Von Daniela Lobmueh und Hannes Sies
Am 10.Juli beging man Prousts 150.Geburtstag, die Junge Welt würdigte ihn als polemischen Kämpfer „Gegen das Geschwätz“, Süddeutsche Zeitung und SPIEGEL trommeln, angeblich mit Marcel Proust, für Nato-Militär und neoliberale Effizienz.
Wer bislang nicht dazu kam, den berühmten Jahrhundertroman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zu lesen, kann jetzt auch einer gelungenen Comic-Adaptation greifen: Sozialkritik und Revolution scheinen darin auf, wenn das bourgeoise Ich die subjektive Welt der Erinnerung und seine eigene Innerlichkeit in der Klassengesellschaft der sogenannten Belle Époque vor dem Ersten Weltkrieg erkundet.
„Stéphane Heuet hat Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in jahrelanger Arbeit als Graphic Novel umgesetzt. Mit Combray erscheint nun der erste Teil in deutscher Sprache. Ein genial illustrierter Klassiker, der den einzigartigen Erzählstil Prousts in ebenso imaginativen wie assoziativen Bildfolgen umsetzt.“ Klappentext des Knesebeck-Verlags
Tatsächlich vermittelt das gediegene Comicbuch ruhige Imagination und kontemplative Stimmung sowie auch das erhebende Gefühl, an klassischer Hochkultur teilzuhaben. Mit Marcel Proust ironisiert es aber zugleich den dabei aufkommenden Standesdünkel. Lindgrün gerahmt zeigt das Titelbild den am geschwungenen Schnauzer erkennbaren Proust vor hellblauem Himmel. Links von ihm zeigt sich am der Eiffelturm vor einem Dampfer auf der Seine, rechts wogende Kornfelder und der winzige Kirchturm von Combray. Combray lautet auch der Titel des ersten Bandes, „adaptiert und gezeichnet“ von Stéphan Heuet. Combray heißt das erste Kapitel von Auf dem Weg zu Swann, des ersten Bandes Romanzyklus.
Verklärter Adel, mystifizierte Kirche, lesbische Liebe
Die Zeichnungen von Stéphane Heuet erinnern im ersten Moment an, pardon, „Tim und Struppi“. Doch die Kolorierung von Véronique Dorey taucht die klar konturierten Dinge, Figuren und Landschaften in gedeckte milde Farben. Die ersten und letzten Innenseiten betonen in himmel- und dunkelblau eine romantische Botschaft: „Die Wälder schon schwarz, der Himmel noch blau“, so der bewunderte Monsieur Legrandin zum kindlichen Protagonisten. Sprich: Wenn die dunkle Seite des Lebens dich packt, suche Trost im Blick nach oben. Die beschauliche Stimmung bringt dem Betrachter so die Gefühlswelt eines bürgerlichen Protagonisten näher, der sich meist auf sein Innenleben fixiert, zu Beginn etwa den Prozess des Erwachens, wenn das Bewusstsein sich bemüht, „sich aus dem Nichts zu ziehen“.
Was beschäftigt den Erzähler außer der Problematik des Aufwachens? Das kindliche Betteln um und Lauern auf den Gutenachtkuss der Mutter, das feudale Familienleben der Großbourgois, über ihnen der adlige Herr Swann, unter ihnen die sie eifrig umsorgenden Dienstboten, die fast mystisch verehrte Kirche von Saint-Hilaire, mit Glockenturm, Kathedrale und bunten Glasfenstern, die Herzogin von Guermantes, zu welcher sich der Junge magisch hingezogen fühlt, die homosexuelle Liebe, vorgeführt zunächst an einem lesbischen Paar, das einigermaßen boshaft über den bornierten, aber just verstorbenen Vater einer der Frauen herzieht.
Das Motiv der versagenden Erinnerung, mit der ein „Ich“ sich quält und an der es die sehr subjektive Zugänglichkeit der Wirklichkeit erfährt, entfaltet Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in einer fiktiven Autobiographie: Ein anonymes Ich erzählt von seinen mühevollen Versuchen, sich an Kindheit und Jugend zu erinnern. Es erschließen sich eine Reihe „unwillkürlicher Erinnerungen“, basierend auf Sinnesassoziationen, die Erlebnisse auf intensive Weise vergegenwärtigen; das berühmteste Beispiel ist eine in Tee getauchte Madeleine, die den Ort seiner Kindheit, Combray, ins Gedächtnis ruft.
„Die Revolution hätte sie alle guillotinieren sollen!“
Am Ende des Romanzyklus wird sich das „Ich“ entschließen, die auf diese Weise wieder erlebte und damit „wiedergefundene“ Zeit nun in einem Roman festzuhalten -und damit dem Lebensmodell des Dandys, des reichen Müßiggängers, das des Schriftstellers entgegen zu setzen. Doch davon ist der erste Band der Graphic Novel noch weit entfernt. Die fast immer subtile Sozialkritik ist kunstvoll eingewoben in sich selbst schwelgerisch verklärende Selbstbespiegelung. Proust übt sich in selbstrefektierender und, wenn man es so lesen möchte, -ironisierender Erinnerung an seine Kindheit als verhätschelter Oberschichtler. Die Graphic Novel liefert dazu zuweilen parodierende Bilder der sich mit gesträubten Schnauzbart oder Spitzenhäubchen dünkelhaft echauffierenden Bourgeoisie. Die oft läppische, fast hündische Bewunderung des Adels, wird durch den eleganten Kritiker der Aristokratie, Monsieur Legrandin, konterkariert, der, energisch seinen Spazierstock hebend, wettert: „Die Revolution hätte sie alle guillotinieren sollen!“
Übertrieben und damit ironisiert wirken auch die erbärmlichen Überlegenheitsgefühle des jungen Protagonisten gegenüber seiner ungebildeten Haushälterin, die sein Zimmer reinigt, seine Kleidung wäscht und seine erlesenen Speisen bereitet, während er sich süßer Lektüre hingibt -aus welcher er seine kulturelle Dominanz gewinnt: Nachdem sie in einem kleinen Disput mit dem Jüngling „Verwandtheit“ mit „Verwandtschaft“ verwechselt, denkt dieser, natürlich viel zu vornehm, sie auf den Fehler aufmerksam zu machen: „Ich bin ja gut, dass ich mich mit einer Ungebildeten herumstreite, die solche Böcke schießt!“
SZ feiert Proust mit dem Geruch von Napalm am Morgen
Doch vor der SPIEGEL-Verwurstung von Marcel Proust, zu der wir gleich kommen, zunächst die wieder einmal bellizistisch auftrumpfende SZ. In aktuellen Würdigungen des Erforschers der selbstbespiegelnden Innerlichkeit spiegeln sich auch die Feuilletonisten und ihre Blickwinkel auf die Belle Époque, die Literatur und die Welt im allgemeinen. Die, wie der kritische Medienwissenschaftler Uwe Krüger in seinen Forschungen akribisch nachweisen konnte, notorisch transatlantische Fanfaren blasende Süddeutsche Zeitung beginnt ihre Proust-Ehrung mit einem deutschnationalen Tusch: „Plötzlich taucht Bismarck auf“ -im dritten Band der Suche nach der verlorenen Zeit. Dann wird über militärische Finten bei Hannibal und Napoleon doziert, dass die aktuell von Imperator Biden zum Schurkenstaat der Woche deklarierten Chinesen bestimmt das Hosenflattern kriegen -bei soviel rittmeisterlicher Militärseligkeit im deutschen Feuilleton. Auf Papier heißt der Text kurz und schmissig „Zwischen Kriegen“, online friedlicher „Zwischen zwei Kriegen“. Die SZ weiß uns zu belehren, dass Proust dem Kriegswesen aufgeschlossener war, als viele Literatinnen glauben: „Die Aeroplane und Zeppeline des Luftkriegs verknüpfte Proust, lange vor Coppolas Apocalypse now, mit Wagners Walkürenritt.“ Dann also, liebes SZ-Feuilleton, „Napalm marsch!“ auf die Kommunisten damit wie einst in Coppolas Vietnam?
Und die Kritik am Standesdünkel? Bei Marcel Proust? Die sieht der SZ-Feuilletonist nur marginal, säuselt vom Snob, der bei Proust seinen Rivalen, den Romanautor, doch schon im eigenen Ich habe. Einen unfreiwillig komischen Selbstkommentar liefert dafür eine nebenstehende, grell gelb hervorstechende Kleinanzeige, wo „eine fröhliche Familie mit Freunden (9 Personen)“ eine Woche nach Korfu fliegen will und dafür „eine/n Köchin oder Koch“ sucht, „um uns dort zu verwöhnen“. Es gibt sie noch, die von Proust beschriebene Großbourgeoisie, und sie inseriert in der ihre neoliberalen Interessen gegen innere und äußere Feinde bis aufs Blut verteidigenden SZ. Ob beim drohnenbewehrten Walkürenritt nebst Coppolas „Ich liebe den Geruch von Napalm am morgen“ oder bei Hasstiraden gegen die letzten Vertreter einer Sozialdemokratie, die diesen Namen noch verdient: Etwa Albrecht Müller von den Nachdenkseiten.
Bertelsmann-Spiegel sucht die Zeit mit BWL
Bruderblatt SPIEGEL von Bertelsmann begeht den 150.von Marcel Proust dagegen lieber buchhalterisch, ganz im Geiste des verblichenen Bertelsmann-Medienmoguls Reinhard Mohn. Dessen Beitrag zu Bildung und Kultur bestand ja unter anderem darin, hierzulande sogar den Schulen die Betriebswirtschaft aufzuzwingen, mit Controlling, Budgetierung und Sparzwang wie man in einem der wenigen wirklich kritischen Bücher zu Europas mächtigsten Medienimperium erfuhr. Beim Mutterblatt des Lügenschreibers Claas Relotius ist das Gesellschaftsressort stramm neoliberal auf Effizienz fixiert.
So ließ der (auch BILD für Lehrer genannte) SPIEGEL „schnelle Leserinnen und Leser“ die 4000 Seiten der Verlorenen Zeit hektisch überfliegen, was sie in acht Tagen schafften. Sie hatten dann leider nur „einen groben Überblick über die Handlung“ und eigentlich nichts kapiert. Aber auch das Hörbuch mit seinen 156 Stunden bekam nicht die Note „Befriedigend“: Erstens „müsste man dabei „mit dem Auto von Berlin nach Peking und fast wieder zurück fahren, um das fertig zu hören.“ Warum eigentlich nach Peking? Und was hat das mit Proust zu tun?
Zweitens sind die Sätze von Proust einfach zu lang, um ihnen (beim rasenden Ritt wider den China-Mann in Peking) folgen zu können. Bis das Verb kommt, hat man in der heutigen, von neoliberalen Einpeitschern hektisch globalisierten Welt wohl den Satzanfang längst vergessen. Doch der SPIEGEL ist am Ende gnädig: Seinen nahenden Tod habe Proust in das Werk aufgenommen, im letzten Band erst, gottlob. „Es sind die heitersten Passagen des ganzen Buches, wenn der Erzähler sich selbst zur Eile treibt, denn das Wesen der Zeit erkannt zu haben sei das eine, es aber auch aufzuschreiben das andere.“ (Spiegel 27/2021, S.116) Hätte Marcel Proust doch wie der SPIEGEL einen BWL-Mogul gehabt, der ihn Controlling und Zeitmanagement gelehrt hätte -dann hätte die Romantik vielleicht selbst Peking im Sturm erobert.
Die Graphic Novel: Text kondensiert und illustriert
Von derlei neoliberal-feuilletonistischer Hektik ist die vorliegende Graphic Novel zum Glück weit entfernt. Stéphane Heuet gelingt es souverän, das umfangreiche Werk zu kondensieren. Ein Beispiel? Heuets erster Band beginnt wie der von Proust mit einem der bekanntesten ersten Romansätze der Weltliteratur -springt dann aber drei Seiten weiter, den Text überzeugend reduzierend und illustrierend:
„Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen. /Bild: geschlossene Fensterläden, nachtblau/ Und wenn ich mitten in der Nacht erwachte, wusste ich im ersten Augenblick nicht, wo ich mich befand, ja nicht einmal, wer ich war;/ eine kindliche Silhouette blau, mit hellen Streifen: Nachtlicht fällt durch die Jalousie/ dann aber kam mir die Erinnerung (noch nicht an den Ort, an dem ich war, sondern an jene, an denen ich gewohnt hatte oder hätte sein können) zu Hilfe, um mich aus dem Nichts zu ziehen;...“ /Bilder umkreisen ein verhangenes Augenpaar.
So knapp konnte sich Marcel Proust nicht fassen, bei ihm heißt es:
„Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen. (S.9); (weiter auf S.12)...wenn ich mitten in der Nacht erwachte, wusste ich nicht nur nicht, wo ich mich befand, sondern sogar auch im ersten Augenblick nicht, wer ich war; ich hatte lediglich, in seiner ganzen urzeitlichen Natürlichkeit, jenes Gefühl bloßen Daseins, wie es in der Tiefe eines Tieres beben mag; ich war hilfloser als ein Höhlenmensch; aber dann kam die Erinnerung – noch nicht an den Ort, an dem ich mich befand, aber doch an einige von denen, die ich bewohnt hatte und an denen ich sein könnte – über mich wie Hilfe in höchster Not, um mich aus dem Nichts zu ziehen, aus dem ich allein nicht hätte herausfinden können;“
So begegnen wir bei Heuet den wichtigsten Themen und Figuren Prousts, etwa der Familie, die sich um das Bett der kränkelnden oder hypochondrischen Tante versammelt, wie in einer Komödie von Molière. Und natürlich der berühmten Madeleine, dem muschelförmigen Sandteiggebäck, das dem Protagonisten die Kindheitserinnerungen an Combray zurück bringt -als Madeleine-Effekt in die Psychologie eingehend.
„Der Geschmack einer Madeleine erweckt diese Regung und ruft die Erinnerungen Marcels an seine Kindheit in Combray zurück. Immer wieder versucht er, die vergangene, verlorene Zeit gegenwärtig zu machen. Es sind atmosphärische Details, von denen aus sich ein literarisches Universum entwickelt, das um ein zentrales Thema kreist: Liebe. Seit über 14 Jahren arbeitet Stéphane Heuet an der Umsetzung von Marcel Prousts Literaturklassiker Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als Graphic Novel. Mit Combray erscheint nun endlich der erste Teil dieses Mammutprojektes in deutscher Sprache. Der Text ist genial adaptiert und der einzigartige Erzählstil Prousts in ebenso imaginative wie assoziative Bildfolgen umgesetzt.“ Verlagstext
Proust orientierte sich hier vermutlich an der Lebensphilosophie und Gedächtnistheorie des psychologisch belesenen Henri Bergson, den er bewunderte. Von seinen Romanen hätte der Bankierserbe nicht leben können, die zeitgenössische Kritik brachte ihnen derart hartnäckig bornierte Ignoranz entgegen, dass er sich in seiner Verzweiflung selber lobende Kritiken schrieb, und gegen Geld drucken ließ, wie 2017 publik wurde. Literatur und Betriebswirtschaft passen eben nur selten zusammen.
Stéphane Heuet, Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (Band 1)
Combray, Knesebeck Verlag, 23x32cm, gebunden, 72 Seiten mit 400 farbigen Illustrationen, koloriert von Véronique Dorey, übersetzt von: Kai Wilksen, 19,95 Euro
https://www.knesebeck-verlag.de/auf_der_suche_nach_der_verlorenen_zeit_band_1/t-1/133