Wir sind viele – sie sind wenig
von Wilma Ruth Albrecht
Als Jeremy Bernhard Corbyn als britische Gewerkschaftsfunktionär und Labourpolitiker im Juni 2017 auf dem Gladstonbury Music Festival sprach1, zitierte er unter tosendem Beifall die Schlußstrophe von Percy Bysshe Shelleys „The Mask of Anarchy“ (S. 163)
„Rise like Lions after slumber
In unvanquishable number --
Skake your chains to earth like dew
Which in sleep ha ?d fallen on you --
Ye are many – they are few.“2
Den letzten Vers nahm auch Georg Herwegh (1817-1875) zum Motto für das von ihm verfasste „Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ (1863)3, eine der Vorläuferorganisationen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD).
So gesehen, gehören Poeme des englischen Dichters Percy Bysshe Shelley (1792-1822) nicht nur zum Kulturgut der englischen Arbeiterbewegung. Sondern auch zur deutschen und ihrer jungen, aufstrebenden Sozialdemokratie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Im heutigen Deutschland mit seinem so oberflächlichen wie marktgängigen
Kulturrelativismus, seinem wahnhaftem Irrationalismus und seiner triumphalischen
Häßlichkeit soll ein feinsinniger Verseschmied mit aufklärerischem Impetus keinen Platz haben.
Gut und richtig also, dass Heiner Jestrabek dagegenhält, kontraktpunktisch an Shelley erinnert und einige seiner Dichtungen sowohl im Original als auch in (alter) deutscher Übersetzung wieder zugänglich macht.
Der Band ist übersichtlich aufgebaut: Als Motto sind Verse aus dem siebten Teil des
Verspoems „Feenkönigin Mab“ - „Here is no God!“ - sowie Herweghs Gedicht „Shelley“ (1841) vorangestellt (S. 6). Dann folgt eine von Heiner Jestrabek verfasste, mit zahlreichen zeitgenössischen Abbildungen illustrierte „Einführung“ zu Percy Bysshe Shelley (S. 7-32).
Der folgende Dokumententeil enthält eine Übersetzung des 1811 publizierten vollständigen Textes von Shelleys „The Necessity of Atheism“ (Die Notwendigkeit des Atheismus) (S. 33-47), seine „Queen Mab. Philosophical Poem with Notes“ im englischen Original sowie in deutscher Übersetzung (S. 48-158) und sein schon erwähntes Gedicht „The Mask of Anarchy. Written on the Occasion of the Massacre of Manchester 1819“ (S. 159-169). Den Band rundet ein Literaturverzeichnis (S. 170-171) ab.
Percy Bysshe Shelley war und ist neben George Gordon Byron (Lord Byron) (1788-1824) und John Keats (1795-1821) ein bedeutender Dichter der englischen Romantik. Er wurde im südenglischen West-Sussex als Sohn eines reichen Grundbesitzers und Parlamentsabgeordneten der Whigs geboren, erhielt eine exklusive Schulbildung, entwickelte schon früh literarische Neigungen und später auch philosophische Interessen, die ihn zum Atheismus führten. Nach der Veröffentlichung von „The Necessity of Atheism“ (1810/11) wurde er der Universität verwiesen und lebte zunächst recht mittellos in London. Dort verfaßte er 1811 die 1813 veröffentlichte utopische Verserzählung „Queen Mab“. (Die
Feenkönigin Mab gilt als Symbol der Freiheit.) Im Poem wird „eine dichterische Vision von der Zukunft der Menschheit ... als Perspektive zur Überwindung von Monarchie und Priestertum hin zu einer freien Gesellschaft“ (S. 11) entworfen. „Queen Mab“ galt später - so der Literaturwissenschaftler Hans-Peter Ecker - als „Kultbuch der Arbeiterbewegung“ (S. 12).
Shelley heiratete 1811 die erst fünfzehnjährige Harriet Westbrook, die sich 1816 durch Suizid das Leben nahm. In diesen Jahren engagierte sich der Dichter 1811 in Dublin für das Selbstbestimmungsrecht der Iren und wohnte anschließend in Südwest-England und in Wales. Dort veröffentlichte Shelley „A Letter to Lord Ellenborough“ (1812), eine Verteidigungsschrift für den wegen Religionskritik verurteilten Verleger Daniel Isaac Eaton (1753-1814).
Nach einem Anschlag auf ihn zog Shelley 1813 wieder nach London. Dort legte er mit „A Refutation of Deism“ (1814) ein öffentliches Bekenntnis zum Atheismus ab und lernte William Godwin (1756-1836), einen radikalen Anhänger der Französischen Revolution und anarchistischen Frühsozialisten, kennen. Und verliebte sich in dessen sechzehnjährige Tochter Mary (1787-1851), die er zur Jahreswende 1816/17 heiratete. Mary Goodwin, später Shelley (auch Mary Wollstonecraft Shelley) wurde eine erfolgreiche Schriftstellerin, etwa von Schauergeschichten wie Frankenstein (1818) und historischen Romanen. Sie
edierte auch Shelleys erste Werkausgabe. 1816 bereisten Shelley und Mary Godwin Frankreich und die Schweiz, wo sie beide im Kreis von Lord Byron auf der Villa Diodati weilten und literarische angeregt wurden. Nach London zurückgekehrt, verkehrten die Shelleys mit progressiven englischen Schriftstellern wie Thomas Love Peacock (1785-1866), Leigh Hunt (1784-1859), William Hazlitt (1778-1830) und dem früh verstorbenen John Keats (1795-1821).
In den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts befand sich England in
wirtschaftlichem, sozialem und politischem Umbruch, zusätzlich angetrieben durch die napoleonische Expansions- und Reformpolitik. Die Kontinentalsperre förderte im Innern des Landes die Industrialisierung und außenpolitisch die wirtschaftsimperiale Expansion.
Dies führte zu großen sozial-politischen Unruhen und erzwang Reformen. In diesen
Auseinandersetzungen engagierte sich Shelley mit „An Adress to the People on the Death of the Princess Charlotte“ (1817) für eine Wahlrechtsreform und solidarisierte sich mit den streikenden Arbeiter der Baumwollindustrie in Manchester im August 1819 mit „The Mask of Anarchy“.
Die kommenden Jahre verbrachten die Shelleys im italienischen San Guiliano, Livorno und Pisa, wo sich um Keats, Shelley und Byron ein fester Freundeskreis von idealistischen Freiheitskämpfern für die nationale Unabhängigkeit von Italien, Griechenland, Spanien und zur Unterstützung sozial unterdrückten Schichten im Vereinigten Königreich gebildet hatte. Dort erarbeitete Shelley auch seine lyrischen Dramen „Prometheus Unbound“ und „Hellas“. Am 8. Juli 1822 verstarb Shelley, erst 29jährig, überraschend bei einer mit zwei Freunden unternommenen Segelschifffahrt vor Livorno.
Engagierte ganzdeutsche Linkspolitiker müssen nicht unbedingt Shelleys 'Ye are many – they are few' zitieren können. Aber verkehrt wär's nicht, wenn sie wenigstens einige Verse von Bertolt Brechts Poem „Der anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy“ (1947)4, das sich an Shelleys „The Mask of Anarchy“ anlehnt, wiedergeben könnten. Oder wenn auf politischen Versammlungen öffentlich wenigstens einige Zeilen der Adaption des Brechtpoems in seiner Neuvertonung durch Franz Josef Degenhardt5 angestimmt würden:
„Dann die Laien-Ideologen
bunt und lustig angezogen:
Werbeleute, Intendanten
Redakteure, Obskuranten,
die sich krumm prostituierten
und für alle Herren schmierten,
die Bestechungssummen boten.
Die mit ihren feuchten Pfoten
lobten laut das freie Wort,
hochbezahlt an jedem Ort.
Freiheit.“
Percy Bysshe Shelley: „There Is No God“. Religions- und Herrschaftskritik. Hg. Heiner Jestrabek. Reutlingen: Verlag Freiheitsbaum; edition Spinoza, 2019, 171 Seiten, 14 €, ISBN 978-3-922589-71-6 [Seitenabgaben hiernach. Linküberprüfungen am 25. März 2019].
1 https://www.youtube.com/watch?v=kAbZ7NXVc1w; zu Corbion (n. 1949) https://en.wikipedia.org/wiki/Jeremy_Corbyn
2 „Auf wie aus dem Schlaf der Leu,
Schüttelt ab der Tyrannei
Joch, wie leichten Morgentau,
das im Schlummer auf euch fiel:
Sind sie wenig, ihr seid viele!“
(S. 169: Übersetzung von Julius Seybt 1844)
3 Herweghs Werke in einem Band. Ausgewählt und eingeleitet von Hans-Georg Werner. Berlin-Weimar: Aufbau-Verlag, 1967, S. 232f.
4 Bertolt Brecht: Der anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy. In: Bertolt Brecht.Gesammelte Werke, Band 10. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1967, S. 943-947
5 https://www.youtube.com/watch?v=v0j5zS-XHnc
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The Mask of Anarchy oder Freiheit und DemocracyWir sind viele – sie sind wenigvon Wilma Ruth AlbrechtAls Jeremy Bernhard Corbyn als britische Gewerkschaftsfunktionär und Labourpolitiker imJuni 2017 auf dem Gladstonbury Music Festival sprach1, zitierte er unter tosendem Beifalldie Schlußstrophe von Percy Bysshe Shelleys „The Mask of Anarchy“ (S. 163)„Rise like Lions after slumberIn unvanquishable number --Skake your chains to earth like dewWhich in sleep ha ?d fallen on you --Ye are many – they are few.“2Den letzten Vers nahm auch Georg Herwegh (1817-1875) zum Motto für das von ihmverfasste „Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ (1863)3, eine derVorläuferorganisationen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD).So gesehen, gehören Poeme des englischen Dichters Percy Bysshe Shelley (1792-1822)nicht nur zum Kulturgut der englischen Arbeiterbewegung. Sondern auch zur deutschen undihrer jungen, aufstrebenden Sozialdemokratie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.Im heutigen Deutschland mit seinem so oberflächlichen wie marktgängigenKulturrelativismus, seinem wahnhaftem Irrationalismus und seiner triumphalischenHäßlichkeit soll ein feinsinniger Verseschmied mit aufklärerischem Impetus keinen Platzhaben.Gut und richtig also, dass Heiner Jestrabek dagegenhält, kontraktpunktisch an Shelleyerinnert und einige seiner Dichtungen sowohl im Original als auch in (alter) deutscherÜbersetzung wieder zugänglich macht.Der Band ist übersichtlich aufgebaut: Als Motto sind Verse aus dem siebten Teil desVerspoems „Feenkönigin Mab“ - „Here is no God!“ - sowie Herweghs Gedicht „Shelley“(1841) vorangestellt (S. 6). Dann folgt eine von Heiner Jestrabek verfasste, mit zahlreichenzeitgenössischen Abbildungen illustrierte „Einführung“ zu Percy Bysshe Shelley (S. 7-32).1 https://www.youtube.com/watch?v=kAbZ7NXVc1w;zu Corbion (n. 1949) https://en.wikipedia.org/wiki/Jeremy_Corbyn2 „Auf wie aus dem Schlaf der Leu,Schüttelt ab der TyranneiJoch, wie leichten Morgentau,das im Schlummer auf euch fiel:Sind sie wenig, ihr seid viele!“ (S. 169: Übersetzung von Julius Seybt 1844)3 Herweghs Werke in einem Band. Ausgewählt und eingeleitet von Hans-Georg Werner. Berlin-Weimar: Aufbau-Verlag, 1967, S. 232f.
Der folgende Dokumententeil enthält eine Übersetzung des 1811 publizierten vollständigenTextes von Shelleys „The Necessity of Atheism“ (Die Notwendigkeit des Atheismus) (S. 33-47), seine „Queen Mab. Philosophical Poem with Notes“ im englischen Original sowie indeutscher Übersetzung (S. 48-158) und sein schon erwähntes Gedicht „The Mask ofAnarchy. Written on the Occasion of the Massacre of Manchester 1819“ (S. 159-169). DenBand rundet ein Literaturverzeichnis (S. 170-171) ab.Percy Bysshe Shelley war und ist neben George Gordon Byron (Lord Byron) (1788-1824)und John Keats (1795-1821) ein bedeutender Dichter der englischen Romantik. Er wurdeim südenglischen West-Sussex als Sohn eines reichen Grundbesitzers undParlamentsabgeordneten der Whigs geboren, erhielt eine exklusive Schulbildung,entwickelte schon früh literarische Neigungen und später auch philosophische Interessen,die ihn zum Atheismus führten. Nach der Veröffentlichung von „The Necessity of Atheism“(1810/11) wurde er der Universität verwiesen und lebte zunächst recht mittellos in London.Dort verfaßte er 1811 die 1813 veröffentlichte utopische Verserzählung „Queen Mab“. (DieFeenkönigin Mab gilt als Symbol der Freiheit.) Im Poem wird „eine dichterische Vision vonder Zukunft der Menschheit ... als Perspektive zur Überwindung von Monarchie undPriestertum hin zu einer freien Gesellschaft“ (S. 11) entworfen. „Queen Mab“ galt später -so der Literaturwissenschaftler Hans-Peter Ecker - als „ ?Kultbuch ? der Arbeiterbewegung“(S. 12).Shelley heiratete 1811 die erst fünfzehnjährige Harriet Westbrook, die sich 1816 durchSuizid das Leben nahm. In diesen Jahren engagierte sich der Dichter 1811 in Dublin für dasSelbstbestimmungsrecht der Iren und wohnte anschließend in Südwest-England und inWales. Dort veröffentlichte Shelley „A Letter to Lord Ellenborough“ (1812), eineVerteidigungsschrift für den wegen Religionskritik verurteilten Verleger Daniel Isaac Eaton(1753-1814).Nach einem Anschlag auf ihn zog Shelley 1813 wieder nach London. Dort legte er mit „ARefutation of Deism“ (1814) ein öffentliches Bekenntnis zum Atheismus ab und lernteWilliam Godwin (1756-1836), einen radikalen Anhänger der Französischen Revolution undanarchistischen Frühsozialisten, kennen. Und verliebte sich in dessen sechzehnjährigeTochter Mary (1787-1851), die er zur Jahreswende 1816/17 heiratete. Mary Goodwin,später Shelley (auch Mary Wollstonecraft Shelley) wurde eine erfolgreiche Schriftstellerin,etwa von Schauergeschichten wie Frankenstein (1818) und historischen Romanen. Sieedierte auch Shelleys erste Werkausgabe.1816 bereisten Shelley und Mary Godwin Frankreich und die Schweiz, wo sie beide imKreis von Lord Byron auf der Villa Diodati weilten und literarische angeregt wurden. NachLondon zurückgekehrt, verkehrten die Shelleys mit progressiven englischen Schriftstellernwie Thomas Love Peacock (1785-1866), Leigh Hunt (1784-1859), William Hazlitt (1778-1830) und dem früh verstorbenen John Keats (1795-1821).In den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts befand sich England inwirtschaftlichem, sozialem und politischem Umbruch, zusätzlich angetrieben durch dienapoleonische Expansions- und Reformpolitik. Die Kontinentalsperre förderte im Innerndes Landes die Industrialisierung und außenpolitisch die wirtschaftsimperiale Expansion.
Dies führte zu großen sozial-politischen Unruhen und erzwang Reformen. In diesenAuseinandersetzungen engagierte sich Shelley mit „An Adress to the People on the Death ofthe Princess Charlotte“ (1817) für eine Wahlrechtsreform und solidarisierte sich mit denstreikenden Arbeiter der Baumwollindustrie in Manchester im August 1819 mit „The Maskof Anarchy“.Die kommenden Jahre verbrachten die Shelleys im italienischen San Guiliano, Livorno undPisa, wo sich um Keats, Shelley und Byron ein fester Freundeskreis von idealistischenFreiheitskämpfern für die nationale Unabhängigkeit von Italien, Griechenland, Spanien undzur Unterstützung sozial unterdrückten Schichten im Vereinigten Königreich gebildet hatte.Dort erarbeitete Shelley auch seine lyrischen Dramen „Prometheus Unbound“ und „Hellas“.Am 8. Juli 1822 verstarb Shelley, erst 29jährig, überraschend bei einer mit zwei Freundenunternommenen Segelschifffahrt vor Livorno.Engagierte ganzdeutsche Linkspolitiker müssen nicht unbedingt Shelleys Ye are many –they are few zitieren können. Aber verkehrt wär ?s nicht, wenn sie wenigstens einige Versevon Bertolt Brechts Poem „Der anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy“(1947)4, das sich an Shelleys „The Mask of Anarchy“ anlehnt, wiedergeben könnten. Oderwenn auf politischen Versammlungen öffentlich wenigstens einige Zeilen der Adaption desBrechtpoems in seiner Neuvertonung durch Franz Josef Degenhardt5 angestimmt würden:„Dann die Laien-Ideologenbunt und lustig angezogen:Werbeleute, IntendantenRedakteure, Obskuranten,die sich krumm prostituiertenund für alle Herren schmierten,die Bestechungssummen boten.Die mit ihren feuchten Pfotenlobten laut das freie Wort,hochbezahlt an jedem Ort.Freiheit.“Percy Bysshe Shelley: „There Is No God“. Religions- und Herrschaftskritik. Hg. HeinerJestrabek. Reutlingen: Verlag Freiheitsbaum; edition Spinoza, 2019, 171 Seiten, 14 €,ISBN 978-3-922589-71-6 [Seitenabgaben hiernach. Linküberprüfungen am 25. März 2019].~ 7.845 Gesamtbruttozeichen4 Bertolt Brecht: Der anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy. In: Bertolt Brecht.Gesammelte Werke, Band 10. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1967, S. 943-9475 https://www.youtube.com/watch?v=v0j5zS-XHnc