von Gerd Elvers
Kritisches zur sozialen Gerechtigkeit
Dass Deutschland Weltmeister ist, kommt nicht von ungefähr. Fußball ist die letzte Erinnerung an den proletarischen Internationalismus auf kapitalistischer Konkurrenzbasis. Und in der Perfektionierung kapitalistischer Konkurrenz- regeln auf globaler Ebene ist Deutschlands Ökonomie unschlagbar.
Die 'corporate identity', genannt deutsche Tugenden, wie Disziplin in intelligenten Teams, klare Zielvorgaben und der Einsatz geeigneter Methoden durch den auf Effizienz trimmenden Trainer, dazu hohe Motivation, die finanziell belohnt wird, sowie der Einsatz von komplexen, vernetzten multivariablen Methoden zur Steigerung der Produktivität sind in Unternehmen wie in der deutschen Mannschaft gemeinsam. Gesellschaften und Unternehmen, die diese Fähigkeiten nicht oder nur mangelhaft besitzen, die in ökono- mischen Krisen stecken, scheiden unter blamablen Vorzeichen vorzeitig aus, wie Spanien, Portugal, Brasilien.
Poetik des Fußballs und Kapitalismus
Was aber neben dem politischen und ökonomischen Aspekt des Fußballs als Spiel seine Faszination ausmacht, hat der Sportwissenschaftler und Philosoph Gunter Gebauer in seinem Buch „Poetik des Fußballs“ dargestellt (1).
Es geht um die Verzauberung des Publikums mit dem Ball, um die Ästhetik tänzerischer Eleganz, um Zufall, dem man mit Gewalt durch Verletzungen von Regeln beikommen will, es geht um Sieg oder Niederlage, über die die Fußballgötter letztlich in ihrem Olymp entscheiden. Das Fußballfeld weitet sich zur Arena des Lebens, das Phänomen Fußball bietet viele Facetten der Postmoderne.
Wir bleiben bei der Ökonomie – genauer der Industrie - als den bewegenden Motor der Gesellschaft. Wir kommen zur Frage: Was sind die Ursachen für den beispiellosen Aufschwung der deutschen Industrie in den letzten Jahrzehnten, die sogar die sie beutelnde Finanzkrise 2007/9 kompensieren konnten – als eines der wenigen Industrieländer weltweit? Wie konnte es zu diesem „zweiten Wirtschaftswunder“ kommen?
In Deutschland wurde die Mär in die Öffentlichkeit gesetzt, dass Gerhard Schröder mit Hartz IV die Bundesrepublik krisenresistent geschmiedet hätte. Das europäische Ausland fällt darauf rein. Der französische Präsident ernannte den Herrn Hartz zum offiziellen Regierungsberater. Hollande greift in seiner Not, die Faschistin Le Pen vom Präsidentenamt fern zu halten, zu einem Mann, der aus der VW-Kasse 2 Millionen Euro an „seinen“ VW-Betriebsratsvorsitzenden für dessen brasilianischen Geliebten und „Lustreisen“ zuwendete und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde.
Zweites „Wirtschaftswunder“ trotz Finanzkrise
Bei Hartz IV soll es um mehr Fördern und Fordern (bei den Arbeitslosen) gehen. Tatsächlich ist der stabilisierende Beitrag von Hartz IV in dem Schurigeln der noch-Beschäftigten zu sehen, die sich nach der Reform dem Abgrund ihrer Existenz nahe gerückt sehen, hinter dem der freie Fall lauert.
Hartz IV hat zur stärkeren Disziplinierung der Arbeitnehmer im Sinne der Kapitalinteressen geführt, zur weiteren Schwächung der Gewerkschaften und Lohndrückerei. Insofern ist Hartz IV das staatliche „Beiwerk“ zu dem, was massenhaft auf betrieblicher Ebene das Kapital „reformierte“.
In den letzten beiden Jahrzehnten setzten die Manager in der Industrie und in den industrienahen Dienstleistungen ihre Fitness-Programme zur Festigung und zum Ausbau ihrer globalen Konkurrenzstellung durch. Während alle anderen europäischen Länder eine tiefgreifende Deindustrialisierung – man kann von einer Zerstörung industrieller Kerne sprechen – einleiteten, zum Teil durch die Politik gefördert wie Frau Thatcher in England, die die Finanzwirtschaft förderte, und die westliche Welt sich der Illusion einer „Zukunft der Dienstleistungsgesellschaft“ hingab, konnte die deutsche Industrie ihren prozentualen Anteil an der Gesamtproduktion ausweiten.
Im europäischen Vergleich konnte in ähnlicher Weise nur die Tschechische Republik ihr industrielles Gewicht ausbauen – trotz der plötzlichen Ausgesetztheit an den globalen Weltmarkt. Geholfen hat ihr ein flexibler Wechselkurs ihrer konvertibel gewordenen Währung, eine entschiedene staatliche Gegenwehr gegen ausländische Destruktionen und zugleich das Anlocken von internationalem Kapital auf der Grundlage einer traditionell gut qualifizierten Industriearbeiterschaft bei niedrigen Löhnen.
In Deutschland kam noch eine besondere politische Komponente hinzu. In Kooperation mit den Arbeitgeberverbänden entfachte die Regierung eine Kampagne um den „Standort Deutschland“, der eine angebliche Gefährdung der deutschen Exportindustrie in einem global verschärften Wettbewerb auf die Fahnen geschrieben hatte. Wie bei Hartz IV hatte sie den Zweck, der Öffentlichkeit, den Arbeitnehmern und Gewerkschaften zu suggerieren, dass falls es nicht zu Lohnkostenreduktionen käme, die Konzerne deutsche Arbeitsplätze verstärkt ins Ausland verlegen würden.
Lohnverzicht im Tausch für die Sicherung von Arbeitsplätzen wurden in Betriebsvereinbarungen geregelt, die die Betriebsräte über die Köpfe der Gewerkschaften mit den Managern abschlossen. Nach Berechnungen des Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, sind in den letzten 15 Jahren die Reallöhne von mehr als der Hälfte der deutschen Arbeitnehmer gefallen.
Neben solchen Einschüchterungen griffen die Unternehmen verstärkt zu Rationalisierungen, zu Büro-Modernisierungen durch die neuen PC-Techniken in Verbindung mit dem Web, zum Lagerabbau durch „First In First Out“, zu Marktstrategien, in denen sich auch die mittleren Unternehmen bewährten, indem in Marktnischen weltweit über tausend mittlere Unternehmen Weltmarktführer wurden, zu Produktverbesserungen, angepasst am internationalen Bedarf sowie zu verbesserten internen Produktionsabläufen.
Die Wiedervereinigung versorgte die (west)deutsche Industrie mit willigen und produktiven Ost-Arbeitskräften, nachdem die Treuhand die Ost-Industrien zerstört hatte. Dass es auch anders hätte gehen können, zeigt die Tschechischen Republik. Das totalen Ausbluten von Mecklenburg-Vorpommern verhindern nur die teuren Mieten im Westen, so dass viele Tages- oder Wochenpendler von Stralsund nach Hamburg wechseln.
Ein dritter Faktor ist zu erwähnen: Mehr Innovation und Initiative – neben den Programmen zur Kostenreduktion - förderte die Einführung des Euros. Nicht mehr Wettbewerbsvorteile durch Währungsschwankungen waren im Euro-Raum angesagt. Der Euro verschaffte der deutschen Industrie neue Wettbewerbsvorteile, weil er von den exportorientierten Unternehmen den permanenten Aufwertungsdruck der DM zu den europäischen Währungen nahm. Andererseits konnte durch die Aufwertungen des Euros zum Dollarraum die Unternehmen sich mit billigeren Rohstoffen eindecken, die überwiegend über den Dollar abgewickelt wurden.
Die klassischen deutschen Industriestrukturen wie Autos, Maschinenbau einschließlich Automaten, Chemie, Energie und neue wie IT-Technologie, Gesundheit, Umweltschutz trafen und treffen den Bedarf internationaler Kunden besonders in Asien, wo in den letzten Jahrzehnten ein riesiger neuer Markt entstand. Die Exportindustrie wurde noch mehr als in der Vergangenheit zum Motor einer robusten Konjunktur. Durch weitere Absatz-Diversifikation konnten die Ausfälle im krisengeschüttelten Südeuropa durch Expansionen und Erschließungen neuer Märkte aufgefangen werden.
Profite der Industrie nähren Finanzkrise
Eine fundamentale Bedrohung des Industriesektors bedeutete die Finanzkrise. In Deutschland lag die Gefahr weniger in dem Blockieren von Kreditausreichungen von den Banken zur Industrie wie in anderen Ländern als darin, dass eine generelle Zerrüttung des spekulativ tätigen Finanzsektors die reale Wirtschaft mit in den Untergang reißen könnte. Zu der Entstehung der spekulativen Blasen hatte die Industrie selber beigetragen.
Die industrielle Performance hatte Milliarden Extra-Profite generiert, die nach Anlage im Finanzsektor gierten, weil sie nicht zum realen Sektor in der Form von Neuinvestitionen zurück geführt wurden. Also tummelten sie sich im virtuellen Sektor herum, immer auf der Suche nach der höchsten Rendite. Normalerweise hätte der Staat diese Profite über (Reichen)Steuern abschöpfen müssen, um sie in seine marode Infrastruktur und in eine fundierte Basisfinanzierung der zukünftigen Renten zu investieren.
Aber diesen vorausschauenden, verantwortlichen Staat aus den Zeiten des Rheinischen Kapitalismus gab es nicht mehr. Die „soziale Marktwirtschaft“ hat einer fundamentalen Zäsur Platz gemacht: dem 'Shareholder'-Kapitalismus.
Maskierte Verteilungsdebatte: Managergehälter Peanuts gegenüber Kapitalprofite
Der Shareholder- Kapitalismus ist die Zielfokussierung der Unternehmenspolitik auf eine bedingungslose Profitmaximierung zugunsten der Kapitaleigner und Derivat-Investoren. Ein maximaler Profit treibt die Aktienkurse nach oben, erleichtert die Besorgung von frischem Geld über die Börse, mit dem die Marktmacht ausgebaut werden kann, erhöht das Vermögen der Reichen und Superreichen und gibt ihnen das Spielgeld für Spekulationen im Finanzsektor.
Die Kapitaleigner binden ihre Manager in deren operativen Geschäft über „erfolgsorientierte Boni“. Lächerlich das Gejammere in der Öffentlichkeit über angeblich zu hohe Boni und die Deckelung der Obergrenzen durch die EU auf die Grundgehälter. Im Verhältnis zu dem, was die Kapitaleigner kassieren, sind die ein paar Millionen, den die Konzernmanager einstecken, peanuts. Weil sie wissen, dass durch ihre operative Geschicklichkeit sie ihren Eignern das Mehrfache zuschustern, verstehen sie die öffentliche Schelte nicht, die sich auf sie konzentriert.
Sie befürchten, dass falls sie zu hoch gepokert haben, sie bei dem Seiltanz mit hohem Risiko herunterfallen können. Ihre Malaise ist, dass es einen fatalen Zusammenhang zwischen Profitmaximierung und Risiko gibt. Je mehr sie ein Risiko eingehen, desto höher ist das Gewinnversprechen.
Kaltstellung von Alternativdenkern
Der Paradigmenwechsel vom rheinischen zum Shareholder-Value-Kapitalismus, zur „Neuen Sozialen Marktwirtschaft“, fällt mit den Erfolgen des industriellen Sektors zusammen. Es bot sich an, das aufgefrischte Erfolgsmodell Deutschland dem radikalen Marktliberalismus zuzuschreiben. Wer dem entgegen stand, wie Altliberale, Vertreter einer sozialen Republik auf dem Boden des Grundgesetzes, kritische Gewerkschafter, alternative Wirtschaftswissenschaftler wurde in die Ecke gestellt. Diese „ideologischen Säuberungen“ kamen nicht dramatisch her, mit Entlassungen, Pressionen wie im SED-Staat oder im Adenauer-Staat gegen Kommunisten oder gegen den Gewerkschafter Agartz. Dahinter stand kein zentralisierter politischer Machtplan. Für die ideologische Bereinigung reichten subtile Methoden im institutionellen Bereich wie in der Zivilgesellschaft.
Im institutionellen Bereich sind es die internen Apparat von Regierungen, Parteien, Gewerkschaften, Wissenschaften und Bildungssystemen, wo Alternativdenker „kalt gestellt werden. Es ist ein institutionalisiertes „brain washing“ - oft unbewusst dem „politischen Mainstream“ folgend. Diesem Sog konnten sich nur scheinbare „kapitalismusferne Felder“ entziehen wie Umweltschutz und alternative Energiepolitik. Die alten Hülsen des Staates, des Wissenschaftsapparates, der Institutionen existieren noch, sie spiegeln aber eine Scheinordnung vor, die keine Realität ist. Neben dieser institutionellen Ebene kommen die Einbrüche in die Zivilgesellschaft. Die Gedanken, die Überzeugungen, die Verhaltensweisen und Handlungen haben nicht allein die verantwortlichen Entscheidungsträger vom Neoliberalismus infiltriert sondern ebenso die Wählermassen, wie die letzte Bundestagswahl beweist. Haufenweise liefen die Hartz IV Empfänger von der Linkspartei zur CDU/CSU über. Der Einsatz des tapferen Trittin zugunsten von mehr sozialer Gerechtigkeit stieß bei den Wählern auf taube Ohren. Da ist es nur konsequent, dass die neoliberale Marktwirtschaft von SPD und Union als alternativlos hingestellt wird, so dass Wirtschaftsminister Gabriel endgültig von einer Reichensteuer Abschied genommen hat. Gabriel plant, seine Partei auf den Versöhnungskurs mit dem Kapital zu setzen, verbrämt als „Mittelstandspolitik“. Aber anders als bei den institutionellen Trägern, denen eine gewissen Beharrlichkeit zu eigen ist, bedarf es bei den Massen eine ständige Legitimierung der neoliberalen Ordnung durch den ökonomischen Erfolg.
Singapore als Vorbild Deutschlands
Diese ideologische Bereinigung betrifft alle Bereiche der Gesellschaft. Zum Beispiel das Schleifen der alten Humboldt-Universität durch die „Bologna-Reform“. Und dieser oft stille Prozess der neoliberalen Indoktrination ist noch nicht abgeschlossen, wie aktuelle Ereignisse im Bildungssektor und universitären Bereich aufzeigen. Im Zusammenhang mit dem bayerischen Streit um das geltende acht- (G 8) oder die wahlweise Wiedereinführung eines neunjährigen Gymnasiums (G 9), das bei der Volksabstimmung schmählich gescheitert ist, stellt Dororit Bosse, Professorin am Institut für Erziehungswissenschaft an der Uni Kassel fest: „Wir merken zunehmend, das es den Lernenden schwer fällt, eigene Fragen zu entwickeln. Selbständig und kritisch denkende, reflektierende Erstsemester? Fehlanzeige“ (2). Zum Verständnis: Das alte G-9-System bedeutet mehr Zeit im Unterricht, mehr Zeit für Themen außerhalb der auf kapitalistische Verwertung getrimmten Pauk-Fächer oder mehr Freiheit in Leistungskursen. China, Südkorea, Singapore lassen grüßen. Sie sind die Bildungs-Ideale der deutschen Großkonzerne in der „Neuen Sozialen Marktwirtschaft“, ohne überflüssiges Rankenwerk mit Orchideen-Themen. Dort werden preiswert die kritiklosen Studenten für den reibungslosen kapitalistischen Verwertungsprozess produziert. Deshalb spricht sich auch das Arbeitgeberinstitut „Neue Soziale Marktwirtschaft“ für G 8 aus.
Universitärer Widerstand durch Real World Economics
Zunehmend stellen sich eine wachsende Zahl von VWL-Studenten und Dozenten der Dominanz der neo-klassischen Volkswirtschaftslehre an den Unis entgegen, weil sie dort die heutige Realität eines krisengeschüttelten Kapitalismus nicht abgebildet finden. Die herrschende Ökonomielehre ist autistisch: postmoderne Ökonomie. Das herrschende Studium ist eindimensional, engstirnig, über-mathematisiert. Schlicht: Unmodern. Die Bewegung der „Real World Economics“ hat inzwischen die Unis Heidelberg, Mainz, Hamburg erreicht mit wachsender Tendenz (3). Auf der Heidelberger Homepage heißt es: „Die Gemeinwohl-Ökonomie versteht sich als alternatives Wirtschaftssystem, das auf Menschenwürde, Solidarität, Kooperation, ökologischer Verantwortung und Mitgefühl aufbaut. Der Beitrag zum Gemeinwohl wird zur Richtschnur von unternehmerischem Erfolg – Unternehmen messen ihn mit der Gemeinwohlbilanz. An die Stelle von Konkurrenz und Gewinnstreben tritt das kooperative Wirtschaften, bei dem menschliche Werte und Ethik im Unternehmen reaktiviert und nachhaltig verankert werden sollen. Kurz gesagt: Die Wirtschaft soll wieder dem Menschen dienen – und nicht der Mensch der Wirtschaft“.
Trotz dieses erfreulichen Aufbegehrens, was vielleicht auch dem Frust vieler Studenten über den Stress der verschulten Bologna-Universität entspringt, weisen die strukturellen „Reformen“ weiter in die neoliberale Richtung. Beispiel: das Gerangel um die „Hochschule für Politik“ München, eine ehrwürdige Gründung aus der amerikanischen Besatzungszeit, im Rahmen ihres Umerziehungsprogramms der besiegten Deutschen zu Demokratie, freie Debatten, offene Wissenschaftskultur, deren Nutzen ich als Dozent genossen habe. Die Technische Universität als neuer Träger benennt als erstes die Hochschule in „Bavarian School of Public Policy“ um. Die zukünftige Lehrausstattung soll anstelle des bisherigen Einsatzes von Gastdozenten aus den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen fünf besoldete Professoren in der „School of Governance“ sein, in Anlehnung an das berüchtigte „corporate governance“, das sich Konzerne als Mäntelchen über ihre Gier und profitorientierte Regelverstößen überhängen, wie von der Deutschen Bank sattsam bekannt. Der Rektor der TU, Wolfgang Herrmann verkündet, das da ein Politikstudium entsteht, das deutlich konkreter zu möglichen Jobs in Wirtschaft oder Politikberatung führt als das bisherige klassische geisteswissenschaftliche Angebot (4.).
Klagerecht in TTIP nötigt Verfassungsorgane
Im Justizsektor soll durch das Abkommen zum Investitionsschutz zwischen den USA und Europa (TTIP) das Einfalltor weit für internationale Konzerne geöffnet werden. Ihnen soll ein Klagerecht gegenüber dem Gesetzgeber eingeräumt werden, wenn deren Rentabilitätsziele verletzt werden. Normalerweise liefe das auf den Strafbestand der „Nötigung von Verfassungsorganen“ hinaus, aber was heißt schon kriminelle Aktion bei kapitalistischen Investoren? Heute schon laufen weltweit über 450 solcher „Kapitalschutzklagen“, u.a. will der Energiekonzern Vattenfall von Deutschlands Steuerzahlern Entschädigung wegen des Atomausstiegs. Wenn dem Journalisten Andreas Zielcke angesichts solcher frivolen Unverschämtheiten ein entgeistertes: „Wie bitte?“ entfährt, hat er die totale Okkupation des Staates durch das Kapital noch nicht erkannt (5).
Ökonomie, Politik, Justiz im Griff des Kapitals, um diese Felder glatt zu hobeln – da darf die Kultur nicht fehlen. Nicht unbedingt die bildende Kunst, die sich modisch für die Trophäensammlung der Reichen anbietet zur Hebung des Egos oder als Spekulationsobjekt. Aber wenn es nach der kapitalhörigen Politikerklasse geht, soll die üppige Theaterlandschaft geschliffen werden, weil sie zu viel Geld kostet. Traditionsreiche Häuser wie das Schauspielhaus in Düsseldorf, das Wiener Burgtheater, die Semperoper Dresden, die heute schon mehr für eine Biermarke als für Kunst steht, die Theater in Halle, in Dessau, in Eisleben werden finanziell „rasiert“. Statt dessen werden in den Städten weitere Konsumtempel hoch gezogen, und es wird kalkuliert, dass mit dem im Kultursektor Ersparten ein Kilometer Autobahnbau finanziert werden könnte. „Die Theater werden wie Industriefaktoren abgerechnet“, sagt der Intendant Matthias Brenner. „Dem wirtschaftlichen Marktprinzip wird keine Idee mehr entgegengesetzt (6).“ Trotz der Rasur in der Kunst ist eines sicher: An den germanischen Musentempel in Bayreuth wird man nicht Hand anlegen. Wüsste doch dann unsere Mutti Merkel nicht, wie sie einen langweiligen Urlaub auffrischt. Wenn sie im Gefolge der Stiefeltritte eines ihrer Kanzler-Vorgänger auf dem roten Teppich von Bayreuth entlang tapst, winkt die „Götterdämmerung“.
Der kapitalistische Brain-Stream plättet nicht nur die Theater aus finanziellen Gründen, sondern sorgt auch für eine entsetzliche Stromlinienform in der Gegenwartsliteratur. In der „taz“ vom 11. März 2014 beklagt sich Florian Kessler, dass die verwöhnten Groß - Literaten - Kids mit ihren Hornbrillen schrecklich brav seien. Andere beklagen, dass sogar Immigrantinnen sich der herrschenden Ästhetik in der Form süßer, naiver Gastarbeitergeschichten anpassten. Die jüngeren Gegenwartsliteraten entstammten dem Milieu der mittleren und gehobenen Mittelschichten, sie sind die Anwalts-, Professoren-, Arzt- und Lehrerkinder der satten BRD, kurzum die ideologischen Begleiter des Kapitals, die deren grobe Botschaft sublimiert einer breiten Leserschaft vermitteln.
Die Liebe der Unglücklichen zum spektakulären Untergang
Ökonomie, Bildung, Justiz, Kultur im Zugriff des Kapitals stehen in einer neurotischen Zugehörigkeit zueinander. Die Finanzpolitik wird gewöhnlich als ökonomisches Phänomen abgehandelt, als handle es sich um rationale Kalkulation, berechenbare Regeln, Steuerbarkeit. Nichts liegt dem ferner. Die Finanzwelt ist zum Tollhaus mutiert, aus der „Kultur des Risikos“ ist nach dem Philosophen Peter Sloterdijk (7) „die Liebe der Unglücklichen zum spektakulären Untergang“ geworden. Oder wie ich vor zwei Jahren meine Homepage „revolution – heute“ einleitete: „Nach Fjodor Dostojewski empfindet der Spieler Stillstand und Rasanz zugleich. So begannen die Banken-Spekulanten 2008. Die Figuren des Spiels degradieren sich zu Beobachtern des eigenen Unglücks“ (8). Eine Analogie zum ersten Weltkrieg tut sich auf. Wie Christopher Clark meint, bewegten sich die politischen und kriegstreibenden Akteure schlafwandlerisch in die Katastrophe (9), und ähnlich tut es heute die Finanzwirtschaft. Viele Finanzhaie meinen, dass sich das System nicht steuern ließe. Sie müssen es wissen, denn sie sind die Akteure. Sie ändern nicht ihren Kurs. Sie steuern auf unser aller Unglück zu.
Aus kleinen Widerständen zur antikapitalistische Revolte
Widerstand ist angesichts der Tollwütigen angesagt. Zuerst geht es um den „kleinen“ Widerstand, um den Widerstand von Studenten gegen den Neoliberalismus im VWL-Studium oder die Demos der Grünen-Jugend in Rostock, es geht um den „Streik“ von Schülern gegen den Stress an Münchener Schulen, der ein vom bayerischen Kultusminister benannter politischer Streik ist, weil während der Schulzeit und deshalb „eigentlich verboten“, es geht um Dutzende von Aktionen des zivilen Ungehorsams in kurzer Zeit, die wie ein „Schwarmerdbeben“ periodisch die Republik überziehen.
Die kleinen Widerstände summieren sich nicht automatisch zum „großen“ Widerstand. Aber sie verweisen auf die antikapitalistische Revolution, dem Paradigmenwechsel der gesellschaftlichen Ordnung. Die kleineren „Ordnungswidrigkeiten“ haben ihren Platz auf den Straßen. Als Übungsfelder für die großen Aktionen sind sie unverzichtbar. Aus der spanischen Protestbewegung 5-M, in Erinnerung an die Straßendemo am 15. März 2011, ging die linke Partei „Podemos“ (Wir können) hervor, die „aus dem Stand“ 8 Prozent bei der Europawahl erzielte. Aus der Summe der Einzelaktionen kann der Weg aufbereitet werden für das Große, an dessen Ende der Sturz des Kapitalismus in Richtung einer neuen Ordnung steht. Spätestens an diesem Punkt gewinnt der Widerstand eine neue Qualität.
Recht zum Widerstand aus dem Grundgesetz
Beim Gedenken zum 20. Juli im Berliner Bendler-Block beschworen die bürgerlichen Kreise das Recht auf Widerstand, auf die Wiederherstellung der zerbrochenen Freiheit, des Gewissens, der freien Meinung, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie aktuell doch ein solcher Widerstand auch heute sein könnte. Zugegeben. Damals ging es gegen eine mörderische, unmenschliche Diktatur um den Preis des eigenen Lebens, soweit sind wir heute nicht, aber auch damals stellten sich die Widerständler gegen das eigene Milieu mit seiner konventionellen Moral, dem schlichten Mainstream, es ging um die Befreiung von sich selbst, von dem geschworenen Treueeid, man stellte sich gegen das Unmenschliche, das zur Gewöhnung für die Mehrheit geworden war.
Es blieb dem Redakteur der Süddeutschen Zeitung Heribert Prantl überlassen, die Lehren des 20. Julis über den in den letzten Jahren zur Routine gewordenen „Heldengedenktag“ auszudehnen. Die damals gezeigte Zivilcourage übertrug er auf Greenpeace, Pro Asyl, Amnesty, Occupy und Snowden (10). Mehr noch. Er zieht den Bogen des Widerstandsrechts auf „die Menschen, die sich gegen den Machtwechsel von den Staaten hin zu den Konzernen wehren. Sie warnen davor, dass den Staaten und der Demokratie die Macht aus den Händen rinnt und sich in der Wirtschaft zusammenballt“. Es gibt ein originäres Recht auf Widerstand bis zur Revolution gegen einen außer Rand und Band geratenen Kapitalismus. Widerstand kann die Weihen des Grundgesetzes beanspruchen.
Antikapitalistischer Kampf gegen aggressive neoliberale Selbstbehauptung
Warum ist eine derartige verfassungsgemäße Legitimität so wichtig? Widerspricht die Berufung auf die Legitimität nicht dem Revolutionsgedanken? Wer unter Berufung auf Artikel 14 und 15 des Grundgesetzes – bei Respektierung der anderen Grundgesetze – für einen möglicher Wechsel der Wirtschaftsordnung, die zugleich ein Wechsel der Gesellschaftsordnung ist, kann nicht ohne weiteres mit militanten Notstandsgesetzen überzogen werden. Er kann reklamieren, dass das Grundgesetz nicht von vorneherein gegen ihn steht. Das ist die spezifisch deutsche Variante. Die generelle historisch-philosophische Seite ist, dass die aggressive neoliberale Selbstbehauptung oder deren „entspannte Selbstzufriedenheit“ (Samuel Huntington), die den Neoliberalismus als alternativlos hinstellt, eine Chimäre ist. Warum? Huntington und Fukuama geben die falschen Antworten. Es geht nicht um einen „ewigen Frieden“ unter der kapitalistischen Hegemonie oder um das „Ende der Geschichte“, wie Francis Fukuyama vor 25 Jahren proklamierte, nach dem Untergang des Ostblocks. Es geht nicht um den „clash of cultures“, den Kampf der Kulturen zwischen der islamischen Welt, Russland, China und den Westen, wie Samuel Huntington meint, der das Paradies von Fukuyama richtiger Weise desillusioniert und dennoch falsch liegt. Es geht darum, dem antikapitalistischen Kampf, dem wahren Antipoden zum Neoliberalismus, die Tür in der Geschichte offen zu halten.
Der Kapitalismus muss seinen Untergang selbst inszenieren. Das „Trickle-down der US-Neokonservativen mit ihrer „neuen Bescheidenheit“ arbeitet dagegen
Das Offenhalten alternativer Wege in der Geschichte ist schwer genug. Neben den laufenden antikapitalistischen Aktionen müssen die theoretischen Bedingungen für eine mögliche zukünftige Revolution abgesteckt werden. Das kommunistische Manifest proklamiert, dass der Kapitalismus die Grundbedingungen für seinen Untergang selber inszenieren muss. Er schuf das Proletariat vor hundertfünfzig Jahren. Heute hat ein sozialer Wandel stattgefunden. Die proletarischen Milieus existieren nicht mehr, an ihrer Stelle treten etliche breiter aufgestellte aber diffuse Gruppen von Kapital Abhängigen, die zwar sporadisch gegen ihre Armut und Verelendung revoltieren, sich aber auf den reformistischen Nebenwegen verirren.
Die Revolutionen am Ende des 1. Weltkrieges entsprangen der Auflehnung gegen die nackte Not, Todesbedrohung und absolute Verelendung. Davon kann heute in den dominanten Industriestaaten keine Rede sein. Das „Trickle-down“ der US-Neokonservativen, wonach etwas auch zu den Armen vom wohlbestellten Tisch der Reichen heruntertropft (trickle) - im Deutschen spricht man von dem „Brosamen von des Herrn Tisch“ - wird von den meisten Benachteiligten in den USA, England, Frankreich, Deutschland dankend angenommen, solange das Kapital die Absicherung dessen verspricht, was nach dem ökonomischen Aufstiegs nach dem 2. Weltkrieg errungen wurde. Von dem Versprechen des rheinischen Kapitalismus, dass die Massen am ökonomischen Aufstieg maßgeblich partizipieren, hat man in der „Neuen Sozialen Marktwirschaft“ Deutschland Abstand genommen. Die „neue Bescheidenheit“ hat man sich auch in einer desillusionierten USA zu eigen gemacht, wo man nicht mehr an die Mär „jeder sei seines Glückes Schmied“ glaubt. Dem Kapitalismus ist ein Meisterstück gelungen. Er entlastet sich von dem Erwartungsdruck seines alten Heilsversprechens: Wohlstand für alle, ohne für das Eingeständnis seines Versagens zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Vorläufige Vertagung von Finanzchaos, Staatsschuldenkrise und Banktrott
Das Versprechen auf keine massive Verschlechterung reicht heute zur Legitimierung des Kapitalismus in den Augen der meisten aus und führt zur Duldung des kritikwürdigen Zustandes der Gegenwart. Man ist bescheiden geworden. Dem Krisenmanagement ab 2007 ist es gelungen, erst einmal den Ausbruch der Großkrise: Finanzchaos, Staatsschuldenkrise, Staatsbankrott zu vertagen – nicht zu beenden. Das im Blut zirkulierende Aidsvirus kann nicht vernichtet, aber durch Medikamente von seinem alles vernichtenden Ausbruch vorerst abgehalten werden. Wenn Wolfgang Streeck als Folge des schleichenden Giftes von der Krise des demokratischen Kapitalismus und der Re-Nationalisierung spricht, ficht das die Kapitalträger nicht an, weil sie notfalls auch ohne Demokratie leben können. „Durchwursteln“ anstelle der prinzipiellen Klärung von Fragen, kurzfristige Vermeidungstaktiken an Stelle von Strategien, Ausweitung des Leidenspotenzials heißt die neue Philosophie. Die Absenkung der meisten Renten 2030 auf das Niveau der Sozialhilfe scheint kein sozialer Sprengstoff zu sein.
Al Gores Welt-AG gegen durchgedrehten Kapitalismus
In dieser prekären Welt-Situation fühlen sich Kritiker aus dem linksliberalen Milieu, kritische Soziologen und Philosophen aufgerufen, die meist nach dem gleichen Muster schreiben: Richtige Analyse – falsche Rezepte. Al Gore, der durch Wahlfälschungen in Florida an Bush gescheiterte Präsidentschaftskandidat, sieht in die Zukunft der USA und nimmt Kräfte wahr, die die Welt verändern (11). Er beschreibt nicht mehr oder weniger als den Untergang der westlichen Welt und liegt damit in den breiten Strom vom angstvollen Bewusstsein kommender Katastrophen: Konsumfixierte Marktstrategien, ökologische Zerstörung der Erde, die wahnwitzige Entwicklung der Gentechnologie, alles vernetzt durch einen durchgedrehten Kapitalismus. Aber er wäre kein Amerikaner, wenn er dem nicht ein „Yes, we can“ entgegenhält. Dem Globalkartell von Finanzmacht und Politik stellt er in manichäischer Denkweise ein vernetztes „Weltgehirn“ gegenüber, das über Mitbestimmung und Kommunikation das Böse besiegt. Er merkt nicht, das er dem gleichen beschränkten Denkmuster der Familie Bush folgt. Der politisch gescheiterte Ost-Küsten-Demokrat setzt den Peinlichkeiten die Spitze auf, als er in dem Jesuiten Teilhard de Chardin seinen Vordenker entdeckt, der schon früh die evolutionäre Aufhebung von Geist und Materie in einer neuen Welt der „Noosphäre“ predigte, in der die Menschheit einen Zustand erreicht, in der sie zu einem Geist mit Jesus Christus zusammen wächst, die sphärische Auflösung der irdischen Widersprüche zu einem magisch-christlichen Wolkenkuckucksheim, durch Gore aktualisiert mit Blick auf die moderne vernetzte Welt.
Rechtsdenker Sarrazin und Princci dynamisch rückwärtsgewandt
Gegen diesen US-Gestesstürmer sind die neuen Bücher der führenden rechten deutschen „Denker“ Sarrazin und Princci von geradezu erfrischend dreister Selbstentlarvung rechter Populisten (12). Ähnlich dem klaren Abgesang an einer abendländisch dogmatisierten Moral durch amerikanische Neokonservativen, die ungehindert durch einen fehlenden Menschenrechtskatalog in ihrer Verfassung, ihre westlichen Werte mit der gebotenen Härte ihrer Guatanamo-Praktiken verteidigen, spricht Sarrazin vom neuen „Tugendterror“ und polemisiert gegen die Meinungsfreiheit (die gegen ihn im Europawahlkampf erfolglos eingesetzt wurde). Der Intolerante fordert Toleranz von der Gesellschaft. Der türkisch stämmige Princci wendet sich gegen den angeblich irren Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer.
Ihre bürgerlichen Leser sind klar eingrenzbar: Es sind die aus der „Mitte der Gesellschaft“ Kommenden, die sich durch die brutale Wettbewerbs-Realität der kapitalistischen Marktwirtschaft verunsichert und in die Enge getrieben fühlen, die die klassischen Parteien als deren Vertreter empfinden und unter den Lähmungserscheinungen in der Politik leiden. In deutsch-klassischer Weise der 30iger Jahre wenden sie sich nicht an den Verursacher ihrer Verunsicherung, den globalen Kapitalismus, sondern wollen dessen wahren Opfer, die Andersartigen, die Ausländer, ausgrenzen. Durch ihre provokative Aufputsch-Polemik gegen die schläfrige Merkel-Republik geben sie sich dynamisch. Inhaltlich predigen sie aber nicht den Aufbruch sondern den gesellschaftlichen Rückschritt. So glauben sie, ihre Ernte in den bevorstehenden drei Länderwahlen einfahren zu können.
Die bürgerlichen Parteien empfinden die Populisten als Bedrohung, weil ihre Wähler aus dem bürgerlichen Milieu kommen. Auch wir Linke sind gefordert. Die Populisten bedienen sich des Protestes, bisher eine Domäne der Progressiven, der Grünen, der Linken (13). Sie lärmen nicht zu laut auf den Straßen, das könnte die eigene Klientel abschrecken. Unhöflichkeit gegen die political correctness aber Absage an die „Auschwitz-Lüge“. Die CSU-Ausländer-Maut hätte ihnen in ihrem Katalog von Ausländerfeindlichkeit einfallen können. Zwischen dem dreist-Bajuwarischen und dem vulgär Boshaftigen der Alternative gibt es Wahl-Verwandtschaften. Sollten sie weiter reüssieren, böten ihnen ihre Artverwandten die Koalition nach 2017 an.
Thomas Piketty – ein neuer Marx?
Bleibt die Frage nach der Zukunft des Kapitalismus. Wenn der ganz große Crash als die Mutter aller Revolutionen vertagt wird, wie steht es dann mit der wachsenden Ungleichheit zwischen Arm und Reich? Entspringt aus ihr so viel sozialer Sprengstoff, dass das System kollabiert? Misst man den Trubel, den der französische Ökonom Thomas Piketty mit seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ im englischen und französischen Sprachraum ausgelöst hat – die deutsche Übersetzung mit dem anzüglichen Titel, der auf Karl Marx verweist, kommt im Oktober – hat die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen einen Grad erreicht, den die entwickelte kapitalistische Gesellschaft nicht mehr ertragen kann. Wie das? Wenn 10 Prozent über 70 Prozent des Vermögens verfügen können, nicht nur in Deutschland oder den USA, sondern auf alle Industrieländer bezogen, soll das Erträgliche überschritten sein? Hier liegt ein Gedankenfehler vor. Diese einseitige Vermögenskonzentration liegt nach den eigenen Berechnungen von Piketty schon seit 50 Jahren vor, ohne dass der Kapitalismus daran gescheitert wäre, oder das Thema bei der letzten Bundestagswahl entscheidend gewesen wäre.
Fortschreitende Ungerechtigkeit – Ende des Kapitalismus?
Was den Alarm auslöst ist, dass Piketty diesen Prozess der Vermögenskonzentration als noch nicht beendet ansieht. Er schreitet weiter fort – bis zu welchen Grenzen? Theoretisch könnte die Verteilungskurve nach der Formel von Piketty sich zu der Grenze annähern, bis einigen wenigen fast das ganze Kapital gehört. Nach einer aktuellen Untersuchung der amerikanischen Notenbank entfallen auf das reichste ein Prozent 30 Prozent des Vermögens. Nach einem aktuellen Arbeitspapier der europäischen Notenbank sind es sogar 35 bis 37 Prozent des gesamten Vermögens (14). Die jüngste Finanzkrise ist noch längst nicht ausgestanden: Mehr als einem Drittel der Amerikaner geht es heute schlechter als 2008, dem Höhepunkt der Krise.
Aber Prozentzahlen besagen wenig. An ihnen lässt sich vielleicht in intellektuellen Kreisen eine Gerechtigkeitsdebatte aufhängen, so wie sie momentan dank Piketty läuft. Beginnt die soziale Revolte, wenn die reichsten ein Prozent 40 Prozent, oder die reichsten zehn Prozent 80 Prozent auf sich vereinen? Wichtiger als trockene Prozentzahlen sind für das Verhalten von Menschen soziale Fakten: Nur die Hälfte aller Amerikaner können im Fall einer einer Arbeitslosigkeit kurzfristig 400 Dollar aufbringen, ohne sich irgendwo Geld zu borgen. Nach 150 Jahren Kapitalismus sind die meisten Arbeitnehmer nach wie vor – wie von Marx beschrieben – allein von ihrer Arbeitskraft abhängig. Aber wo bleibt die Revolte? Die Geduld mit der eigenen Armut scheint grenzenlos zu sein. Zwei Drittel aller amerikanischen Studenten müssen Kredite von insgesamt 1,2 Billionen Dollar für ihr Studium aufnehmen. Warum ist dann die Occupy-Bewegung weggebrochen? 31 Prozent aller Amerikaner haben nach der FED-Studie keine Altersersparnisse oder Rentenansprüche. Aus der Armut entwickelt sich bisher kein politischer Kampf für mehr Gerechtigkeit. Das trifft nicht nur auf die USA sondern auf alle entwickelte Staaten zu.
Zerstörung des Mythos „Wohlstand für alle“
Pikettys Schlussfolgerung ist eine konfiskatorische Einkommenssteuer von bis zu 80 Prozent ab 500 tausend Dollar Jahreseinkommen durch den Staat. Eine einleuchtende Idee: Die Armut korrespondiert reziprok mit dem Reichtum. Der Reiche entzieht dem Ärmeren einen erheblichen Teil vom Kuchen des Sozialprodukts. Bei einer gerechteren Verteilung, wären die Armen weniger arm. Doch was so logisch klingt, hat einen Haken: Politisch ist der Vorschlag Pikettys eine Kopfgeburt. Konfiskatorische Steuern setzen eine Umkehr der Machtverhältnisse voraus. Heute steht ein ohnmächtiger Staat dem macht-trotzenden Kapital gegenüber, die Alternative entlarvt sich als hohle Phrase. Dennoch. Piketty verwendet das Markenzeichen von Marx: „Das Kapital“ für sein Buch nicht als einen billigen Werbeträger. Er legt seine Finger in die Wunde des Systems. Er zerstört den Mythos des Liberalismus, dass aus dem Marktmechanismus „Wohlstand für alle“ (Ludwig Erhard 1957) käme, und der Mittelstand sich verbreitere. Das Gegenteil ist der Fall. Tatsächlich ist ein zunehmendes Auseinanderdriften bei gleichzeitiger Zerschlagung der Mittelschichten zu beobachten.
Wenn er sich aber gegenüber Marx einer überlegenen Methodik brüstet, liegt er schief. Er hält sich zugute, dass er – im Gegensatz zu Marx - in einer aufwendigen Studie ein Zahlenwerk der Verteilung über 200 Jahre in den Industriestaaten angelegt und somit eine historische Wahrheit gewonnen habe. Als Gesetz für die Ungleichheit bedient er sich der simplen „Welt“- Formel: r >g. Die Rendite aus dem Geld- und Kapitalvermögen ist immer größer als g (growth), das volkswirtschaftliche Wachstum, aus dem Arbeit bezahlt wird. Marx Analyse hingegen hat nicht statistische Reihen ausgewertet, sondern den inneren kapitalistischen Verwertungsprozess erarbeitet, wobei er sich wahrscheinlich (so sicher ist man sich nicht nach 150 Jahren Exegese!) der buchhalterischen Zahlen seines Unternehmerfreundes Engels bediente und sie in seinen drei Bänden „Das Kapital“ generalisierte. Sein Gesetz der Zunahme der (relativen) Ausbeutung entwickelte er aus der wachsenden Kapitalintensität, die eine ständig wachsende Verzinsung verlangte, im Verhältnis zum Lohn, um den berühmten „tendenziellen Fall der durchschnittlichen Profitrate“ aufzufangen. Ein Vergleich der Methoden: Prozessanalyse mit Statistik spricht für Marx, ohne die Bemühungen von Piketty klein zu reden.
Wachsende Ungleichheit als Lebensessenz des Kapitals
Der „Fluch“ einer ständig wachsenden Profitentwicklung in Relation zum Lohneinkommen, der über dem Kapitalismus lastet, ist also die Lebensessenz des kapitalistischen Systems, das es zu seinem Funktionieren und Überleben braucht. Die Verletzung des „Gerechtigkeitspostulats“ entspringt nur vordergründig einer „Gier“, einer Fresslaune von Finanz-Heuschrecken. Sie sind im Dienst der Grundregeln des gesellschaftlichen Systems unterwegs. Einig mit der Grundregel: „maximaler Profit bei hohem Risiko“ fehlt den Managern und Eignern jegliche Einsicht in möglichen Verfehlungen von Raffgier und Bereicherung. Ähnliches trifft auf die Justiz zu. Bei der Verfolgung von „Wirtschaftskriminalität“ fehlt ihr oft der justiziable Kompass jenseits von grober Fahrlässigkeit, Bilanzfälschung, Betrug, wie Freisprüche oder windiges „Herauskaufen“ bei Wirtschaftsdelikten immer wieder belegen.
Gleich drei Vorstandschefs der Deutschen Bank sollen nach dem Willen der Staatsanwaltschaft wegen „Prozessbetrug“ gemeinsam auf die Anklagebank, davon einer im Amt sowie zwei weitere untergeordnete Vorstände, schreibt die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung am 17. August 2014: „Die Herren haben im Kirch-Prozess gelogen, dass sich die Balken biegen“. Sie wollten nicht gestehen, dass sie den Kirch-Konzern in den Konkurs getrieben haben, um ihn zu zerlegen. Warum nur das Leugnen? Konzerne zu Filetstücken zu kannibalisieren ist ein ganz normaler Vorgang im Kapitalismus. Die Frankfurter Allgemeine weiß schon, wie die Richter entscheiden werden: „Die Justiz (Staatsanwaltschaft) übernimmt sich in ihrem Eifer „ökonomisches Ungeschick“ mit dem Strafgesetzbuch auszutreiben“. Recht hat das offizielle Presse-Organ des Kapitalismus. Es geht hier nicht um kriminelle Aktionen an der Spitze der größten Bank, sondern um „ökonomisches Ungeschick“ ungeschickter Vampire, die sich nach Karl Marx am Corpus der Gesellschaft laben. Und die Zeitung erahnt auch schon das Ergebnis: Vielleicht entfällt auf einen der fünf eine Geldbuße. Freikauf von Strafe nach Art des Bernie Ecclestone.
Moralische Empörungen können den Stoff für politische Auflehnungen geben, diese müssen aber systemüberwindend wirken, oder sie greifen zu kurz. Die System-Alternative scheuend, begnügt sich die Mehrheit der Zu-kurz-Gekommenen mit dem Brosamen, der von der Tafel der Herrschenden fällt. Wenn wir uns auf die Spur nach den Folgen der Ungleichheit der Verteilung begeben, ist nicht der moralische Aspekt entscheidend, sondern der ökonomische. Zu fragen ist nach den ökonomischen Auswirkungen einer ungleichen Verteilung. Dass diese das Triebmittel für den Lebenselixier des Kapitalismus ist, wurde schon dargestellt. Andere Theorien stellen das Kontraproduktive der ungleichen Verteilung dar.
Keynesianismus als Scheinalternative zum Neoliberalismus
Die bekannteste ist der Keynesianismus, der hier ins Spiel gebracht wird. In dessen Zentrum steht die effektive Nachfrage nach der Formel C + I = Y. Gesamtwirtschaftlicher Konsum (C)plus Investition (I) ergibt das Volkseinkommen Y. Eine steigende Profitrate (Verhältnis Profit zum eingesetzten Kapital) und Profit-Quote (Verhältnis Profit zum Volkseinkommen) drücken auf die konsumtive Nachfrage. Oder anders formuliert: Eine wachsende Profitquote ist der reziproke Wert einer sinkenden Lohnquote. Die Prozesskette: höhere Löhne – höhere effektive Nachfrage – mehr Volkseinkommen oder vice versa hat quasi die offizielle Weihe, wenn z.B. die deutsche Zentralbank sich aktuell für höhere Lohnabschlüsse ausspricht unter der Schelte des Arbeitgeberverbandes. Die Gewerkschaften blasen in das gleiche Horn. Aus verschiedenen Gründen ist damit noch nichts noch nichts entschieden. Reallohnsteigerungen, die unterhalb der Rate des Produktivwachstums bleiben, erhöhen die Profitquote. Nur selten in den letzten 15 Jahren ist das Umgekehrte geschehen, dass die Reallöhne höher als die Produktivitätsrate ausfielen. Auf die gesellschaftlichen Gründe wurde schon hingewiesen. Was gegen diese Modell spricht: Die konkrete Lohnfindung folgt nicht der keynesianischen Logik sondern den realen Machtverhältnissen, die zu Lasten der Arbeitnehmer gehen.
Eine Erhöhung der Profitquote sei auch deshalb negativ für die wirtschaftliche Entwicklung – so lautet ein weiteres Argument -, weil hohe Profite oft nicht reinvestiert werden und Arbeitsplätze vernichten im Gegensatz zur steigenden Lohnquote, die zu mehr effektiver Nachfrage führt, weil Löhne weniger gespart werden. Deutschland leidet – wie andere Industriestaaten – an einer zu niedrigen Investitionsquote der privaten Wirtschaft wie des Staates (Stichwort: kaputte Infrastruktur). Auch wenn die Zentralnotenbank der USA wie Europäische Union den Basiszinssatz auf Null hin steuert, um über die Ausreichung von billigen Krediten durch Banken das private Unternehmertum zu mehr Investitionen anzustacheln, werden die Unternehmen nicht investitionsfreudiger, mit Ausnahme von Teilbereichen der Bauindustrie. Es fehlt an Anlagemöglichkeiten, und die Reinvestition der Profite in Finanzspekulationen verspricht höhere Renditen als in Realinvestitionen. So schließt sich der Krisenkreis: Hohe Profite aus der Realwirtschaft wandern in den Finanzbereich und heizen erneut die Spekulationsblase an.
Kaldors integratives Wirtschaftsmodell vom Neoliberalismus entsorgt
Der heute weitgehend vergessene Ökonom Nicholas Kaldor hatte nach dem Krieg in seinem ökonomischen Modell die bis dahin getrennte Angebots- und Nachfragekomponenten zu einem logisch geschlossenen System verbunden. Geistesgeschichtlich fallen die Angebotsmodelle in den Bereich des kapitalorientierten Neoliberalismus, die staatsinterventionistischen Nachfragemodelle zum Keynesianismus. Von diesem integrativen Ansatz her zählt sein bürgerlicher Modellansatz bis heute zu den theoretischen Arbeiten, die einer Abbildung der ökonomischen Realität noch am nächsten kommen (15). Sein bürgerlicher Ansatz hinderte den Neoliberalismus nicht, das Kaldor-Modell aus dem universitären und politischen Rahmen „wegzuräumen“, um ihm dem gleichen Schicksal wie den neomarxistischen Modellen zu überantworten. Immerhin war Kaldor Berater der Labour-Partei und der Europäischen Union in ihren Anfängen. Dass der triumphierende Neoliberalismus ideengeschichtlich mit seinem „Sieg“ in einen trivialen linearen Denkansatz zurück fiel, sich weit von der Wirtschaftsrealität entfernte und angesichts der Krise 2007 hilflose weil blinde Nationalökonomen zurück ließ, ist sogar der Bundeskanzlerin bei ihrem Besuch des greisen Nobelpreisclubs am Bodensee aufgefallen. Sie ist als maßgebliche Vertreterin der Neuen Sozialen Marktwirtschaft die allerletzte, die sich über den fehlenden bis falschen Rat der ökonomischen Zunft in der Finanzkrise beklagen darf, weil sie für den elenden Zustand der vorherrschenden Nationalökonomie eine Hauptverantwortung trägt.
Im Kaldor-Modell spielt die langfristige Profitquote und damit die Verteilung von Profit und Lohn zum Volkseinkommen eine entscheidende Rolle. Nach Kaldor kann nur bei ihrer langfristigen Konstanz das kapitalistische System ein stabiles Gleichgewicht erzielen. Der statistische Beweis von Piketty einer fortschreitenden Verschlechterung der Verteilung bedingt nach dem Kaldor-Modell eine fortwährende Instabilität, wie es der Wirklichkeit entspricht. Die Borniertheit der herrschenden Lehre schlägt sich nicht nur in ihrer Gegnerschaft zu neomarxistischen Modellen nieder.
Zusammenfassend kommen wir zu folgendem Ergebnis:
Das kapitalistische System braucht zu seinem Überleben eine ständige Erhöhung der Profitquote, also einen wachsenden Anteil am Volkseinkommen zu Lasten des Lohnes. Die moralische Empörung über diese „Ungerechtigkeit“ ist unehrlich, wenn sie nur auf reformistische Reparaturen und nicht auf eine Systemänderung hin ausgerichtet ist. Aber selbst dazu reicht es nicht. Vertagen, lautet die Parole. Der politischen Konsequenz eines Systemwechsels wollen bis heute die Benachteiligten mehrheitlich nicht folgen, solange sie glauben auch unter erschwerenden Bedingungen es sich in dem kapitalistischen System einrichten zu können. Es gibt verschiedene ökonomische Indizien, dass die Zunahme der ungleichen Vermögensverteilung die Überlebenschancen des Kapitals einengt. Erst wenn durch eine krisenhafte Zuspitzung der Kapitalverwertung einer Mehrheit ein weiteres Überleben unerträglich erscheint, erfolgt der Beginn eines Umdenkens und Handelns, dessen Richtung aber ungeklärt bleibt. Deshalb müssen alternative Ansätze zum Systemwechsel angedacht werden, die für die zukünftige Entwicklung attraktive Alternativen bieten. Proteste und Revolten von links erzeugen ein politisches Umfeld, das die Zukunft mehr in ein links-kritisches Bewusstsein und Handeln lenkt.
Gerd Elvers
Literatur
1. Gunter Gebauer: Poetik des Fußballs, Frankfurt/Main, 2006
2. SZ, 12/13 Juli, 2014
3. www.real-world-economics.de
4. Süddeusche Zeitung, 11. Juli, 2014
5. Süddeutsche Zeitung, 2. Mai 2014
6. „Brenner will Druck machen“, in Mitteldeutsche Zeitung vom 21.Juli 2014
7. www.scilogs.de/
8. revolution-heute.de
9. Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den 1. Weltkrieg zog, Spiegel-Bestseller
10. Heribert Prantl: Vom Widerstand in der Demokratie; Süddeutsche Zeitung 19/20 Juli 2014
11. Al Gore Die Zukunft, Siedler Verlag, 2014
12. Thilo Sarrazin: Der neue Tugendterror, Deutsche Verlagsanstalt, 2014; Akif Pirincci: Deutschland von Sinnen
13. Andrian Kreye: „Böse Onkel“, in Süddeutsche Zeitung, 22. Mai 2014
14. Süddeutsche Zeitung: Armes Amerika, 13. August 2014
15. Karlheinz Oppenländer, Die moderne Wachstumstheorie. Eine kritische Untersuchung der Bausteine der Gleichgewichtskonzeption und der Wirklichkeitsnähe, München, 1963, S. 191 ff.
VON: GERD ELVERS