Neuerscheinungen aus linken Verlagen

15.03.20
KulturKultur, TopNews 

 

Buchtipps von Michael Lausberg

Buch 1

Günther Baumgartner & Dietrich Grund: Die bayerische Revolution 1918/19 in Stadt und Land, Band 1 Oberbayern, Edition AV, Bodenburg 2019, ISBN: ISBN 978-3-86841-212-3, 49,80 €

Den Auftakt zur bayerischen Revolution in München bildete eine Friedensdemonstration auf der Münchner Theresienwiese, zu der die beiden Arbeiterparteien und die Freien Gewerkschaften für den 7. November 1918 aufgerufen hatten. Nach offiziellen Schätzungen beteiligten sich zwischen 40.000 und 60.000 Personen an der Veranstaltung, bei der die Gewerkschaftsmitglieder in geschlossenen Formationen auftraten. Während die Masse der Kundgebungsteilnehmer einen Demonstrationszug durch die Stadt veranstaltete, unternahm eine vergleichsweise kleine Schar von Unabhängigen Erfolg den Versuch, die Soldaten in den innerstädtischen Kasernen für den Umsturz zu gewinnen. In kürzester Zeit gab es in München keine Einheiten mehr, die gegen die Revolutionäre hätten mobilisiert werden können. So konnten wichtige Einrichtungen in der Innenstadt wie der Hauptbahnhof, das Telegrafenamt und der Bayerische Landtag von den Aufständischen besetzt werden.

Im Mathäserbräu wurden ein Arbeiter- und ein Soldatenrat gebildet; im Landtag wurde eine erste gemeinsame Sitzung abgehalten. In dem Aufruf, den Eisner in der Nacht vom 7. auf den 8. November entwarf, wurde der Freistaat Bayern proklamiert und damit die Monarchie beendet. Der bayerische Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat wählte eine Revolutionsregierung aus USPD und SPD mit Kurt Eisner (USPD) als Ministerpräsident und Außenminister, Erhard Auer (SPD) als Innenminister, Johannes Hoffmann (SPD) als Kultusminister, Edgar Jaffé (USPD) als Finanzminister und Albert Roßhaupter (SPD) als Militärminister.

Ein provisorischer Nationalrat, der sich aus Vertretern des Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrates, der Gewerkschaften, der Berufs- und Frauenverbände und den Fraktionen der SPD und des Bauernbundes im bayerischen Landtag zusammensetzte, trat an die Stelle des ehemaligen Landtags der Monarchie.

Während der knapp sechs Monate vom 7. November 1918 bis zum Ende der Räterepublik war München zweifelsohne Hauptschauplatz der Ereignisse. Dennoch konstituierten sich auch in anderen Städten des neuen Freistaats Räte, etwa in Nürnberg, Fürth, Würzburg, Schweinfurt, Ingolstadt oder Kempten. Auch auf dem Lande bildeten sich Strukturen. Insgesamt gab es im Dezember 1918 etwa 7.000 Räte in ganz Bayern.

Wie die bayrische Revolution sich außerhalb Münchens entwickelte, sind Günther Baumgartner und Dietrich Grund in jahrelangen Forschungen nachgegangen. Nun liegt der erste Band vor, der die Geschichten zur bayrischen Revolution aus 1000 ehemaligen Gemeinden in Oberbayern versammelt und bei Edition AV erschienen ist.

Es wird erstmals der Versuch unternommen, einen möglichst vollständigen Überblick über die Entwicklung der Ereignisse zwischen dem 7.11.1918 und dem Mai 1919 in den Gemeinden aller Größenordnungen im Freistaat Bayern zu gewinnen. Dabei ist die Quellen- und Informationsdichte höchst unterschiedlich, erzählen die Autoren im Vorwort.

In einem allgemeinen Teil wird zunächst eine Übersicht über die Revolution in Bayern gegeben, Rahmendaten vorgestellt, Mythen und Legenden der Revolutionszeit dekonstruiert und auf Frauen in den Räten eingegangen. Danach geht es um die Revolution im Regierungskreis Oberbayern mit dem Schwerpunkt in einem allgemeinen Überblick.

Dann wird die Revolution in den Bezirken einzeln präsentiert. Am Anfang gibt eine historisch-geographische Karte eine Übersicht über die Bezirke. Diese werden dann alphabetisch sortiert vorgestellt. Nach einem kurzen Überblick folgen dann die Ereignisse in den einzelnen Gemeinden mit Angabe der Quellen und historischen Bildern.

Im opulenten Anhang findet man ein Abkürzungsverzeichnis, Begriffserklärungen und ein Kalender. Anhänge zum Freikorps Grafing-Ebersberg, Freikorps Werdenfels, Freikorps Landsberg, zum Fall Gräfelfing, wo 53 russische Soldaten erschossen wurden, und zum Palmsonntagsputsch im Bezirk Rosenheimer Land. Außerdem Lieder und Gedichte als Erinnerungskultur an Revolution und Rätezeit, ein kurzer Überblick über Bauernbund und die Revolution, die örtlichen Räteorganisationen in Oberbayern, ein Abbildungsverzeichnis, Buchempfehlungen und ein Ortsverzeichnis.

Von den 1200 Gemeinden, die damals zum Kreis Oberbayern gehörten, war in mindestens 1100 eine Räteorganisation gebildet oder gewählt. Es gab also in Oberbayern ohne München über 3000 Menschen, die einem der Gremien angehörten. Diese Räte wollten „vor allem den kleinen Leuten, den minderbemittelten Schichten eine Stimme geben und sich dafür einsetzen, das Los dieser Menschen zu verbessern.“ (S. 626)

Es gibt noch einen Anhang mit Daten aus den einzelnen Bezirken als kostenloses PDF auf der Webseite des Verlages. Dort sind kann man Namen von Arbeiter-und Bauernräte, die Ergebnisse von Wahlen auch in den Gemeinden nachverfolgen Hier der Link: www.edition-av.de/info/zusatzmaterial_bayerische_revolution_band_1.pdf

 

Das Buch zeigt deutlich, dass die Revolution in Oberbayern außerhalb Münchens von zahlreichen Menschen mitgetragen und mitgestaltet wurde, in den unterschiedlichsten Formen. Weite Teile der Bevölkerung waren offen für basisdemokratische, eigenständige Entscheidungsprozess und tiefgreifende soziale und gesellschaftliche Erneuerungen. Es zeichnet sich durch eine unglaubliche Akribie und Liebe zum Detail für jede Gemeinde aus, was sich auch im ausführlichen Anhang widerspiegelt. Zahlreiche Originalquellen wie Postkarten, Fotos, Briefe und Ähnliches sind dort zu finden. Das Buch ist auch mit Hilfe von vielen lokalen Helfern entstanden, die am Ende des Kapitels namentlich erwähnt werden.

 

Buch 2

GoGoGo (Hrsg.): Das war der Gipfel. Die Proteste gegen G20 in Hamburg, Assoziation A, Berlin/Hamburg 2018, ISBN: 978-3-86241-461-1, 24,90 EURO (D)

Dieses Buch ist ein spannender, vielfältiger und inhaltsreicher Beitrag zur Einordnung, Aufarbeitung und zu den verschiedenen Formen des Widerstandes und Protestes gegen den G20-Gipfel im Sommer 2017 in Hamburg. Verlag und Herausgeber_innen waren selbst in die Proteste involviert und legen mit diesem Buch eine Geschichte aus Sicht der Protagonist_innen vor. Dabei wird nicht der Anspruch verbunden, mit dem Buch das gesamte Panorama der Gipfelproteste abzubilden. Die Herangehensweise wird durch fünf wesentliche Charakteristika bestimmt

1)    Der Fokus des Buches liegt auf den Gipfelprotesten und nicht auf den Debatten um Repression. Dabei stehen die vielfältigen Protestaktionen und das Neue, was in ihnen geschaffen wurde, im Vordergrund.

2)    Die Proteste werden aus der Sicht der Basisaktivist_innen aus einer Graswurzelperspektive dargestellt. Die eigene Geschichte soll selbst geschrieben werden, um dies nicht den Herrschenden überlassen werden. Fast alle Beiträge wurden von den Protagonist_innen der geschilderten Aktionen selbst geschrieben.

3)    Die Komplexität der Ereignisse, die inhaltlichen Beweggründe der Proteste, den Reichtum an Widerstandserfahrungen und Aktionsformen sollte in den Blick genommen werden und nicht nur eine Einseitigkeit der Geschehnisse am 7.7 und ihre mediale Aufbereitung.

4)    Die Vielstimmigkeit und Diversität des Protestes soll zum Ausdruck gebracht werden und dadurch Debatten, Kontroversen, Selbstreflexion und kritische Hinterfragung ermöglicht werden.

5)    Es soll die Begeisterung, das Engagement, die Momente der Begegnung, des Austausches und der Emotionen jenseits vieler medialen Bilder gezeigt und festgehalten werden.

Zunächst werden in einem allgemeinen Kapitel eine kurze Chronologie der Proteste mit Nachwirkungen bis zum Jahre 2018 vorgestellt, die Unterschiede und Kontinuitäten der Demonstrationen in Hamburg im Vergleich zu den früheren Gipfelprotesten herausgearbeitet und das Konzept des „Summit Policing“ erläutert.

Anschließend geht es um die Auseinandersetzungen um verschiedene Protestcamps teilweise schon im Vorfeld des Gipfels. Im Einzelnen geht es um das „antikapitalistische Camp“, die Erfahrungen von Protestierenden aus dem Wendland, Kirchenasyl, dem Volksparkcamp, Berichte aus dem Campalltag und Schlafplätze am Millerntor.

Die Proteste am Wochenende vor Beginn des Gipfels stehen dann im Mittelpunkt. Der Protest der Boote auf der Alster, der größte Schwarze Block aller Zeiten und die Bedeutung von linken Zentren werden dabei behandelt.

Weiter geht es mit den vielfältigen Besetzungen des öffentlichen Raumes durch Gruppen und Initiativen des Netzwerkes Recht auf Stadt mit Beiträgen zur Refugee-Demo, zum Arrivali-Park, zum Massencornern und zum Gipfel der Vielen.

Danach folgt ein Einblick in die Herstellung von Gegenöffentlichkeit mit den Schwerpunkten alternatives Medienzentrum FC/MC, freie Radioproduktionen und dem Medienkollektiv graswurzel.tv. Künstlerischer Protest wie die Massenperformance „1000 Gestalten“, der Megaphonchor, die Schlümpfe, Spiegelmenschen, die Rebel Clown Army und der Protestrave. Dem folgen kulturelle Protestformen von „Lesen ohne Atomstrom“.

Der Alternativgipfel, an dem mehr als 2000 Menschen aus aller Welt teilnahmen und auf elf Podien und in 70 Workshops die Politik der G20-Regierungen kritisch betrachteten, und die Gegenentwürfe für eine andere, solidarische Welt werden dann vorgestellt.

Anschließend wird speziell auf die Vorgeschichte und die Geschehnisse der Welcome to Hell-Demo aus der Sicht von verschiedenen Aktivist_innen und die anschließende spontane Demo eingegangen.

Verschiedene Versuche, in die Demostrationsverbotszone vorzudringen und die Straßen zu blockieren, die die Hotels der Gipfeldelegationen mit dem Tagungsgelände verbinden, wie die Hafenblockade, Proteste auf dem Wasser, der Bildungsstreik der „Jugend gegen G20“ und die Fahrraddemo stehen dann im Mittelpunkt.

Es folgt eine längere Auseinandersetzung mit den Geschehnissen des 7.7.2017. Ein Streitgespräch zwischen Bewohnern und Aktivist_innen aus dem Schanzenviertel vermischt mit lokalen und internationalen Stimmen dazu wird abgedruckt.

Die Abschlussdemo, die von 70.000 Menschen besucht wurde, wird danach thematisiert, bevor auf die Situation nach dem Gipfel eingegangen wird. Dabei steht die gut besuchte Stadtteilversammlung auf St. Pauli und die kontroverse Aufarbeitung der Gipfelproteste im Mittelpunkt.

Danach wird auf die Repression vor, während und nach dem Gipfel eingegangen. Solidaritätsarbeit des Bündnis „United we stand“, ein Stellungnahme der innenpolitischen Sprecherin der Linkspartei, ein Erfahrungsbericht aus dem Knast und Erfahrungsberichte von Anwält_innen werden dort präsentiert.

Zum Schluss wird noch ein Fazit von Sven Stillich aus dem Herausgeber_innenkreis gezogen. Darin heißt es unter anderem: „Der Protest war der einzige Gewinner des G20-Gipfels in Hamburg. (…) Alle Menschen, die im Sommer 2017 ihr Herz in die Hand genommen und gegen eine Übermacht auf der Straße ihre Stimme erhoben haben, sind Gewinner auf ihre eigene Weise. Auch wenn sie Gewalt erfahren oder mitangesehen haben.“ (S. 270f)

Buch 3

Alfred Müller: Eine Wirtschaft, die tötet. Über den Kapitalismus, seine Überwindung und die Zeit danach, Papyrossa, Köln 2019, ISBN: 978-3-89438-702-0, 22 EURO (D)

Der politische Publizist Alfred Müller legt in einem lesenswerten Buch die zerstörenden Auswirkungen des Kapitalismus, die Möglichkeiten seiner Überwindung und eine alternative Form des Wirtschaftens danach als Diskussionsgrundlage vor. Was man aus dem Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten 1989/90 lernen kann, fließt mit in die Debatte ein. Direkte Demokratie, Solidarität, eine umweltbewusste Form des Wirtschaftens und die Basis einer selbstbestimmten Wirtschaftsplanung sind dabei seine Eckpfeiler. Eine direktdemokratische Wirtschaft beinhaltet für ihn die Demokratisierung der gesamtwirtschaftlichen Koordination zwischen Unternehmen und Konsumenten.

Zunächst analysiert Müller gegenwärtige Bedrohungen und benennt den Kapitalismus als Hauptursache. Danach wird der Begriff des Kapitalismus präzisiert, die angebliche Alternativlosigkeit zu ihm dekonstruiert, die verschiedenen Arten von Sozialismus diskutiert und dann Anleihen an die Vorstellungen von Marx und Engels genommen. Anschließend geht es um die vollständige Demokratisierung aller Lebensbereiche, direktdemokratische Unternehmensverfassungen und die Notwendigkeit einer demokratischen Wirtschaftsplanung. Für die Übergangsphase zu einer neuen Wirtschaftsordnung fordert er einen Konsumgütermarkt, was danach ausgeführt wird. Anschließend geht er auf Kritikpunkte von Kapitalverteidigern ein und nennt die Digitalisierung als Chance für demokratische Planungen. Die Bedingungen für die Entwicklung eines systemüberwindenden Bewusstseins und die Herrschaftstechniken des gegenwärtigen Establishments werden dann behandelt. Müller setzt sich dann mit schon existierenden alternativen Bewegungen und deren Lösungsmodellen auseinander. Fragen über den Transformationsweg hin zu einer zukünftigen Gesellschaft schließen die Erörterungen ab. Die Thesen werden zum Schluss nochmals zusammengefasst.

Hier geht geht es die Entwicklung neuer Wege jenseits des Kapitalismus, um die Zerstörung unserer ökologischen und sozialen Lebensgrundlagen aufzuhalten. Dass der Kapitalismus zerstörerische Grundlagen in sich trägt und Menschenleben kostete und kostet, ist schon lange durch das Schwarzbuch Kapitalismus nachgewiesen. Müller reiht sich mit diesem Buch in eine Reihe der Schaffung von künftigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Szenarien des Postkapitalismus ein. Zu nennen sind hier vor allem: Joachim Bischoff u. Hans-Georg Draheim: Sozialismus im 21. Jahrhundert. Zur politischen Ökonomie einer nicht-kapitalistischen Wirtschaft, in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus Nr. 1/2003 oder Brie, Michael / Detje, Richard / Steinitz, Klaus (Hrsg.): Wege zum Sozialismus im 21. Jahrhundert. Alternativen - Entwicklungspfade - Utopien. VSA-Verlag, Hamburg 2011.

Das Buch bietet viele Diskussionsansätze, auch solche, die hier noch ergänzt oder weiter ausgeführt werden können. Ein solcher wäre die Abkehr von immer neuem Wirtschaftswachstum und eine Postwachstumsgesellschaft. In seinem Weltbestseller „Small is beuatiful“ setzte Ernst F. Schumacher der Technikgläubigkeit seiner Zeit eine Wirtschaftsweise entgegen, in der Ethik und Moral ihren Platz hätten und in der die Ökonomie wieder ins Soziale eingebettet sei. Gigantismus, das ständige Streben nach mehr Reichtümern und unbegrenztes Wachstum repräsentierten keine menschlichen Grundbedürfnisse, stattdessen forderte er eine Rückkehr zum menschlichen Maß. Eine immer intensivere Vernetzung, immer bessere und schnellere Technik sowie eine immer stärkere Spezialisierung mache die Gesellschaft anfällig für Störungen aller Art und führe oftmals zu Entscheidungen, die von jeglicher Moral losgelöst sind. Das ausschließlich auf Wachstum ausgerichtete Wirtschaften moderner Industrienationen sei nicht vereinbar mit ökologischem und sozialem Denken. Die Produktion von lokalen Betriebsmitteln sei für die lokalen Notwendigkeiten die rationalste Weise des Wirtschaftens.

 

Buch 4

Judith Katz: Der Traum von Freiheit. Aus dem Englischen von Rebecca Lindholm, Querverlag, Berlin 2019, ISBN: 978-3-89656-278-4, 18 EURO (D)

Dieses Buch von Judith Katz, Unterrichtsbeauftragte an der Hamline University und am Minneapolis College of Art and Design, erschien in den USA unter dem Titel „The Escape Artist“. Nun liegt es in der deutschen Fassung vor, für die Rebecca Lindholm verantwortlich ist.

Der Roman spielt im Jahre 1913 kurz vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges. Die Hauptperson ist die sechszehnjährige Sofia Teitelbaum die in Warschau/ Polen lebt. Ihre Familie ist nicht reich, aber sie ist glücklich genug, zumal sie ihre Freundin Tamar liebt. Dann tritt Tutsik Goldenberg, einem argentinischen Diamantenhändler in das Leben der Familie, der den Sofias Eltern eine Heirat mit Sofia schmackhaft macht. Die Eltern von Sofia Teitelbaum stimmen der geplanten Hochzeit zu. In Wirklichkeit hat er aber ganz andere Pläne als eine Hochzeit. Wie die vielen anderen Mädchen, deren Familien er betrogen hat, wirft Tutsik Sofia in das Bordell seiner Schwester, sobald sie in Buenos Aires ankommen. Von nun an muss Sofia für seine Schwester Madam Perle als Prostituierte zu arbeiten. Sie wird als traditionelle Jüdin beschrieben, die ihre Frauen nicht freitags arbeiten lässt, sondern darauf besteht, sie selbst in die Kunst der Liebe einzuweisen.

Das Verhältnis von Tutsik und seiner Schwester ist angespannt: Perle kümmert sich um ihn, aber sie kontrolliert sein gesamtes Leben. Als Tutsik Hankus Lubarsky trifft, einen brillanten und gutaussehenden Straßenmagier und Fluchtkünstler, weiß er, dass er die Chance hat, der Kontrolle seiner Schwester zu entgehen, wenn Tutsik nur Hankus davon überzeugen kann, dass er einen Manager braucht. Hankus ist aber in Wirklichkeit die polnisch-jüdischen Frau Hannah, die sich als Mann verkleidet und ihr Leben als Magierin gemacht hat. Ohne dies zu wissen, freundet sich Sofia mit ihr an und erzählt ihr alles. Sofia ist zwar lesbisch, hat im Buch Sex mit Männern, da sie als Prostituierte arbeiten muss. Im Laufe des Romans verlieben sie sich. aber es wird auf die Probe gestellt, wenn sie einen Ausweg aus der jüdischen Unterwelt von Buenos Aires finden. Neben den hier vorgestellten Hauptprotagonisten gibt es viele andere komplexe Charaktere in dem Buch.

Das Buch wird in der ersten Person aus Sofias Sicht erzählt. Außerdem gibt es einen Bericht, den Sofia Hannah irgendwann nach den Ereignissen des Buches erzählt. Sie erzählt nicht nur, wie sie in Buenos Aires gelandet ist, sondern erzählt auch Hannahs eigene Hintergrundgeschichte. Durch die Person Hannahs spielen Magie und Träume in der Geschichte eine herausragende Rolle und fühlen sich manchmal wie die Kehrseite derselben Medaille an. Sie unterstützt sie das starke Thema der Täuschung, das sich durch die Geschichte zieht, ob durch Tutsik, die Sofia von ihrer Familie entfernt und missbraucht, oder Hannahs Biografie.

Dieses Buch ist voll von aussagekräftigen Charakteren, die komplex und doch menschlich dargestellt werden. Die Liebe zwischen Sofia und Hannah und die Sehnsucht nach Freiheit spielt in dem Roman die Hauptrolle. Die Vergangenheit und das gemeinsame Schicksal dieser beiden bemerkenswerten Frauen vereinen sich in dieser gut gestalteten und recherchierten historischen Fiktion. Dieser historische Roman beschreibt auch gut das jüdische Leben in Warschau und Argentinien neben der Liebe zwischen zwei bemerkenswerten Frauen. Hier verschmelzen Träume und Wirklichkeit, was immer mit Spannung verbunden wird.

Buch 5

Kathy Page, All unsere Jahre, Wagenbach, Köln 2019, ISBN: 978-3-803-13313-7, 24 EURO (D)

Die englische Schriftstellerin Kathy Page erzählt in diesem Roman die Szenen und Entwicklungslinien einer 70 Jahre währenden Ehe. Harry Miles, geboren zwischen den Kriegen als Sohn einer Arbeiterklassenfamilie in Südlondon, ist ein Stipendiat mit literarischer Neigung und dem Ehrgeiz, der Enge seiner Kindheit zu entkommen. Als er Evelyn Hill aus einem ähnlichen Umfeld kennenlernt, fühlt er sich sofort von ihrem Sinn für gesellschaftlichen Aufstieg, ihre Willenskraft und ihrem praktischen Charakter angezogen.

Die ersten Jahre ihrer Ehe fielen mit dem Ausbruch des 2. Weltkrieges zusammen. Als Harry 1942 im Rahmen von Churchills Nordafrika-Kampagne nach Kairo musste, bekamen sie ihr erstes Kind, ein Mädchen. Danach nimmt Harry einen Angestelltenjob im kommunalen Bauwesen an und das Paar lässt sich in den Vororten nieder. Zwei weitere Töchter folgen, clevere junge Frauen, die eine Wahl haben, von der ihre Mutter, die von ihrem Sekretariatsposten entlassen wurde, nur träumen konnte. Mit zunehmendem Alter wird Evelyn immer dominanter und Harry, der entgegenkommendere Partner, wird immer ärgerlicher, bis sie sich gegenseitig an die Gurgel gehen.

Der achte Roman von Page besteht aus vielen Dingen: einer Liebesgeschichte, einer Geschichte des Älterwerdens und einer brillanten, eindrucksvollen Skizze Großbritanniens im 20. Jahrhundert. Es gibt schockierende Erinnerungen an die gelegentlichen täglichen Demütigungen, die Frauen erlitten haben. Evelyn wird, nachdem sie sich beim Hausarzt gemeldet hat, einer aufdringlichen und völlig unnötigen gynäkologischen Untersuchung unterzogen. Es ist auch eine Geschichte über die eigenartig britische Pathologie der Klasse, die in Harrys Entschlossenheit gefangen ist, seiner Frau ein großes, sauberes, modernes Haus mit einem Garten, Formica-Arbeitsplatten und einer Spüle aus rostfreiem Stahl zur Verfügung zu stellen.

Obwohl seine Ehe mit ihr in materieller Hinsicht ein Erfolg ist, ist das Buch traurig, wenn man begreift, wie das Verfolgen solcher gewöhnlichen Bestrebungen uns unser vitales Selbst kosten kann. Im mittleren Alter ist Harry ein enttäuschter Mann. Das Buch ist mehr als nur eine Klage über das unvermeidliche Scheitern jugendlicher Ideale. Das gezeichnete Bild von Evelyn selbst ist eine Studie über eine Frau, die von schrecklichen Zwängen gepackt wird. Die Warnsignale waren von Anfang an in ihrer panischen Haushaltsführung zu sehen: ihre strengen Wasch- und Staubsaugerpläne, ihre Besessenheit, fehlende Kissenbezüge aufzuspüren. Später neigt sie zu plötzlichen Explosionen und zu tagelangen strafenden Schweigen. Evelyn, die in ihrem Trophäenhaus gefangen ist, ist genauso ein Opfer ihrer Zeit und ihres Ortes wie ihr Ehemann.

Brillante Charakterstudien und die kunstvolle Darstellung des Gewöhnlichen kennzeichnen diesen Roman. Dies ist kein Plädoyer für ein Ausbrechen aus einer langen Ehe, sondern ein Spiegelbild des Durchschnittstypus der britischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und auch ein wenig die Frage nach Glück.

Buch 6

Sarah Schulman: Trüb. Übersetzt von Else Laudan, Ariadne, Hamburg 2019, ISBN 978-3-86754-241-8, €20,00

Die US-amerikanische Hochschullehrerin, LGBT –Aktivistin und Schriftstellerin Sarah Schulman, legt mit diesem Buch einen Krimi vor, der eigentlich keiner ist. Es handelt sich eher um das Leben und ein psychologisches Porträt der ehemaligen Polizistin Maggie Terry, wo sich Vergangenheit und Gegenwart vermischen.

Die Handlung spielt an fünf Tagen im Sommer in New York. Maggi Terry war bedingt durch Alkohol- und Pillensucht eineinhalb Jahre in Reha und beginnt nun ein neues Leben. Durch Abschweifungen von der Gegenwart wird ihre Geschichte dem Leser nähergebracht. Durch ihre Sucht verlor sie ihre Erinnerung an die Geburt ihres Kindes, ihren Job und ihre Lebensgefährtin trennte sich von ihr. Sie verlor aber noch viel mehr: nämlich den Kontakt zur Realität und ihren Platz im Leben. Nun besucht sie unregelmäßig Treffen der anonymen Alkoholiker und der anonymen Narcotics. Und sie hat gleich einen Job als private Ermittlerin in einer Anwaltskanzlei gefunden.

Viel stärker ist der Drang, ihre ehemalige Lebensgefährtin zu sehen. Dort muss sie aber feststellen, dass die inzwischen eine neue Partnerin hat. Nicht nur dies hat sich verändert. Auch auf ihren rastlosen Wanderungen durch New York stellt sie fest, dass es nicht mehr dasselbe ist. Gentrifizierung, Armut, Trostlosigkeit nimmt sie überall wahr. Dabei schweifen ihre Gedanken ständig ab und es kommt zu plötzlichen Wendungen von der Gegenwart in die Vergangenheit und zurück.

Inmitten dieser Selbstbetrachtungen fällt ein Kriminalfall, sie soll den Todesfall einer jungen Schauspielerin aufklären. Dieser Fall nimmt jedoch nur einen kleinen Teil des Buches ein. Der einzig wirkliche wichtige Fall ist sie selbst und ihre Rückkehr als ehemalige Süchtige in das normale Leben im ungemütlich und für sie fremd gewordenen New York.

Die Suche nach dem Mörder der Schauspielerin wird auf fesselnde Art und Weise nach der Suche nach sich selbst verbunden. Dabei überzeugen die Charakterdarstellung und die Beschreibung der Atmosphäre von Schulman.

 







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