neoliberalismus nein“ zu finden. Dabei sticht die ehemalige Alkoholikerin Margot Käßmann besonders hervor. Die begnadete Moderatorin und Botschafterin für alle Lebensfragen des Mittelstandes hat - neben ihren Kommentaren in der Bild-Zeitung - sich zur Aufgabe gemacht, in den 500-Jahr-Feiern von Martin Luther von dessen Rolle als Bauernschinder und Judenhasser abzulenken. Für einen hohen Nachrichtenwert unter Mittelständlern ist für die nächsten Jahre gesorgt.
Ernsthafter, weil grundsätzlicher war eine Streitdebatte zwischen dem Noch-Kardinal Ratzinger und dem sich agnostisch, liberal-sozialkritisch gebenden Habermas am 19. Januar 2004 in der Katholischen Akademie Bayerns, die in der kubanischen Monatszeitschrift Temas 2013 der Jesuit Pablo Mell Febles neu kommentiert hat (12). Beide sind sich einig, dass die globalisierte kapitalistische Gesellschaft eine moralische Leere in den Individuen schafft, die der Konsum nicht füllen kann. Es existiert ein Defizit an einem solidarischen Miteinander. Habermas, der der Intellektuellen-Zunft entspringt und dem See-Dunst - nicht dem Geist - seines Millionärswohnsitzes am Starnberger See ausgesetzt ist, verficht die liberale These, dass die negative Freiheit, die „Freiheit von…“, das Leben des Individuums und seine Privatheit garantiert. Ratzinger betont die positive Freiheit, die „Freiheit für… „. Aus dem Naturrecht ergibt sich in jedem Menschen seine inhärente Würde, die in den Menschenrechten seinen Ausdruck findet. Es fehlt die Motivation für das soziale Handeln, die kollektive Solidarität. Den daraus postulierten Anspruch Ratzingers für seine Kirche monopolistisch diese Lücke auszufüllen, lehnt Habermas ab.
Er setzt an dessen Stelle darauf, dass die „bürgerliche Solidarität“ aus seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ kommt, d.h., dass die Bürger im Dialog mit sich selbst mehr Solidarität organisieren. Als mögliche Quelle der Vernunft sieht er die Kommunikation zwischen Menschen, insbesondere die in der Form der Sprache. Die Kommunikation funktioniere jedoch nur dann, wenn sie ihre Prozesse vernunftorientiert organisiert. Dies wiederum bedeute, dass die Teilnehmer des Sprechaktes darauf verzichten müssen, Wirkungen im Sinne perlokutiver Sprechakte erzielen zu wollen, solange das, was sie kommunizieren, auch begründbar und kritisierbar bleiben soll. Perlokativ heißt, manipulativen Einfluss über das Medium Sprache zu nehmen, über die inhaltlichen Tatsachen hinaus.
Kritisch ist gegen Habermas einzuwenden, dass sein Kommunizieren sich auf Individuen begrenzt und die Schichten ausblendet. Wie schon dargestellt wurde, findet zwischen den gesellschaftlichen Schichten nur dann Kommunikation statt, wenn Bündnisse über gemeinsame Interessen zwischen ihnen geschlossen sind, wie früher zwischen der Ober- und Mittelschicht. Heute sind diese Ebenen weitgehend sprachlos geworden, während mit der Unterschicht selten kommuniziert wurde. Diese rigorose Differenzierungen betreffen die Sprache, die Medien wie Zeitungen und das Fernsehen, das Wohnen, das gesellschaftliche Miteinander, das nicht stattfindet, bis zur Wahlverweigerung der Unterschicht.
An Stelle der Unterschicht tritt der „Block der Armen“
Während die Oberschicht sich von den anderen abkapselt und Blockade betreibt, die alte Mittelschicht sich in revoltierende Globalgegner und kosmopolitische, europafreundliche Globalfreunde aufspaltet, unterliegt die Unterschicht einer Metamorphose von historischer Dimension. Nachdem das Proletariat einschließlich Subproletariat sich schamvoll aus der Geschichte „negiert“ hat, beginnt die Unterschicht, die ihren Platz eingenommen hat, sich zu revitalisieren. Es sind der französische Ökonomen Thomas Pikatty und andere, die die Diskussion um die wachsende Ungleichheit zwischen Reich und Arm angeregt haben. Das Ergebnis ist eine neue Schicht, die – vorerst nur verbal-begrifflich - im Entstehen ist: „die Armen“.
Mit dem „Block der Armen“ - wenn wir hier einen Begriff von Antonio Gramsci aufnehmen wollen - entsteht europaweit ein politisches Wesen, das es zahlenmäßig mit dem Mittelstand aufnehmen kann, wenn ihm auch noch das politische Verständnis von seiner Rolle in der Gesellschaft und das Selbstbewusstsein fehlt, hegemonial zu wirken(13). Immerhin gäbe es für die Armen in Europa Anknüpfungspunkte für neue Solidaritäten mit den Armen weltweit, die die Mehrheit in der menschlichen Gesellschaft stellt. Vorbild könnte Lateinamerika sein, wo sich die Armen in den Staaten des Sozialismus des XXI. Jahrhunderts als politische Macht organisiert haben. Es eröffnet sich – vorerst programmatisch – die Möglichkeit, dass sich dem kosmopolitischen Mittelstand und der Corporate Class in Zukunft die globalisierte, politisierte Kraft der Armen entgegenstellt.
Die Krise der neuen Mittelschicht – das Plastilin-Individuum verliert seine Mitte
Der in Kuba publizierende russische Marxist Kagarlitski stellt seit der Jahrtausendwende global eine neue krisenhafte Form des Mittelstandes fest, die aus der verschärften Ausbeutung durch das Kapital entsteht. Den negativen Wirkungen stehen Chancen aus der neuen Kommunikationstechnologie entgegen. Nach außen hin sind diese Veränderungen abgreifbar. Dem Konsumziel weiterhin verpflichtet, hat die Dynamik des Auf- und Abstiegs der Beteiligten innerhalb der Schicht und das Herausfallen aus ihr sich beschleunigt. Kagarlitski nennt dies den Kult an Flexibilität und verstärkter Anpassung (adaptación) an das kapitalistische Profitstreben (14). Unter dem Druck des Kapitals werden die Menschen wie Plastikfiguren verformt. Deswegen spricht er von der „persona plastilina“, dem „knetbaren Individuum“.
Die kapitalistische Krise in Südeuropa greift so weit um sich, dass wie in Griechenland der Mittelstand quasi zusammenbricht, die bisherigen Stadtbürger der Metropole Athen den Rücken kehren, in die Dörfer zurück zu den dort verbliebenen Alten fliehen und sich von Städtern zu Bauern und Gärtnern zurück wandeln. In Spanien wird die Hälfte der Jungbürger arbeitslos und von der normalen Integration in die Arbeit abgeschnitten, die ihnen den Weg in den Mittelstand und einer selbstgewählten Zukunft ohne Eltern eröffnen könnte. Man spricht deshalb von der „verlorenen Generation“. In Deutschland ist die Entwicklung noch nicht so weit. Aber auch hier greift der Zwang zur Flexibilität und Anpassung durch. Die Mobilität steigt und damit der Zwang, überall Arbeit anzunehmen. Wer sich nicht den gestiegenen Anforderungen des Kapitals anpassen kann, wird das Opfer des „Burn-out-Syndroms“. Vielleicht verbirgt sich hinter dieser angeblich neuen Krankheit nur der alte Stress, was vielen Mittelschichtern zu hausbacken ist. Ein „Burn-out-Syndrom“ klingt selbst in dem neuen Elend prestigeträchtig und bewahrt ein klein wenig den alten Anspruch auf Exklusivität. Viele vom Harz IV Gesetz Betroffene landen von der Mittelschicht in die psychiatrischen Abteilungen der Bezirkskrankenhäuser. Die noch in Arbeit sind, packt die Angst. Sie verlieren ihr Selbstbewusstsein und somit den Glauben an die staatstragende Mitte.
Dialektik des postmodernen Mittelstandes: Verlogenes verlogen darzustellen, kreiert das Reale
Mit der Angst steigt der Grad des Konformismus, sich den anerkannten Normen anzupassen. Die angehenden Managerinnen verpassen sich knapp geschnittene schwarze Uniformen für den Konkurrenzkampf in den Büros in Form von Hosenanzügen. Es wird ernst. Aber noch hält der alte Luxus im Konsumismus, weil die Arbeitsplätze halten, auch wenn die Aufträge schwächeln. An Stelle der jahrtausendealten Zeremonien der alten Priesterkaste, Wein in Blut zu wandeln, zelebrieren die neuen Priester der hedonistischen Postmoderne ihre quasi- religiösen Koch-Messen im Fernsehen, auf der Suche nach den drei Sternen. In prosperierenden Ballungszentren wie München feiert sich die „Selfish-generation“ als neue Form der alten „Jeunesse-dorée“. Sie halten sich selbst spiegelnde Selfish-Handys vors Gesicht.
Wenn die „Bussi-Gesellschaft“ dann auf den Klatsch-Seiten der Süddeutschen Zeitung und der Bild am Sonntag doppelt abgebildet werden, einmal im Handy für ihr Ego, per Paste-Taste elektronisch verhundertfacht für die friends, zugleich über die Presse für die Öffentlichkeit gedacht, die sich gegen das individuell Aufdringliche selbst bei einem absoluten Desinteresse nicht wehren kann, wenn sie die Zeitungen aufschlagen, hat sich ihre illusionistische Existenz in der Spiegelung des Gespiegelten verdoppelt. Sie folgen der Dialektik der Postmoderne: Verlogenes verlogen darzustellen, erzeugt einen Schwindel, der das Reale kreiert. Das Apokryphe, die Dubletten, die Kopie von sich selbst, die gegen das Original rebelliert, das ist die verunsicherte Mittelschicht in der Postmoderne. Der Ort des Originalen ist leer, Kopien, Reproduktionen, Wiederholungen, die Realität. Darauf hat es die „Selfish-generation“ abgesehen (15). Aber damit nicht genug. Zum Wiederaufbau einer gestörten Selbstversicherung tauscht die globale Mittelklasse sich konzernweit über neueste Mode-Gerüchte in ihren Kreisen aus. Über lokale Ereignisse in New York wird in den überregionalen Zeitungen und Klatsch-Magazinen berichtet, als handle es sich um Garching, einem Vorort von München.
German Angst im Mittelstand
Im Ausland spricht man von der „German Angst“, und meint damit, dass die Furcht vor dem ökonomischen Absturz den deutschen Mittelstand erfasst habe. Eine neue Wirtschaftskrise zeichnet sich am deutschen Horizont ab. Neben dem Ökonomischen kommt ein ideelles Manko dazu: Der gewählte Lebensstil Konsumismus ist eine zu schmale Basis, um für Millionen Menschen lebensweisende Auswege zu finden. Fallen die Arbeitsplätze, auf denen der Konsumismus steht, fällt das wichtigste Lebensprinzip. Wohlstand allein kann keine tragfähige Basis für ein sinngebendes Leben sein. Darin hat Ratzinger Recht. Dabei soll nicht geleugnet werden, dass eine Welt ohne Hunger, also eine Welt ohne Armut nicht erstrebenswert sei. Soweit diese in weiten Teilen der Erde nicht gegeben ist, liegt hier die Priorität der Politik. Aber bei den exaltierten Erscheinungen des Konsumismus der hochentwickelten Staaten geht es schon lange nicht mehr um konsumtive Sättigung, was angesichts des Mangels in der Welt und dem hohen Energieverbrauch ein schlechtes Gewissen bei vielen hinterlässt.
Yabba Dabba Doo: Konsumismus, Kommunalismus und Kommunismus im steinzeitlichen Mittelstand als tiefgründiges Lehrbeispiel
Die amerikanische Comic-Serie Familie Fred und Wilma Feuerstein ist mit ihren Freunden Barney und Betty Geröllheimer eine raffinierte Mischung aus Steinzeit-Konsumismus, Kommunalismus und Kommunismus. Zu Zeiten des Fred Feuerstein gibt es keine Fabriken, die kleine Welt zwischen den Wohnhöhlen, wie heute noch im Lohnetal der Schwäbischen Alb zu besichtigen, ist überschaubar, das Ideal des Kommunalismus. Arbeit existiert nur im Jagen und Sammeln, die Ausbeutung zwischen Menschen fehlt, so dass man von einer Form des Ur-Kommunismus reden kann. Ausbeutung gibt es allenfalls zwischen Mensch und Tier, wobei die von frechen kleinen Feuersteins unterdrückten und gequälten Dinos als Spiel- und Fahrzeug dienen.
Der Mittelstand historisch überlebt wie die Aristokratie?
Die wenigen Familien sind eindeutig in ihrem Verhalten dem Mittelstand zuzuschreiben. In dieser Welt der Steine existiert nicht nur die Einengung auf das Materialistische. Es gibt ruppig ausgetragene Konflikte aus Interessenwidersprüchen, es gibt unterschiedliche Temperamente, es kann unterhaltsam sein, aber in den hundert Serien über Jahrzehnte hinweg gibt es nichts Visionäres oder Ideale in dieser amerikanischen Welt des Neandertaler-Mittelstandes, die über das Bestehende hinaus reichen, zum Beispiel die Philosophie oder Nachdenkliches über den Kosmos am nächtlichen Firmament. Das Fernsehen und das Steinrad ist vom Himmel gefallen, wozu braucht es Evolutionäres in diesem Mittelstand, zum Beispiel die Entwicklung vom Neandertaler zum Cro-Magnon-Menschen? Besser kann man die beschränkte Welt des Mittelstandes nicht persiflieren. In seiner Statik hat sich der Mittelstand historisch überlebt wie der Neandertaler oder die Aristokratie. Im eigenen selbstgenügsamen Sein versponnen, gäbe es keine Entwicklung, wenn nicht die reale Welt der Krise und der Angst über ihn herfallen und Platz machen würde für das Neue.
Hunderttausend Jahre später nach Fred Feuerstein revoltieren Studenten der 60iger Jahre, die aus dem Mittelstand kamen. Sie griffen einiges auf, was das Proletariat liegen gelassen hatte wie die Kapitalismuskritik. Aber darüber hinaus trieben sie die Kulturrevolution voran wie die innere Befreiung von den Zwängen des Kapitalismus und nahmen einiges Liberale auf wie „mehr Sexualität und Demokratie wagen“. Weil sie aus dem Mittelstand kamen, kehrten die meisten später wieder indessen Schoß zurück und machten ihren Frieden mit der kapitalistischen Gesellschaft. Sie erlagen dem Charme der Bourgeoisie.
Ohne ideelle Zukunftsvisionen, allein auf Mutti Merkels sich gemütlich gebender Konsumcouch zu lümmeln, ist ein gewagtes Spiel. Sicherlich: Die Waffe des Westens gegen den Ostblock-Kommunismus war der gehobene Konsum, wozu auch das freie Reisen zählte, was der Osten sich nicht leisten konnte. Die Reisebeschränkungen des Ostens waren nicht allein eine politisch motivierte Einengung der Freiheit. Es fehlte schlechterdings an Devisen, um die Reisen ins Ausland finanzieren zu können. Die Kritik am Konsumismus kommt überwiegend von der intellektuellen Seite. Die Volksparteien würden sich hüten, die Basis-Ideologie ihrer Stammwähler zu kritisieren. Als Fidel Castro vor 10 Jahren gegen den Konsumismus wetterte als eine konterrevolutionäre Aktion, um den Sozialismus zu unterminieren, begab er sich auf ein glitschiges Terrain. Zu gerne hätte sein darbendes Volk der período especial ein klein bisschen Konsumismus. Und da kommt es nicht gut an, wenn der Staatschef die Moral eines eng geschnallten Gürtels im Sozialismus preist. Der Wohlstand des Kapitalismus ist ein entscheidendes Kriterium im Kampf der Systeme um die Köpfe der Menschen. Umgekehrt gilt deshalb, dass bei seinem Wegfall der Mittelstand in seinem Selbstverständnis getroffen wäre, und beim Wegfall der Arbeit die Axt an den Mittelstand gelegt wird, wie in einigen Ländern Südeuropas.
Von der Politisierung und Radikalisierung der Massen in der Krise zur Neuen Linken
Schon bei einer kleinen Delle in der Konjunktur wie momentan in Deutschland bekriegt sich der Mittelstand. Was passiert in den hochindustrialisierten Ländern, wenn die ökonomische Krise mit großer Wucht zuschlägt? In welche politische Richtung bewegt sich dann die Gesellschaft? In den Krisenlabors Südeuropa sehen wir heute schon die Trends. In Griechenland wandern die Städter zurück aufs Land. In Portugal, Italien und Spanien poverisiert und resigniert die Jugend. Die Mitte der Gesellschaft wird für die arbeitslose Jugend zu einem unerreichbaren Ziel. Zugleich aber formiert sich die Neue Linke. In den Ländern des Nordens beginnen sich die Massen unter dem Druck eines verschärften kapitalistischen Profitstrebens zu politisieren und zu radikalisieren. Wir haben einige theoretische und historische Anhaltspunkte, um die Richtung einzuschätzen, die sie einschlagen könnten: die Dynamik der massenpsychologischen Strukturen und die historische Erfahrung, wie Menschen und Schichten sich zueinander verhalten.
Die Dynamik der massenpsychologischen Strukturen neigt in Krisen zum Absoluten
Zuerst zur Massenpsychologie, wozu der Kubaner González unter Berufung auf Louis Althusser mit seiner Theorie des Strukturalismus eine Erklärung gegeben hat (12): Die ökonomische Krise verändert die bisherigen Koordinaten Mitte, oben und unten wie rechts und links der Schichten im Denken, in Meinungen und Handeln in Richtung des Absoluten. Die Politisierung läuft auf eine polarisierende Radikalisierung hinaus, das Denken und Verhalten kennt nur ein entweder - oder, schwarz oder weiß; es dominiert das Freund-Feind-Schema. Dies können wir heute in den Protesten und Gegenprotesten beobachten, allerdings erst in seinen Anfängen wie die ökonomische Krise zumindest in Deutschland erst in ihren Anfängen steckt, vorgezeichnet durch die sich ausbreitenden existentiellen Ängste.
Dagegen bewegen sich in Zeiten des gesättigten Wohlstands wie im Rheinischen Kapitalismus die menschlichen Einstellungen innerhalb von Feldern zwischen Polen des Gegensätzlichen oder begrifflichen Gegensatzpaaren in Richtungen, die einer zivilisierten Gesellschaft nahe kommt: Das Altruistische wird dem Egoistischen vorgezogen, Insider und Outsider sind gleichgewichtig zu werten, das Normale steht vor dem Anormalen. Den Minderheiten sind gleiche Rechte zuzuweisen wie der Mehrheit, man geht mehr friedlich als feindlich miteinander um und bekämpft solidarisch die Xenofobie. Dabei wird zwischen harmonischen oder kompromisslosen Entscheidungen vermittelt, und das Private vor dem Politischen gestellt. In solchen Zeiten einer entpolitisierten Bürgerschaft liegt die Wahlbeteiligung niedrig, weil die Bürger mehrheitlich meinen, die Politiker oben würden es schon richten. In solchen Zeiten spendet man Klamotten für Asylanten. In solchen Zeiten wird Toleranz zum Stallgeruch in Kreisen des Mittelstandes.
In normalen Zeiten festigt der Kapitalismus seine Macht
In solchen Zeiten festigt der Kapitalismus seine Macht, wenn innerhalb der Gruppe Mittelstand, in der untereinander kapitalistisch bedingte Konkurrenzen um Karrieren und Marktpositionen ausgefochten werden, der Laden mit seinen inneren Widersprüchen nicht auseinander fliegt, sondern ein Zusammenhalt gegeben ist, im Interesse des Gesamtkapitals, und wie es der Kommunalismus gerne hätte. Ein Beispiel: In der Süddeutschen Zeitung wurde vor Wochen eine Werbekampagne im Radio um Neukunden geschaltet, in der der zu werbende Arbeitnehmer folgendermaßen angesprochen wird: „Nehmen Sie an, Sie werden von Ihrem Chef in sein Haus zu einem Abendessen eingeladen. Davon hängt für Sie vieles ab. Die Dame des Hauses will Ihre Meinung zu den jüngsten Entwicklungen der Kriege im Nahen Osten erfahren. Ein kluger Kopf liest SZ“.
In diesem so harmlosen Werbespot, der es ideologisch in sich hat, dürfte die SZ – vielleicht unbeabsichtigt – sich offenbart haben, wie sie sich ihre Leserschaft im Milieu des Mittelstandes vorstellt: Der Chef, der seinen Arbeitnehmer kennen dürfte, betreibt einen „Mittelbetrieb“ von einigen Dutzend Beschäftigten (und nicht von drei hundert, die statistisch noch als „Mittelstandsbetriebe“ gezählt werden, obwohl der Eigner schon vielfacher Millionär ist), wo man seinen „Mitarbeitern“ noch persönlich begegnen kann. Dass er „seinen“ Mitarbeiter zu Hause einlädt, zeugt von einer freundlichen Geste, vielleicht mit Hintergedanken, vielleicht hat man Kinder in der gemeinsamen Schule, vielleicht begegnet man sich beim Kirchgang. Es existieren zwar die üblichen kapitalistischen Unter-Überordnungen, aber man befindet sich innerhalb der Mittelschicht, wohl nicht weit voneinander entfernt wohnend. Es steht dem Angestellten gut an – vielleicht in Erwartung einer gehaltlichen Verbesserung – wenn er sich über den Tellerrand seiner Arbeit in der Welt auskennt. Die Grundstimmung des freundlichen Patriarchats liegt über dem Ganzen, so dass einem übel wird und man sich überlegt, ob man sein eigenes Abonnement bei einem solchen Selbstverständnis einer Zeitung nicht kündigen sollte.
Die kommende ökonomische Krise stellt alles zur Disposition
Es stellt sich die Frage, was in einer ökonomischen Krise sein wird. Nehmen dann die ausländerfeindlichen Ressentiments überhand? Feiert dann Pegida seine Feste? Bekommen wir dann Weimarer Verhältnisse? Noch hat die ökonomische Krise nicht ihre Furchen durch die Gesellschaft gezogen. Es ist erst die Angst davor, die schon ihre Spuren in der Gesellschaft hinterlässt. Immer weniger traut die Bevölkerung der Konjunktur. In jeder Krise kommt es zu einer Neuordnung der Gefühle, des Denkens, der Einstellung. Arbeitslos zu werden, stößt viele in existenzielle Nöte, die mit dem Tod eines nahen Menschen vergleichbar ist. Wenn viele der bisherigen Winner zu Losern werden, individuell und kollektiv, wird vieles auf den Prüfstand gestellt, zumeist unbewusst. Das logische Denken tritt zurück und macht Gefühlen Platz, die oft genug in Ressentiments enden.
Würde die Logik in einem Diskurs vorherrschen, wie Habermas hofft, es könnte keinen Zweifel geben, wer verantwortlich für die Misere wäre: das herrschende System, aus dem die Krise gewachsen ist. Aber wie wir aus der modernen Psychologie wissen, wird die Richtung des logischen Denkens von den Gefühlen mit geleitet. Es kommt dabei zu pervertierten Fehlleitungen, wie wir vom „Krisen-Experimentierfeld“ Spanien wissen. Einerseits schlägt der Pendel nach links aus, und bringt der Vereinigten Linken: Podemos (Wir können) aus dem Stand acht Prozent Stimmen bei der Europa-Wahl. In den Stimmungsbarometern hat diese neue Linke die alten, korrupten Sozialisten überholt, ein ähnlicher Vorgang wie in Griechenland. Andererseits gibt es Jugendliche, die in der Krise erst recht zum Neoliberalismus halten.
Im spanischen Arbeitsrecht haben sich aus der Franco-Zeit noch einige Prinzipien der Anzianität (Ancianidad - Bevorzugung der Alten) erhalten. Bei Entlassungen fallen eher die Jugendlichen als die Älteren mit längerer Betriebszugehörigkeit aus dem Betrieb. Ähnliches soll es auch in deutschen Betrieben geben, wenn das Kapital sinnigerweise dem Betriebsrat die Selektion in die Arbeitslosigkeit aus der Belegschaft einräumt. Eine Front zwischen Alt und Jung tut sich auf. Ein Teil der Jugendlichen hofft: Bei der strikteren Anwendung neoliberaler Leistungsprinzipien würden die weniger leistungsfähigen Alten aussortiert, um Jüngeren Platz zu machen. Ähnliche Vorstellungen hegen auch die Jugendorganisationen von CDU/CSU.
Von guten Bürgern zu Mitläufern der Naziverbrechen
Neben den strukturell-massenpsychologischen Analysen über mögliche Verhaltensveränderungen von Menschen in der Krise kann die historische Erfahrung herangezogen werden. Die Ereignisse in Hitler-Deutschland liefern zwar genügend Materialien, vor allem in jüngerer Zeit, als die Verbrechen der Wehrmacht aufgedeckt wurden, dennoch scheint die Ursache für das Geschehen bis heute noch nicht in seiner ganzen Tiefe des Ungeheuerlichen ausgelotet worden zu sein. Die Sprachlosigkeit vieler Opfer über Jahrzehnte hinweg ist nicht unverständlich, wenn sie in den Deutschen insgesamt – mit der Ausnahme der „Gerechten“ in der Schoah und den später Geborenen Mitverantwortliche sehen, und die Opfer erst mit dem Wegsterben der Mitverantwortlichen ihre Worte wiederfinden, oft zu spät. Von einer Kollektivschuld an den Verbrechen gingen die Alliierten in ihren Entnazifizierungen aus, als sie die Kategorie der „Mitläufer“ schufen, in denen Millionen von Deutschen eingestuft wurden, vor allem aus der Mittelschicht des Bürgertums aus der Weimarer und Nazizeit.
Individuell gutes Gewissen – kollektiv Gewissenlosigkeit der gute Bürger
Es gibt genügend Belege, dass die Naziführer im privaten Umgang, vor allem in ihren Familien „bürgerliche Tugenden“ aufwiesen. Das lässt sich aus den Briefen Himmlers an seine Frau wie geheimen Geliebten entnehmen, der aus dem gehobenen Bürgertum kamen. Sogar Hitler, der Underdog aus dem Wiener Fremdenheim, befleißigte sich im persönlichen Umgang eines höflichen bis freundlichen Ton gegenüber seinen unmittelbaren Untergebenen. Die Münchener Oberschicht aus der Weimarer Zeit fand ihn mit einem „bezaubernden“ Charme ausgestattet. Zu seiner Bürgerlichkeit zählte die Selbstverständlichkeit, mit der er seine langjährige Geliebte im Berliner Bunker, zwei Tage vor dem Selbstmord, heiratete. Mit großem Aufwand wurde in dem Chaos der Straßenkämpfe Berlins ein Standesbeamter auf gegabelt, damit auch alles seine bürgerliche Richtigkeit habe.
Moral und Amoral des alten Mittelstandes
Wir übertragen im Folgenden nicht im Verhältnis eins zu eins die politische Verantwortung des alten Mittelstandes auf den neuen, wie einige Politiker es tun, wenn sie daran erinnern, dass die CDU/CSU ihr Wählerpotenzial in der Nachkriegszeit aus den sozialen Wurzeln des Nationalsozialismus geschöpft hätten. Es geht hier darum, den Prozess des Wandels der Werte als Folge der Weltwirtschaftskrise auf den alten Mittelstand darzustellen, um Erkenntnisse zu gewinnen, ob sich ein solcher Prozess bei einer neuen fundamentalen Krise wiederholen könnte. Der Mittelstand im Nationalsozialismus wies als der größte Teil des Bürgertums im Privaten die alte bürgerliche Moral auf, als Kollektiv aber eine erschreckende Amoral auf, sei er „nur“ Dulder oder ein unentdeckter Mitträger der Verbrechen bei dem Entnazifizierungsverfahren. Diese Dunkelziffer muss groß gewesen sein. In den „alltäglichen Verbrechen“ von 1941 – 1945 lassen sich diese Mittäter schwer erfassen. Weil das Morden zum Alltäglichen geworden war, also von alltäglichen Menschen aus der Gesellschaft begangen wurden, sprach Hannah Arendt von der „Banalität des Bösen“.
Die paradoxe Tragödie
Der „Mitläufer“ aus dem Mittelstand, der mit den Nazi-Verbrechern mitlief, ist ist nicht Opfer sondern Täter der Geschichte, die sich nicht mit all ihren Facetten, Bewusstseinslagen, psychischen Strukturen und Zufälligkeiten wiederholen kann. Es zeigt sich aber, mit welcher Flexibilität individuelles Gewissen in kollektive Gewissenlosigkeit umschlagen kann und umgekehrt kollektive Gewissenlosigkeit das individuelle infiziert. Bis heute gibt es keine Aufarbeitung der Kollektivschuld der Mitläufer und wenige kritische Zeugnisse, wie kollektive Schuld sich in individuelle zurück wandelt. Eine Ausnahme ist der DEFA-Film „Rotation“, in der Kleinbürger des unteren Mittelstandes sich in der Nazizeit schuldig machten, weil sie versuchten, in extrem politischen Zeiten ein unpolitisches Leben zu führen.
Mitgeholfen hat dazu das Meinungsmuster, im Kapitalismus sei alles im Wandel. Nichts sei sicher. Wenn sich die Überzeugung verbreitet, die bürgerliche Mitte habe auf Sand gebaut, hält sich auch das Ausmaß der moralischen Aufregung in Grenzen. Es lohne sich einfach nicht, sich über etwas zu entsetzen, das zwar nur temporär auftritt, aber von einer Wucht ist, dem der menschliche Verstand nicht standhalten kann. Das wäre die tragischste aller Konsequenzen.
Dem ist entgegenzuhalten:
Doch, es lohnt sich. Nehmen wir eine im Film verbürgte historisch Episode aus den letzten Kriegstagen: In dem amerikanischen Kriegsfilm: „Die Brücke von Remagen“ wird der junge Major Krüger, der die Sprengung der letzten intakten Brücke über den Rhein vor den anrückenden Amerikanern nicht ausführte, vor einem Erschießungskommando gestellt. Durch seine Tat wurde der Krieg um einige Wochen verkürzt. Vor den Gewehrläufen nimmt er sich die Freiheit, in die Sonne des beginnenden Frühlings zu blinzeln. Mit seinen Sinnen nimmt er den Gesang der Vögel wahr, den Duft der Blumen nach einem langen kalten Winter. In diesen Augenblicken waren die Gewehrläufe weit weg und doch so nah. Logisch gedacht, bringt es nichts, vor dem Entsetzlichen die Augen zu öffnen. Aber der Trotz, gegenüber dem sicheren Tod die letzten Augenblicke des Lebens zu genießen, ist von existentieller Größe. Dies kann man die paradoxe Tragödie nennen. Tragödie nannte die hellenistische Klassik Theaterstücke, die das Unabänderliche der menschlichen Schicksale auf der Erde durch das Walten der Götter im Olymp zeigte. Das existentielle Paradoxon ist darin zu sehen, dem Unabänderlichen den eigenen Trotz entgegen zu halten, das Unabdingbare nicht hinzunehmen, auch wenn es nichts bringt.
Wege der Selbstbefreiung des Mittelstandes aus der sozialen Lethargie
Neben dem direkten Impakt der ökonomischen Krise auf den neuen Mittelstand weist der russische Marxist Borís Kagarlitski auch auf Befreiungsaspekte aus dem Mittelstand hin, die diesen zu einem Motor seiner Befreiung von der Hegemonie des Kapitals machen könnte. Seine Krise ist auch eine Krise der Legitimität. Weil einem großen Teil der „Mitte der Gesellschaft“ die solidarische Moral abhanden gekommen ist, fühlt sie sich von den kriminellen Machenschaften der unbelehrbaren Finanzwelt nur in Maßen angeekelt, sofern sie selber in Steuerhinterziehungsaktionen mit den Banken verwickelt ist.
Wo aber der Spaß aufhört, ist das Abladen der Kosten der Finanzspekulationen auf sie zur Rettung der Bankenwelt von ihren „Schieflagen“, und die der Allgemeinheit auferlegten Sanierungen aus Bankrotten. Was dem Skandal die Krone aufsetzt, ist dass den Bänker eine Weiterzahlung ihrer Millionen-Boni auf Kosten der Steuerzahler garantiert wird. Ein weiterer Punkt: Das nie endende Hineinpumpen von Geld der Europäischen Zentralbank in die Banken, um sie vergeblich zu mehr Krediten an den Mittelstand der Staaten Südeuropas zu veranlassen, beschert den Mittelstand in den Nordstaaten null Zinsen in ihren Sparbüchern und beraubt sie um Milliarden von möglichen Zinseinkommen auf ihr Sparkapital. Das Anlegen eines Sparbuchs für die Kids aus dem Mittelstand besaß einstmals den kulturellen Stellenwert einer Inauguration in die Erwachsenenwelt, ähnlich der Quinze-Zeremonie junger Mädchen zu ihrem „Fünfzehnten“ in der spanischen Kultur oder die Konfirmation in der protestantischen Kirche.
Plurale antikapitalistische Gegenwehr des Mittelstandes
Der Bruch der Mittelschicht mit dem Kapital ist die Folge. Aber nicht alle werden diesen Weg gehen. Die Folge: Der Mittelstand fällt auseinander ähnlich wie in den USA. Ein Teil des Mittelstandes verfällt den Rechten, und läuft von den konservativen Mitteparteien zur Alternative für Deutschland über oder zur Protestgruppe Pegida und stärkt dort den antieuropäischen Mitte-Rechts Flügel. Der andere Teil stärkt die antikapitalistische Links-Schicht. Er stellt einen Teil der „Empörten“ (indignatos) dar. Kagarlitski beschreibt die verschiedenen Formen der „pluralen Gegenwehr“: Gewaltfreie und gewaltsame Proteste, Aufbau von digitalen Netzen der Solidarität zur Schaffung von mehr Gleichheit gegen Hierarchien, neue Formen des Dialogs als Symposien bei Beibehaltung von Differenzen wären die Folge, eventuell in einem Bündnis mit dem neugebildeten politischen Block der Armen.
Kagarlitskis Vorstellungen muss man nicht teilen: Die Transformation von der Mitte nach Links könnte scheitern und zur Auflösung dieser reformerischen Strömung führen. Es würden radikalere Formen geschaffen im Übergang zu einer militanten Zivilgesellschaft. Ein solcher Übergang wäre nichts Neue. Die partielle sozialen Auflösung der Schicht des Proletariats noch im Wilhelminismus und seine politische irreversible Annihilation (Vernichtung) durch die Nazis, sowie dessen teilweise Übergehen in die Mittelschicht und die damit verbundene endgültige Auflösung der Proletarierschicht hat es vorher schon in der deutschen Geschichte gegeben. Die totale Zerrüttung der bisherigen Gesellschaft am Ende der Weimarer Republik und das Entstehen einer kriminellen Gangstertruppe waren damals die Konsequenz.
Am heutigen Ende dieses Weges könnte die Revolution stehen. Die interne Auflösung eines gewichtigen Standes der Mitte oder die Neubildung eines Standes, wie momentan die Schicht der Armen, liefe auf eine revolutionäre neue Gestaltung und Definition der Gesellschaft hinaus und hätte unabsehbare Konsequenzen für andere Schichten oder Klassen, die vielleicht zu einer neuen „sozialen Einheit“ führen, nachdem sie ihre Beziehungen zueinander neu organisieren. Bevor die Schichten ihren „neuen Platz“ in der Gesellschaft gefunden hätten, bestünde eine prekäre Situation des Ungleichgewichts.
Digitale Kommunikation gegen linke Resignation
Globale Proteste, die nicht gegen ein Land allein gerichtet sind, können von dem betroffenen Land nicht als eine auf ihn gerichtete einseitige Provokation seiner staatlichen Autonomie verstanden werden: Porto Alegre, Seattle, Prag, Quebec, Genua, New York, Davos, München sind Passagen einer „Internationale der protestierenden Aktivisten“. Die dabei notwendige Koordination kommt dabei der modernen digitalen Kommunikation zu. In ihr sieht Kagarlitski eine Chance, wie aus der linken Resignation Mut entspringen kann. Diskussionsforen, Blogs, internationale Adressen-„Fonds“ , Erfahrungsaustausch und Koordination von internationalen Aktionen bieten den Aktivisten eine Plattform zum solidarischen Agieren. Dabei ist eine Einschränkung zu beachten: Selten baut eine Protestaktion auf die vorangegangene direkt auf, sondern will eher als Mut spendendes Beispiel verstanden werden, wie man die Aufmerksamkeit auf sich lenkt. In solchen Fällen kann man weniger von „Etappen“ sprechen, wo ein Ereignis in logischer Folge auf das vorangegangene „stufen- oder treppenartig“ aufbaut. Dieser revolutionäre Schritt nimmt aber immer mehr Form an. Die theoretische Begründung liefern Kagarlitski, Habermas, Luhmann, Rodriguez u.a.
Vom spontanen Protest zu einem dauerhaften Prozess einer Revolution in Etappen
Vom Aufstand der Anständigen gegen Fremdenhass zu einer antikapitalistisch-kritischen Bewegung
Von 15M zu Podemos
Aus dem ständigen „Gemurmel“ innerhalb der Mittelschicht eines Landes kann man den demokratischen Diskurs in Permanenz heraus lesen, wie aus der Authentizität von vorher Isolierten das Selbstbewusstsein einer handelnden politischen Formation zu einer freieren Gesellschaft führen kann. Der Aufstand der Anständigen gegen Fremdenhass könnte in Deutschland zu politischen Neuformierung einer antikapitalistisch-kritischen Bewegung führen. Niklas Luhmann hat die theoretischen Bedingungen formuliert, wie die Selbstorganisation zum Überleben und Expansion der Gruppe in engem Bezug zu anderen Gruppen führen kann (17).
Anhand der Großdemo in Madrid am 15. Mai 2011 gegen die neoliberalen Sparpläne der spanischen Regierungen (15M), kann demonstriert werden, wie das anfänglich singuläre Demo- Ereignis, dass das Dauerthema: „permanente Krise des spanischen Kapitals auf Kosten des Volkes“ anspricht, aus seiner ursprünglich spontanen, singulären Form eine organisatorisch gefestigte Partei zimmert:„Podemos.“ Wir können uns dem Kapital dauerhaft entgegenstellen und ergreifen die Chance, auf politisch-demokratischen Wege die Wende herbeizuführen. Dass die auf dem politischen Parkett Fremden das Handwerk sehr schnell lernen können, beschreibt die spanische Zeitung El País (). So kandidiert der Gründer Pablo Iglesias für das Kommunalparlament von Madrid, während der Mitbegründer Luis Alegre sich als Generalsekretär für die Region Madrid aufstellen lässt, im Bewusstsein, wie wichtig die Hauptstadt als Sprungbrett für die Macht ist. Die spanische Professorin Ángeles Diez Rodríguez hat in Kuba einen Artikel publiziert, wie aus dem Cyberraum und gemeinschaftlichen Symptom über 15M ein lehrbares Lesestück entsteht. (18).
Zwischen Radikalität und Pragmatismus
Einer Revolution geht zumeist eine gescheiterte Reform voraus. Dies war in Russland 1917 so, als die neue bürgerliche Regierung Kerenski auf den Sturz des Zarentums mit verschärften Kriegsanstrengungen auf dem Rücken der Soldaten und Bauern fortfuhr und den Weg für die sowjetische Revolution freimachte. Im Fall Spanien war es der gescheiterte „Reformkurs“ des Ministerpräsidenten Rajol, im Gehorsam zu Merkels Wirtschaftskurs auf das Platzen der spanischen Immobilienblase und dem Konkurs der Sparkassen mit noch stärkeren neoliberalen Rezepten zu antworten: die Wirtschaft auf dem Rücken der Massen, vor allem des Mittelstandes zu Tode zu sparen. Die Antwort war der Aufstand der Massen am 15. Mai 2011 bei ihrem Marsch zur Puerta del Sol in Madrid und die Gründung der Partei Podemos, die heute in den Umfragen die „Sozialisten“ abgelöst haben. Ausschlaggebend für die Mobilisierung der Massen in - physischen - Versammlungen war die Verbreiterung und Verteilung von Informationen und Aktionen in dem virtuellen Cyberraum, um über das Internet kommunikative Verbindungen in sozialen Netzen herzustellen.
Blogger als alternative Nachrichtenagentur für linke soziale Netze
Die Verbreiterung der Informationen und Planungen, sowie des Geschehens auf den Massenveranstaltungen geschah gleichsam automatisch durch junge Hacker und Blogger überwiegend aus dem Mittelstand, die wie Nachrichtenagenturen auf jede Neuigkeit reagierten und eine Art alternative linke Nachrichtenagentur schufen, die aber sich nicht allein in Meldungen beschränkte, sondern sich selber mit eigenen Kommentaren in diese Symposien einmischen. In diesem revolutionären Prozess kommt man vom Begrenzten und Besonderen zu universalen Werten, von den unbezahlbaren Mieten und nicht rückzahlbaren Hauskrediten zur antikapitalistischen Revolte. Der anfängliche lockere Kreis von Empörten verschiedener Richtungen verdichtet sich zu einer Partei, die den Weg zur Macht versucht. Die Akzeptanz einer Partei bedeutet zugleich auf die Demokratie mit ihren parlamentarischen Spielregeln einzugehen. Nicht alle Militante sind bereit, den Parlamentarismus zu wählen. Manche sind wankelmütig, was den Weg angeht.
Rosa Luxemburg, eine Unentschlossene gegenüber dem Parlamtarismus
Eine Unentschlossene, ja Wankelmütige zum Parlamentarismus war Rosa Luxemburg, wie Frigga Haug in der kubanischen Monatszeitschrift Marx Ahora ausführt. Einmal zitiert er eine Promeinung von ihr, zweimal ablehnende Haltungen (20). Dabei kann an ihrer Überzeugung zugunsten der direkten Demokratie der Arbeiter- und Bauernräte kein Zweifel bestehen, was den Parlamentarismus eindeutig ausschließt. Was auch bei Linken eine Rolle spielen kann, ist ihr Pragmatismus. Als sie auf dem Gründungskongress der KPD sich für das Eingehen auf das Parlament im Reichstag aussprach, dann leitete sie die pragmatische Überzeugung, weil es sich beim Parlamentarismus um eine Institution handelte, die schon da war, die ihre Spielregeln hatte. Eine Partei zu gründen ohne Parlamentarismus, kann keine Demokratie sein. Ein Einparteiensystem ist eine verkappte Diktatur, sein Parlament eine Opernveranstaltung, die einem Dirigentenstock wie in der Krolloper folgt. Vielleicht hatte sie im Auge, dass der Reichstag als Steigbügelhalter für eine zukünftige Räterepublik herhalten könnte. Die neue Partei Podemos besteht aus heterogenen nicht-antagonistischen Strömungen. Heterogenität ist ein Markenzeichen linker Strömungen in einem breiten Flussbett. Podemos wird ihren revolutionären Weg gehen und anderen linken Strömungen als Vorbild dienen, wie die vereinte Linke Griechenlands auf ihrem politischen Siegeszug es für die spanische Linke geboten hat.
Literatur
1.Boris Kagarlitski, La Rebelión de la clase media, Ciencias Sociales, La Habana, 2009
2. Süddeutsche Zeitung, 17/18. Januar 2015 2.
3. Antonino Barbagallo; Engels y la Revolución Industrial, in: Marx ahora, revista internaciónal, La Habana, No 23/2007
4. Gerd Elvers, www.revolution-heute. de
5. Wikipedia: Ulricht Beck
6. Luis Martínez Antrade: El centro comercial como figura paradigmática del discurso neocolonial, in: Pensar contra corriente VI, Ciencias Sociales, La Habana, 2009, p. 5
7. So die Eltern, so die Kinder, SZ 20. Januar 2015
8. Wikipedia, Jürgen Habermas
9. Rudolf Walter: Religion und Rechtskultur, in: Süddeutsche Zeitung 13. Januar 2015
10. John Nichols: Reading Karl Marx with Abraham Lincoln, Utopian Socialists, German Communists and Other Republicans, Political Affairs, 27. November 2012
10a Jurahaus Verein: Das Jurahaus, Nummer 18, 2012/13
11. Max Scharnigg: Vom Laster gefallen, SZ 17/18. Januar 2015
12. Pablo Mell Febles, Catolicismo y esfera pública: revisitando el debate entre Habermas y Ratzinger, in: Temas, La Habana, Dezember 2013, pp. 19
13. Gerd Elvers, Hegemonie und Zivilgesellschaft bei Antonie Gramsci in www.revolution-heute.de
14. Kagalitski, S. 40
15. Gerd Elvers, Der Mord am magischen Realismus, in: www.revolution-heute.de
16. Pablo Guadarrama González: Ciencia o ideología? Estructuralismo y marxismo en Louis Althusser, in: Marx ahora, La Habana, No 23, 2007, pp. 61
17. Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt/Main 1987
18. Ángeles Diez Rodrígez: Ciberespacio y síntoma: una lectura a partir del 15M, in Temas, La Habana, Juni 2013, pp.44
19. El País: Un fundador de Podemos se perfila como líder en Madrid, 15. Januar 2015
20. Frigga Haug: La Linea Luxemburgo-Gramsci, in: Marx Ahora, No 35, 1913, pp.44
Gerd Elvers
23. Januar 2015
https://de.wikipedia.org/wiki/Mittelstand
VON: GERD ELVERS