Politische Buchkritik von Hannes Sies
Der neuaufgelegte utopische Roman verbindet einen packenden Krimi-Plot mit theologischen Spekulationen, die eines Stanislaw Lems würdig wären, sowie Reflexionen über Ethik, digitale Welten und menschliche Abgründe.
Philip K. Dick, der wohl erfolgreichste SF-Autor der USA, verbrachte den größten Teil seines Lebens in bitterer Armut am Rande der Gesellschaft, drogensüchtig im Kleinkriminellenmilieu. Das große Geld verdienten posthum andere mit seinen fantasievollen Geschichten, besonders in Blockbuster-Verfilmungen, die heute auch Nicht-SF-Fans ein Begriff sind: Blade Runner, Minority Report, Total Recall u.a. Den ersten Kinostart eines seiner Romane, Blade Runner, erlebte Dick nicht mehr, der 1982 erst 54jähring starb.
Vielschreiber Dick stand politisch links in einem militaristischen Polizeistaat, der das totalitäre McCarthy-Regime mit seiner Hexenjagd auf „Kommunisten“ (wie viele Andersdenkende genannt wurden) gegen die Woodstock-Generation neu belebte. Der SF-Autor sah sich zeitlebens von Polizei, Drogenfahndung und FBI belauert und seine Paranoia, die viele seiner Romane -und besonders den vorliegenden- prägt, kann kaum als wahnhaft bezeichnet werden.
Der 180-Seiten-Roman „Irrgarten des Todes“ wurde von der Kritik übersehen oder fehlgedeutet, man blickte auf den Plot, der an Agatha Christie „And Then There Were None“ erinnert (dt. „Zehn kleine Negerlein“) und seine Mordserie. Weitgehend übersehen wurde bislang die religiös-spitituelle Dimension, weshalb es lobenswert ist, dass der Fischer-Verlag in seiner Neuauflage den 16 Kapiteln eine kurze Vorbemerkung des Autors voranstellt -der erste von vier Absätzen lautet:
„Das theologische System in diesem Roman spiegelt keines der bisher bekannten wider. Es hat seine Wurzeln in dem Versuch von William Sarill und mir, ein abstrakte, logisches System religiösen Denkens zu entwickeln, das auf der völlig willkürlichen Annahme basiert, dass Gott existiert. ...“ Philip K. Dick, Vorbemerkung zu „Irrgarten des Todes“
Die ironisch-satirisch behandelte Theologie enthält Elemente von Judentum, Christentum, Zoroastrismus, I Ging und nordischen Mythen, basierend auf Wagners „Ring der Nibelungen“, wie Dick erklärt. Jesus wird erwähnt, Wotan und sogar Gandalf, der Zauberer aus Tolkiens Epos „Herr der Ringe“, dessen Verfilmung Dick vorher sah.
Die „Bibel“ dieser Utopie ist das Buch oder genauer, A.J.Specktowskys „Wie ich in meiner Freizeit von den Toten auferstand und wie Ihnen das auch gelingen kann“. Viele der Protagonisten glauben daran, leben danach, lesen und zitieren es. Einem Gott und seinem Wunder vollbringenden Mittler steht darin offenbar ein diabolischer „Formenzerstörer“ gegenüber, und einige unserer Akteure glauben, diesen schon begegnet zu sein. Vierzehn Personen, bis auf das Ehepaar Morley alle einander unbekannt, treffen in einer abgeschiedenen Siedlung aufeinander. Alle haben sich dorthin beworben, es gibt vorerst keine Möglichkeit den Ort zu verlassen und man weiß nicht so recht, was die Aufgabe der Gruppe sein soll. Eine nach Eintreffen der letzten Siedler endlich gesendete Instruktion bricht nach wenigen Worten ab, denen nur zu entnehmen ist, dass wohl das Militär die herunter gekommene Anlage betreibt.
Die Gesellschaftsutopie des Romans wirkt wie ein mäßig strenger und organisierter Sozialismus, etwas zwischen Kibbuz (ein solcher taucht tatsächlich auf) und DDR. Fast alle sind gut ausgebildet, aber eher nicht sehr engagiert, auch weil am falschen Ort eingesetzt. Die Meeresbiologen Mary und Seth Morley kommen etwa aus dem Kibbuz Tekel upharsin (aramäisch für: gewogen und für zu leicht befunden), der fern jeden Gewässers in einer Wüstenei mühsam als einzig nennenswertes Produkt Orangenmarmelade herstellt. Die Handlung folgt meist Seth Morley, nachdem zuerst jedoch Ben Tallchief auftrat, der sich -dank Gebet, wie er glaubt- von seiner langweiligen Arbeit als Verwalter in die Kolonie Delmak-O verdrücken konnte.
Dort treffen sie auf die Theologin Maggie Walsh, die Specktowskys Buch auswendig kennt, die Linguistin Betty Jo Berm, den Senior Bert Kostler, den Chemiker Ignatz Thugg, die sexsüchtige Susie Smart, den hypochondrischen Mediziner Milton Babble und seinen ebenso unbeliebten wie unfreundlichen Kollegen, den Psychiater Wade Frazer. Dazu kommen die greise Soziologin Roberta Rockingham, der junge Geologe Tony Dunkelwelt, der später in spiritueller Versenkung glaubt, Brot in Stein verwandeln zu können, Glen Belsnor, der Techniker, den man zum Anführer wählt, und der Nachzügler Ned Russell, ein Ökonom -obwohl die triste Kolonie keine nennenswerte Wirtschaftsleistung zu erbringen scheint. Ein Fluss scheint in der öden Landschaft ständig seinen Verlauf zu ändern, ein mysteriöses Gebäude taucht auf und verschwindet,
Keiner der neuen Kolonisten weiß, was in dem schäbigen Anwesen zu tun sein könnte, sie streiten sich über die Kaffeemaschine und Newtons Farbenlehre. Man ist verwirrt und schlecht gelaunt, ausgenommen die Nymphomanin Susie. Die bringt dafür bald die Ehefrau von Seth gegen sich auf, obwohl dieser sich mehr für kulinarische Delikatessen interessiert als für Susies Verführungsversuche. So kämpft jeder auf Delmak-O mit seinen Lastern und Psychopathien, sei es Drogensucht, Depression, religiöser Wahn oder Alkoholismus. Das erste Ableben eines Protagonisten deutet man noch als Unfall, doch bald verdächtigen und belauern sich die einer nach dem anderen Ermordeten gegenseitig. Typisch für Philip K. Dick sind die Beschäftigung mit künstlichem Leben, digitaler Simulation und die überraschenden Wendungen, die den Leser eins ums andere Mal ins Bodenlose stürzen lassen, sein Realitätsgefühl auf die Probe stellen. Sicher nicht das beste Buch des SF-Nestors, aber ein vergessener Klassiker des Genres, der immer noch weit über Durchschnitt liegt.
Philip K. Dick: Irrgarten des Todes, 2.Aufl.2018, 180 S., 12,-Euro, Fischer Verlag
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