Finanzkapitalismus – ein Faulenzersyndrom (1)

03.01.19
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Von Franz Schneider, Saarbrücken

Seit vierzig Jahren sind mächtige Akteure in Banken- und Finanzwelt am Werk, die jeden sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zerstören. Sie tun es, getreu dem saudummen Ausspruch Margaret Thatchers (1981) "There is no such thing as society, only individual men and women and their families". Hinter diesem Vernichtungsfeldzug gegen das Soziale schlechthin steht die neoliberale Ideologie.

Wie lässt sich überhaupt eine solche Position begreifen? Mein Aufklärungsvorschlag greift auf Gedanken des österreichischen Volkswirtschaftlers Stefan Schulmeister2 zurück. Er unterscheidet zwischen einer „realkapitalistischen Spielanordnung“ und einer „finanzkapitalistischen Spielanordnung“. Die erste, so sagt er, bestimmte die dreißigjährige Nachkriegsperiode. Diese schlug dann in den siebziger Jahren in die zweite um, welche bis heute andauert. Der ersten lag das Prinzip einer durchaus durch Eigeninteressen bestimmten Form von Kooperation zugrunde („sozialer Eigennutz“), der zweiten das Prinzip eines durch Geldgier bestimmten extremen Konkurrenz-Egoismus („egoistischer Eigennutz“). Im Realkapitalismus wollte der Unternehmer natürlich auch seine Rendite machen, aber er musste sie in einer mehr oder weniger konflikthaften Weise mit den Arbeitnehmern, den Gewerkschaften und seinen Lieferanten aushandeln. Der Unternehmer war also bereit, den anstrengerenden Umweg über die Warenproduktion zur Rendite zu gehen. Im Finanzkapitalismus ist diese Bereitschaft zur Kooperation verschwunden, Bedingungen werden schonungslos aufoktroyiert, dem Umweg über die Warenproduktion wird der direkte Weg zur Rendite vorgezogen.

Es gilt nicht mehr die Marxsche Formel Geld > Ware > Geld‘, sondern Geld > Geld‘. Beide Formeln lassen sich mit den Namen von bekannten Ökonomen in Verbindung bringen. Die erste mit dem Briten John Maynard Keynes (1883-1946), die zweite mit dem Franzosen Jean Baptiste Say (1767-1832), ohne dass dieser sich dessen zu seiner Zeit bewusst gewesen sein musste.

Die Position von Keynes lässt sich etwa so veranschaulichen: wenn ein Investor zur Bank geht und einen Kredit aufnimmt, um ihn für die Herstellung eines Produkts zu verwenden, das mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit seine Abnehmer finden wird, dann ist das volkswirtschaftlich gut so. Wenn eine Gemeinde zur Bank geht, um einen Kredit für den Bau von dringend notwendigen  Sozialwohnungen zu bekommen, dann ist das auch volkswirtschaftlich gut so. Es lohnt sich, Geld vorzustrecken. Denn durch das Ergebnis werden Werte geschaffen, die für die Gesellschaft bzw. die Lebensqualität von Vorteil sein werden. Mit ihren Geldäquivalenten Gewinn / Steuern / Einsparung von Ausgaben für „soziale Reparaturen“ aufgrund ungünstiger Lebensbedingungen lassen sich die Vorschussgebühren (Zinsen) bezahlen.

Die Finanzkapitalisten können mit Keynes wenig anfangen. Warum sollte man sich weiterhin mit unverschämten Gewerkschaften, aufmüpfigen Betriebsräten, übergeschnappten Lieferanten, sozialen Problemen herumschlagen? Say kommt ihnen da sehr viel mehr entgegen. In dessen Weltbild spielen verhaltensökonomische Aspekte des Unternehmers / Investors gar keine Rolle. Solche „menschlichen“ Erwägungen haben da keinen Platz. Seine Kalkulation lautet so: Wenn ich mehr ausgebe, dann müssen andere weniger ausgeben. Die sollen sich glücklich schätzen, dass ihnen bald etwas Schönes angeboten wird. Das können sie dann ja kaufen. Das Angebot schafft sich seine Nachfrage, so glaubte er, und vergaß dabei, dass er kein Weihnachtsmann ist. Denn womit die unterstellte Nachfrage bezahlt werden sollte, das war kein Problem für Say. Der sich selbst regulierende „Markt“ in Form einer „unsichtbaren Hand“ regelt das irgendwie irgendwann über den Preis. In Griechenland warten die Menschen nach einer brutal verordneten Austeritätspolitik immer noch auf diese Hand. In Spanien wurde einer ganzen jungen Generation diese Hand versagt. Die „Gelben Westen“ in Frankreich haben auch jahrelang vergeblich auf diese Hand gewartet. Das Modell Says idealisiert wirtschaftliche Realitäten dermaßen, dass es realitätsuntauglich ist. Es ist in hohem Maße hypothetisch und spekulativ. Es verweigert sich der Realität.

Der Finanzkapitalist verhält sich oberflächlich betrachtet so wie der Arbeitslose, dessen Qualifikation nicht den Anforderungen der Realwirtschaft entspricht und der in die Spielhalle geht, um sein Glück zu versuchen. Doch ein grundlegender Unterschied trennt die beiden, der Arbeitslose kann „nur“ sich selbst und seine Familie zerstören, der Finanzkapitalist entfaltet dagegen eine geradezu kriminelle Energie, indem er ganze Gesellschaften zerstört. Im Finanzkapitalismus spiegelt sich eine von den Geld- und Finanzeliten vor der Öffentlichkeit mit allen Tricksereien und kriminellen Gaunereien kaschierte Unfähigkeit, gesellschaftliche Realitäten zu bewältigen. Das nennt man Realitätsverweigerung. Die besten Beweise hierfür liefern riesige Multis, die sich aufs Bankgeschäft (VW-Bank etc.) verlegen und mehr durch Finanzspekulationen als durch reale Güterproduktion verdienen.

Die Bedingungen für die heutige weltweite Dominanz des Finanzkapitalismus fielen nicht über Nacht vom Himmel. Auch das zeigt Schulmeister auf. Die Voraussetzungen hierfür wurden gezielt geschaffen.

- Geld- und währungspolitische Voraussetzungen: mit der Aufgabe des Bretton-Woods-Systems durch Nixon 1971 und der damit verbundenen Aufhebung der Goldbindung des Dollars ging ein erheblicher Vertrauensverlust in die weltweite Leitwährung einher. Das bisherige System fester Wechselkurse ging in die Brüche. Es kam zu einer Liberalisierung der Währungsbeziehungen. Diese wurden immer stärker durch den „Markt“ als von Regierungen und Zentralbanken bestimmt. Hohe Renditeansprüche von weltweit vagabundierendem Kapital brachten schnell Zins- und Wechselkurse und Rohstoffpreise ins Wanken. Es entstand ein System höchster Instabilität und Zukunftsunsicherheit, also genau ein solches, das die Spekulation in sich trägt wie die Wolke den Regen.

- Moralökonomische Voraussetzungen: wie kann man ein solches System, das Sozialkörper und Solidargemeinschaften zerstört, der Weltöffentlichkeit „verkaufen“. Hier treten die ideologischen Apostel der neoliberalen Lehre auf den Plan. Der Österreicher Friedrich August von Hayek (1899-1992) und der Chicago-Ökonom Milton Friedman (1912-2006) streuten folgende „Weisheiten“ unters „dumme Volk“: Sozialismus, Sozialstaat und staatliche Eingriffe führten direkt in die Knechtschaft, Gewerkschaften seien überflüssig, mehr Beschäftigung gebe es nur gegen den Abbau des Sozialstaats, Vollbeschäftigung sei nur in der Planwirtschaft möglich, es gebe so etwas wie eine natürliche oder strukturelle Arbeitslosenquote, eine Regulierung der Finanzmärkte sei unnötig, denn Freiheit bestehe darin, dass der Staat für die Freiheit der Finanzmärkte sorge und das angestaute Vermögen nicht antaste, Wettbewerb und Preissystem regelten alles, Inflationen seien immer durch die Notenbank verursacht.

Unterstützung für die weltweite Verbreitung ihrer Irrlehren fanden sie bei Unternehmerverbänden, Stiftungen Vermögender, der Mont-Pelerin-Gesellschaft, zahlreichen Thank Tanks und natürlich bei den politischen Speichelleckern und Wasserträgern der geldmächtigen neoliberalen Faulenzer. Genannt seien beispielhaft Pinochet, Ronald Reagan, Margret Thatcher, Tony Blair, Gerhard Schröder ... Manuel Macron.

 

1 Der Artikel darf auf keinen Fall so gelesen werden, als ob sich der Autor kritiklos mit den Bedingungen des Realkapitalismus identifiziere.

2 Stefan Schulmeister (20182): Der Weg zur Prosperität







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