Dietmar Dath: Neptunation - ein DDR-SF-Roman

12.02.22
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Von Hannes Sies

Es beginnt als anspruchsvoller Politthriller, zieht den Leser in eine kommunistische Cyberpunk-Sternenoper und schließlich in phantastische Sphären der „Neptunation“ jenseits unserer Vorstellungskraft. Honnecker und Heidegger werden erwähnt, China spielt eine Rolle, Russland, die USA, aber vor allem die DDR mit ihrer Beteiligung an einem streng geheimen Raumfahrt-Programm, das den Arbeiter- und Bauernstaat überdauerte.

„Kurz vor Ende des Kalten Krieges entsenden die Sowjetunion und die untergehende DDR ein Himmelfahrtskommando ins All. Die Mission scheitert, schickt aber ein Signal zurück, angeblich vom Neptun: Hilferuf, Warnung, etwas anderes? Mehr als dreißig Jahre später bricht ein deutsch-chinesisches Rettungsunternehmen auf, um herauszufinden, ob es in unserer kosmischen Nachbarschaft wirklich nur menschliche Technik gibt, ob Menschen die Wahrheit überhaupt aushalten... und was Politik mit Schwerkraft zu tun hat.“ Verlagstext Neptunation

Daths Roman schwankt zwischen Spannung, Anspruch und Action, die Heldenrollen sind weiblich besetzt, wilde Zeitsprünge verwirren uns. Es beginnt 1989 im maoistischen China, springt nach sechs Seiten ins Jahr 2010, zu einem kurzen geheimnisvollen Dialog über die Rekrutierung eines Linguisten, dann nach 2015 in einen finsteren Wald in Afghanistan, zu Bundeswehrsoldat Meinhard Budde. Der denkt bei sich, „Die in Berlin... denken, das ist alles Wüste hier oder Steppe, wie beim Karl May... Diese bescheuerte Mission hier, Ostereier aus dem All suchen, wird von einer unbegreiflichen Frau aus Berlin befehligt, geheime Scheiße...“ und wird von einem Kampfroboter überfallen, der den deutschen Spähtrupp niedermetzelt. Budde gelingt es, die Maschine durch Kopfschuss zu töten, er überlebt als einziger schwerverletzt und wacht auf in Hannover.

Aus der Reha rekrutiert ihn die „Frau aus Berlin“ für noch mehr geheime Scheiße und zeigt ihm zum Auftakt das Innenleben des Roboters aus dem All: Menschliches Hirn und Organe.

Zeitsprung zurück nach 1989, wieder vor nach 2017, eine Familiengeschichte entspinnt sich, BRD, USA, DDR, China, eine geheime Gesellschaft, mysteriöse Projekte. Alles, was einen guten Thrillerplot ausmacht. Doch die Story hebt bald ab in den Bereich SF, Richtung Neptun natürlich, Zwischenstopp Asteroidengürtel. Dietmar Dath zeigt sich vielseitig belesen und politisch versiert. Adorno, Brecht, Gogol und Gödel paradieren durch seine Dialoge, ebenso Mao, Marx und Trotzki. Über die alte Weltraummission erfährt man auf Seite 170 von 685 schließlich:

„Die Ossis haben geputscht. Die DDR-Leutchen haben sich das Sternenschiff unter den Nagel gerissen. Rache für Ulbricht sozusagen, den großen Modernisierer, den die Russen abgesägt und durch den armen glücklosen Honnecker ersetzt haben... aber was wir nicht so genau wissen, ist, was die letzten Nachrichten bedeuten sollen, die uns von der EOLOMEA erreicht haben.“

Der Defa-SF-Klassiker Eolomea

Damit sind wir bei literarischen Anspielungen im utopischen Genre, die bei Dath von US-Klassikern wie Philip K. Dick und Robert A. Heinlein bis zu feministischer SF von Margaret Atwood und Octavia Butler reichen. Zentral ist jedoch der alte Defa-Film Eolomea (1972), eine Ostberliner Hippy-Kommunismus-Utopie, nach der Daths DDR-Raumpiraten ihr Schiff benannten. Im Film hat eine kommunistische Menschheit das Sonnensystem in drei Ringen besiedelt, plant einen vierten. Pilot Dan lernt die schöne Maria auf den Galapagosinseln kennen (die Defa drehte an der bulgarischen Schwarzmeerküste), was schließlich zu seiner Rekrutierung für eine Piratenmission führt: Gegen den Willen des Weltsowjets und der Leitung der Akademien der Wissenschaften bemächtigen sich 146 junge Wissenschaftler und Kosmonauten einer Flotte von neun Raumschiffen. Sie wollen das waghalsige Unternehmen starten, in 136 Jahren Flugzeit eine neuentdeckte bewohnbare Welt zu erreichen: „Eolomea“, sprich: „Ewiger Frühling“. Am Ende ehrt eine Akademie-Konferenz die Piratensiedler weil eine verantwortungsvolle Führung derartige Missionen aus ethischen Gründen zwar niemals anordnen könnten, aber solche Abenteurer die Menschheit voran bringen könnten. (Eolomea auf Youtube andere online verfügbare Quellen bitte der Red. melden)

Dietmar Daths Roman liest sich wie eine Hommage an den alten Defa-SF, greift dessen Ideen auf, spinnt sie weiter, die Besiedlung des Alls, kosmische Meuterei, sprechende Roboter, sogar mysteriöse Lebensformen im Asteroidengürtel, doch Daths Botschaft ist vielschichtiger. Die brav- sozialistische Grenzüberschreitung der Defa-Raumpiraten gerät ihm zur Infragestellung der letzten Grenzen menschlicher Erfahrung und Erkenntnis. Mathematik, Logik, Philosophie wird aufgefahren: Heidegger, Gödel, Wittgenstein, Posthumanismus in verdrahteten Köpfen und gut abgemischt mit fantastischen Bildern und dunkler SF bis hin zu Howard Phillips Lovecraft, den Dath herbei zitiert: Anders als bei der teils etwas kitschigen Defa-Eolomea hängt Daths Himmel nicht voller Geigen, sondern voller Kraken und Tentakeln. Doch die werden in Neptunation so lyrisch besungen, dass wir uns fast an den Galapagos-Traumstrand der Defa-Schwarzmeer-Idylle zurück zu träumen glauben.

Dietmar Dath: Neptunation oder Naturgesetze, Alter!, SF-Roman, Frankfurt/M. 2019, Fischer Verlag, 685 S., 16,99 Euro.

Siehe auch von Hannes Sies:

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