Die Freiheit der Anderen

23.09.21
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Einige strategische Überlegungen zum Klimastreik am 24.September 2021, zur Bundestagswahl und zur Klimakonferenz in Glasgow

Von Jürgen Tallig

Die drohende Klimakatastrophe erfordert nicht nur einen klimaneutralen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft, sondern vor allem eine grundlegende Erneuerung der Demokratie

Der „Sommer der Extreme“ und der neueste Bericht des Weltklimarates lassen keinen Zweifel daran, dass wir die Belastbarkeitsgrenzen des Planeten erreicht haben und dabei sind, das Klima- und Erdsystem unwiderruflich zu destabilisieren. „40 Jahre lang hat die Politik die Warnungen der Wissenschaft ignoriert und nun verkündet die Wissenschaft, dass ihre Warnungen jetzt Wirklichkeit sind“, kommentierte Fridays for Future den gerade erschienenen ersten Teil des sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarates IPCC.

„Gerät das Klima außer Kontrolle?“ titelte der „Spiegel“ Anfang August. Der Weltklimarat geht davon aus, dass schon in diesem Jahrzehnt ein Anstieg der globalen Mitteltemperatur um 1,5 Grad erreicht sein wird, und spekuliert über gigantische CO2-Rückholungen nach 2050, obwohl die Wälder doch jetzt schon weltweit in Flammen stehen. Die Katastrophen des vergangenen Sommers sind eine überdeutliche Warnung, dass wir uns auf dem falschen Weg befinden und dabei sind, aus dem Klimawandel eine Klimakatastrophe zu machen.

Es gilt dringend, das Erreichen weiterer Kipppunkte im Klimasystem und eine sich selbst verstärkende Aufheizung der Erde noch zu verhindern. Hier muss eindeutig das Vorsorgeprinzip gelten: Es muss mit dem Schlimmsten und nicht mit dem Günstigsten gerechnet werden.

Es steht inzwischen viel mehr auf dem Spiel, als allgemein bekannt ist,- es droht eine sich selbst verstärkende Aufheizung der Erde und das Abrutschen in eine lebensfeindliche Heisszeit.

Doch von der Erreichung der Pariser Klimaziele, die Erderwärmung auf 1,5 Grad, zumindest auf deutlich unter 2 Grad zu begrenzen sind wir nachwievor himmelweit entfernt.

Die Bundestagswahl wird ganz sicher eine Klimawahl werden (80 % der Wähler/innen wollen mehr Klimaschutz) und hoffentlich der Beginn einer demokratischen Erneuerung und eines grundlegenden gesellschaftlichen Wandels.

Das bahnbrechende Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. April 2021 hat immerhin klargestellt, dass das derzeitige Klimaschutzgesetz nicht ausreicht, um die kommenden Generationen vor einer globalen Erderwärmung von 2 Grad und mehr zu schützen. Die Lasten des dringend notwendigen Klimaschutzes werden in die Zukunft verschoben (auch vom Weltklimarat IPPC), auf die nächsten Generationen, die ohnehin von der kommenden Klimakatastrophe in voller Härte getroffen werden. Das ist ungerecht und muss geändert werden.

Die Freiheit der Anderen

„Die Freiheit aller kommenden Generationen steht mittlerweile auf dem Spiel, denn unsere angemaßte und missbrauchte Freiheit bedeutet nicht weniger als ihre künftige Unfreiheit. Wir schaffen Tatsachen, die von den kommenden Generationen nicht wieder korrigiert werden können und ihre Lebensmöglichkeiten und Handlungsspielräume auf ein Minimum reduzieren. Unsere angeblichen Freiheitsrechte auf Reichtum, Konsum und Mobilität gefährden nicht nur die Freiheit, sondern die grundlegenden Menschenrechte unserer Kinder und Enkel auf Leben und Gesundheit, denn durch unser Nichthandeln versäumen wir gerade die letzte Möglichkeit für eine Begrenzung der Klimakatastrophe.“ (dies schrieb ich bereits 2018, siehe „Ungerechtigkeit im Treibhaus oder die Freiheit der Anderen“, auf scharf-links, siehe auch Tarantel 87, 2019).

Es ist längst fraglich, ob wir überhaupt noch ein „Recht“ auf Emissionen haben oder ob wir damit nicht grundgesetzwidrig die Freiheit der kommenden Generationen verspielen (siehe Bundesverfassungsgericht).

Die bisherige Klimapolitik bedeutet jedoch noch ein Vierteljahrhundert mit weiteren Treibhausgas-Emissionen, obwohl die Welt schon jetzt buchstäblich in Flammen steht.

Trotzdem stellt sich die etablierte Politik hin und sagt: „Wir werden weiter Öl und Benzin ins Feuer der Erderhitzung schütten. Doch in diesem Jahrzehnt sollen es 55 oder sogar 65 Prozent weniger sein und in 30 oder 25 Jahren hören wir dann ganz damit auf.“ Das ist doch absurd!

Weitere Brandbeschleunigung wird als Löschen des Feuers, weiteres Anheizen der Klimakatastrophe wird als Klimaschutz verkauft. So etwas tun eigentlich nur Verrückte, Geldjunkies, Ölverkäufer oder Versicherungsbetrüger. Beim Klima wird mit Zielen in 10, 25 oder 30 Jahren jongliert, als würde die Katastrophe so lange weiter auf Sparflamme köcheln.

Die Verantwortlichen haben den Ernst der Lage offenbar immer noch nicht begriffen.

Um klimaneutral zu werden, haben wir ganz gewiss nicht noch 25 oder gar 30 Jahre Zeit, wie selbst jeder wissenschaftliche Laie angesichts der weltweiten Waldbrände und Hitzewellen unschwer erkennen kann. Jetzt muss gehandelt werden, sonst ist bald alles zu spät.

Es ist nicht mehr fünf vor zwölf

, -das war es nun dreißig Jahre lang-, sondern möglicherweise schon sehr viel später.

Das australische National Centre for Climate Restoration gab bereits im Februar eine Studie heraus, die belegt, dass selbst das 2°C-Limit nur mit sehr viel drastischeren Maßnahmen eingehalten werden kann, als derzeit von den Regierungen beabsichtigt ( deutsche Version ).

„Denn die derzeitige weltweite Konzentration von Treibhausgasen reicht bereits für eine Erderwärmung um 2 Grad und mehr aus. 2 Grad Erderwärmung könnten aber schon das sogenannte „Treibhaus Erde“-Szenario auslösen. Für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels gibt es gar kein CO2-Budget mehr, das heißt es wären sofort und weltweit null Emissionen und eine massive CO2-Rückholung notwendig.

Um wenigstens das 2 Grad-Ziel noch zu erreichen, müssten die weltweiten Emissionen schon bis 2030 auf Null reduziert werden (plus CO2-Rückholung). Alle späteren Ziele beinhalten nicht tragbare Risiken für die Menschheit und alle zukünftigen Generationen. Das Kohlenstoffbudget des Weltklimarats (IPCC) unterschätzt die aktuelle und zukünftige Erderwärmung, lässt wichtige Rückkopplungsmechanismen (Kipppunkte) des Klimasystems unberücksichtigt und trifft leichtfertige Annahmen in Bezug auf das Risikomanagement, z.B. betreffs CO2-Rückholung.“

Die weltweiten Megabrände haben z.B. 2019 laut WWF (Planet in Flammen, WWF, 2020) weltweit etwa 7,8 Milliarden Tonnen zusätzliches Kohlendioxid freigesetzt, das entspricht einem Fünftel der jährlichen menschlichen Emissionen, was alle Einsparbemühungen konterkariert. Eine Tatsache, die bisher bei den Budget- Berechnungen einfach ignoriert wird.

Angesichts des Ernstes der Lage sind die jüngsten Aussagen des neuen IPCC- Berichtes nur schwer nachvollziehbar, demnach die 1,5 Grad-Marke bei globaler Klimaneutralität bis 2050 noch einzuhalten ist, wenn nach 2050 jährlich gigantische 10 Gigatonnen (Milliarden Tonnen) CO? aus der Atmosphäre zurückgeholt werden, - was heute schon unmöglich sein dürfte.

Diese völlig spekulativen Annahmen zur Grundlage der Klimapolitik zu machen, wirft die Frage auf, wie unabhängig Wissenschaft heute wirklich noch ist und wie stark der Einfluss von Politik und Wirtschaft. Beim Klimapoker geht es ja bekanntlich auch anderweitig um Milliarden oder gar Billionen, allerdings an Euro und Dollar, denn die Einschätzungen des IPCC sind Grundlage von nationaler Klimapolitik und von strategischen Richtungsentscheidungen der Wirtschaft und der fossil-mobile Machtkomplex verteidigt seine Positionen natürlich mit allen Mitteln und versucht weltweit mit einer eher symbolischen Klimapolitik und Konjunkturprogrammen für zusätzliches grünes Wachstum, mit der Klimakrise noch Gewinn zu machen.

Doch ein Green Deal wird nicht ausreichen, um die Freiheit oder wenigstens das Überleben(!) der kommenden Generationen zu sichern und das Klima- und Erdsystem noch im lebensfreundlichen Bereich zu stabilisieren. Ob und wie wir die Klimakatastrophe noch aufhalten oder wenigstens verlangsamen können, das ist zur alles entscheidenden Frage der Gegenwart geworden.

Die Imperative der Klimakatastrophe

Es geht inzwischen längst um Leben und Tod, um Sein oder Nichtsein im Reich der ehernen Notwendigkeiten, die uns die Gesetze der Physik, speziell die der Thermodynamik vorschreiben.

Die weitere Missachtung der unabweisbaren Imperative der Klimakatastrophe, könnte tatsächlich der Weg in die „Selbstverbrennung“ (Schellnhuber) sein und das Klima- und Erdsystem irreversibel destabilisieren. Die Klimakatastrophe und die Gefahr der Vernichtung des Lebens auf der Erde geben längst unübersehbar vor, was noch möglich und was nötig ist.

Wir werden erdsystemkompatibel sein oder wir werden nicht sein!

Das bisherige Versagen der Klimapolitik gegenüber Macht- und Wachstumszwängen hat die verbleibenden Handlungsspielräume allerdings erheblich eingeengt und konfrontiert uns nunmehr tatsächlich mit kategorischen Imperativen für unser Handeln.

Es reicht nicht aus, wenn wir uns nur anpassen, wir müssen versuchen das Klima- und Erdsystems wieder zu stabilisieren und vor allem müssen wir sofort damit aufhören, es immer weiter zu destabilisieren.

Das derzeitige globalisierte Wirtschaftsmodell ist eine evolutionäre Fehlentwicklung, die nicht dauerhaft möglich ist und auf einer exzessiven Mobilität und einem mindestens zehnmal zu hohen Energie und Rohstoffverbrauch beruht und zunehmend die Reproduktionsfähigkeit der Lebensgrundlagen zerstört. Die derzeitigen Strukturen sind weder zukunftsfähig noch resilent und äußerst verletztlich, wie der Unwetter-Sommer und die globalen verheerenden Waldbrände erneut auf bestürzende Weise verdeutlichten. Dürre und Hitze der letzten Jahre haben auch in Deutschland sehr schnell die Wälder und die Landwirtschaft gefährdet. Auch Energie- und Wasserversorgung und das Transportsystem werden bei schweren Hitzewellen schnell an ihre Grenzen kommen. All dies geschieht bereits bei einer offiziellen globalen Erderwärmung von „nur“ 1,2 Grad,- was passiert dann erst bei zwei, drei oder gar vier oder fünf Grad…?

Die zu erwartenden Schäden müssen jetzt schon, sowohl bei Waldverlusten, als auch bei Flutschäden um ein Vielfaches nach oben korrigiert werden und es braucht Jahre und Jahrzehnte (beim Wald), um die Schäden zu ersetzen, wenn dies überhaupt noch möglich ist.

Von den unersetzlichen menschlichen Opfern zu schweigen. Dass man die erneuten Opfer der Klimakrise (das Hitzejahr 2003 forderte bereits etwa 15000 Menschenleben in Deutschland) nicht einmal mit einer Staatstrauer gewürdigt hat, zeugt von anhaltender Realitätsverdrängung, genauso wie die Tatsache, dass Deutschland noch immer nicht den Klimanotstand ausgerufen hat.

Wenn man die Umweltschadenskosten in allen Bereichen konsequent berücksichtigen würde, dann würde sich das derzeitige fossil-mobil-globalisierte Geschäftsmodell auch längst ökonomisch nicht mehr rechnen und wäre als das Verlustgeschäft kenntlich, dass es eigentlich schon längst ist.

Die Affirmation des Bestehenden ist inzwischen längst die Affirmation der Katastrophe.

Es geht nicht um Null-Emissionen bis 2050 oder 2045, sondern um Null-Emissionen bis spätestens 2035, wie Wissenschaftler und Klimabewegung fordern (Wuppertal Institut (2020). CO2-neutral bis 2035: Eckpunkte eines deutschen Beitrags zur Einhaltung der 1,5-°C-Grenze. Bericht).

Das Zeitfenster für die „Verhinderung eines gefährlichen Klimawandels“ (Klimarahmenkonvention) hat sich nach 30 Jahren Wirtschaftswachstum und Globalisierung fast geschlossen.

Keine Zeit mehr für Scheinlösungen

Die Eindämmung der Klimakatastrophe erfordert sofortige radikale, wirklich einschneidende Veränderungen und muss zum vorrangigen Ziel gesellschaftlichen Handelns werden.

Ein weiteres Vorantreiben der material- und energieintensiven Digitalisierung und Automatisierung ist dabei ebensolch ein Irrweg, wie die Elektrifizierung des motorisierten Individualverkehrs und eine energieverschwendende Wasserstoffwirtschaft.

Bei diesen und anderen Scheinlösungen geht es nicht wirklich um das Klima, sondern um Auswege aus der Wachstumskrise, um Produktivitätssteigerung, Markterweiterung, Bedarfsweckung.

Die Verhinderung der Klimakatastrophe und weiterer Naturzerstörung erfordert nicht nur eine Dekarbonisierung und eine Elektrifizierung, für die es ja gar nicht genügend erneuerbare Energien gibt, sondern gleichzeitig eine sehr schnelle Verringerung des Energie- und Rohstoffverbrauchs der Wirtschaften und Gesellschaften, also eine absolute drastische Reduzierung von Verbrauch und Verkehr, also ein Ende der Globalisierung und der bisherigen Verschwendung.

Wer meint, allein mit erneuerbaren Energien unsere Welt retten zu können und dabei unsere „Imperiale Produktions- und Lebensweise“ beibehalten, Gewinner des globalen Monopolys zu bleiben und gleichzeitig das Klima schützen zu können, der lügt sich und anderen in die Tasche und verkennt den parasitären Charakter unseres Stoffwechsels mit der Natur (Metabolismus). Die Strukturen selbst sind in vielfacher Hinsicht zerstörerisch mit ihrem zugrundeliegenden gewaltigen Extraktivismus, ihrem Transport- und Verpackungsaufwand, mit all den ökologischen Rucksäcken, die in unseren Bilanzen gar nicht auftauchen; aber auch mit ihrem ungleichen Tausch, ihrer ungerechten weltweiten Arbeitsteilung und rücksichtslosen Markteroberung, der Vernichtung von regionalen, kleinteiligen, nicht so produktiven Wirtschaftsformen.

Um das Feuer der Klimakatstrophe zu löschen, ist ein wirklicher Machtwechsel und ein grundlegender Um-Rück- und Neubau der Gesellschaften weltweit notwendig. Es geht um den Aufbau von Gesellschaften, deren zentrales Paradigma nicht Wachstum um jeden Preis, sondern der Fortbestand des Lebens und der Menschheit ist, wobei die westlichen Industriegesellschaften voran gehen müssen.

Neues Denken und Handeln jetzt

Derzeit befindet sich die Welt laut UN-Chef Guterres auf einem „katastrophalen Weg“, „es drohe der massive Verlust von Menschenleben und Lebensgrundlagen“. Im November dieses Jahres findet die Klimakonferenz COP 26 in Glasgow statt, die so etwas wie eine letzte Bestandsaufnahme vor der Katastrophe sein wird. Laut UN ergeben die nationalen Selbstverpflichtungen der 191 Staaten bis 2030, ein Plus an Emissionen von 16% gegenüber 2010. Da die Selbstverpflichtungen aber nur von wenigen kleinen Staaten überhaupt eingehalten werden und von den G 20, die 75% aller Emissionen verursachen, nur Großbritannien auf Kurs ist, ist von einem noch viel höheren Plus auszugehen. Statt der notwendigen Reduzierung der CO2-Emissionen um 45 %, könnte es bis 2030 durchaus ein Wachstum von 45 % geben, was der irreversible Weg in den Klimakollaps wäre.

Die Menschheit steht vor der Systemfrage und sie muss sich sehr schnell entscheiden, ob sie das Klima- und Erdsystem im noch lebensfreundlichen Bereich stabilisieren will, oder ob sie mit einem wachstumsbesessenen Gesellschaftssystem ins Chaos einer lebensfeindlichen Heisszeit steuern will.

Wie kann man das bisher nachgeordnete Ziel der Erdsystemstabilisierung und der Erhaltung der Lebensgrundlagen, zum übergeordneten Ziel politischen und ökonomischen Handelns machen, ohne wie bisher, bei bloßen Willensbekundungen und Absichtserklärungen stehenzubleiben, deren Implementierung in die Realität der Globalisierung und Hypermobilität, bisher nicht möglich war.

Wie kann das Überlebensnotwendige gegen vermeintlich realpolitische Wachstumszwänge durchgesetzt werden, die angesichts der Klimakatastrophe zwar völlig irreal sind, aber das Handeln der mächtigsten Länder der Erde bestimmen? Als sei die Überlebenssicherung nicht der allerrealste Zwang, zumal wenn sie nur noch kurze Zeit möglich ist.

Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden und eine Antwort auf das derzeitige Dilemma der Welt zu geben, ist bei der Klimakonferenz in Glasgow wahrscheinlich die allerletzte Gelegenheit.

Der Schutz des Klimas und die Stabilisierung des Erdsystems, als elementare Voraussetzung auch menschlichen Lebens auf der Erde, muss zum alltäglichen und übergeordneten Ziel gesellschaftlichen Handelns werden. „Earth first“ könnte man sagen.

Die Idee eines Neuen Denkens und Handelns, die in der Zeit der Hochrüstung und der drohenden Konfrontation zwischen den Machtblöcken, einen entscheidenden Durchbruch zur Abrüstung und Entspannung brachte, ist heute aktueller denn je.

War Neues Denken und Handeln damals eine Chance, die im Siegestaumel unterging, so ist es heute eine Überlebensnotwendigkeit. Schon damals wurde die Notwendigkeit formuliert und begründet, die Erde nicht der Anarchie und Willkür politischer und ökonomischer Einzelinteressen zu überlassen, sondern die gemeinsamen Interessen der Menschlichen Gemeinschaft angesichts der Globalen Bedrohungen in den Vordergrund zu stellen.

Wenn das System Erde erst einmal gekippt ist und die Welt zudem in Chaos und Barbarei versinkt, dann gibt es kein Zurück mehr. Es ist ein Ausdruck von Verblendung und Selbstüberschätzung (Hybris) zu meinen, wir könnten nachträglich (2050) einen planetaren Systemübergang rückgängig machen. Wir spielen derzeit gewissermaßen Russisch- Roulette mit der Erde und haben noch nicht verstanden, dass der Revolver voll geladen ist. Es ist an uns, das Spiel jetzt zu beenden und noch rechtzeitig abzurüsten. In einem Spiel, in dem es nur Verlierer geben kann, sollte man die Spielregeln rechtzeitig ändern.

Es geht um eine andere Weltwirtschafts- und Finanzordnung, um die Aufhebung von Wachstumszwängen, um soziale Gerechtigkeit, um das Zurückdrängen von Globalisierung und Konzernmacht, um eine Re-Regionalisierung und Demokratisierung – also um einen wirklichen Kurswechsel. Die Zeit für Neues Denken und Handeln ist jetzt gekommen und sie wird nur allzu bald wieder vorbei sein.

Die Freiheit der Wahl

Wer meint, die notwendige ökologische Revolution ließe sich ohne eine entsprechende politische Revolution und eine grundlegende Demokratisierung von Gesellschaft, Wirtschaft, Eigentumsverhältnissen und Finanzen bewerkstelligen, ist ahnungslos oder naiv.

Alle, auch die Umweltverbände, die Wissenschaft und die Klimabewegung, versuchen sich an dieser Machtfrage vorbeizumogeln und reden von der Politik, die „nun endlich handeln“ müsse – als hätten sie keinen Schimmer davon, dass die Politik seit Jahrzehnten handelt, aber im Interesse der großen Unternehmen, des großen Kapitals und des Wirtschaftswachstums, was niemals wirklich zur Wahl steht. Auch diesmal hat man offenbar nur die Wahl zwischen verschiedenen Wachstumsprogrammen zugunsten der Großkonzerne, was dasselbe ist wie die Wahl zwischen Pepsi Cola und Coca Cola, die ja beide nicht wirklich gesund sind.

Es geht unverändert um den Aufbau einer starken Gegenmacht, einer politischen Bewegung, die tatsächlichen Druck auf die etablierte Politik auszuüben kann und eine wirkliche gesellschaftliche Alternative anstrebt. Die Klimabewegung muss sich öffnen und die ganze Breite der Gesellschaft erreichen und mobilisieren, ganz unabhängig vom Alter und von der politischen Herkunft.

Ob die Klimalisten schon die nötige breite Unterstützung mobilisieren und sich als Alternative und neue Sammlungsbewegung etablieren können, ist zwar zu hoffen, aber angesichts der derzeitigen Zersplitterung der Alternativbewegung keineswegs sicher.

Leben für die Zukunft - Zukunft für das Leben“ oder „Zukunft für Alle- Alle für die Zukunft“, das wäre das Leitmotiv für ein Bündnis für Klimaschutz, Demokratie und soziale Gerechtigkeit, für eine „Alternative für das Leben“ (siehe Jürgen Tallig, „Aufbruch 21- Eine Alternative für das Leben“, auf scharf-links, Tarantel 91/92, 2021, https://earthattack-talligsklimablog.jimdofree.com).

Doch ein wirklicher Aufbruch 21 braucht wohl noch Zeit,- die wir aber leider längst nicht mehr haben. Bis zu den nächsten Wahlen können wir eigentlich nicht mehr warten…?

Man kann sich zwar, wenn nötig, mit dem alten Anarcho-Spruch trösten: „Wenn Wahlen was ändern würden, dann wären sie längst verboten.“, aber die Gesellschaft kann ja auf vielen Wegen verändert werden. Um die „Freiheit“ (Bundesverfassungsgericht) auch für die Zukunft zu sichern, muss ohnehin zuerst die Freiheit einer wirklichen Wahl und Entscheidung in der Gegenwart erkämpft werden.

Die Erneuerung der Demokratie

Die Kinder und Jugendlichen von heute (ja, Wahlalter ab 16!), die kommenden Generationen und die Natur sind in unserer Demokratie faktisch nicht vertreten, während finanzstarke Interessengruppen mit ihrer Lobbyarbeit die Demokratie aushöhlen und wesentliche Entscheidungen (siehe Autogipfel) in informellen, nicht demokratisch legitimierten Machtstrukturen fallen (siehe Thilo Bode, Die Diktatur der Konzerne, 2018). Notwendig ist eine demokratische Reform des Politischen Systems, die Schaffung eines Ökologischen Rates, eines Ökologischen Oberhauses, der/das Richtlinienkompetenz hat und den Rahmen eines nachhaltigen Stoffwechsels mit der Natur ermittelt und vorgibt, innerhalb dessen die gesellschaftlichen Akteure unter Beachtung der Interessen der kommenden Generationen und der Imperative der Natur agieren können.

Der Vorschlag wurde schon vor 30 Jahren von Rudolf Bahro in die Debatte eingebracht. Heute ist die Zeit möglicherweise reif dafür. Weiterhin müssen grundsätzlich demokratisch nicht legitimierte Sonderinteressen und informelle Machtstrukturen, wie die des Großkapitals, der Finanzlobbys, der Großkonzerne, die ein Interesse an der Aufrechterhaltung und der Fortsetzung des Status Quo haben und dies mit ihren Machtmitteln anstreben, demokratischer Kontrolle unterworfen, eingegrenzt und entmachtet werden.

Deshalb sollte die direkte Demokratie eine viel größere Rolle spielen und nicht als lästiger Ballast entsorgt werden, wie es die Grünen gerade praktizierten. Der Bundesweite Volksentscheid am Tag der Bundestagswahl, u.a. für das Recht auf bundesweite Volksentscheide und mehr Klimaschutz, verdient alle Unterstützung. Der Bürgerrat ist auch ein sinnvolles Instrument, um überhaupt eine öffentliche Debatte gesellschaftlicher Fragen zu erreichen,- allerdings ist er unverbindlich.

Möglicherweise könnte jetzt auch die überfällige Verabschiedung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung Sinn machen und einen notwendigen Diskussionsprozess anstoßen und so einen Demokratisierungsimpuls geben. Siehe hierzu auch der Verfassungsentwurf des Runden Tisches, an dem ich gemeinsam mit der „Demokratie-Initiative 90“ bei der Ausgestaltung der direktdemokratischen Elemente mitgearbeitet habe.

Es gilt, die Debatte über eine gesellschaftliche Alternative wiederzubeleben, über eine sozial gerechte, lebensdienliche Ökonomie, die nicht länger die Natur, den Süden und die Zukunft zerstört. Es gilt eine breite Öffentlichkeit zu überzeugen, dass eine andere, bessere Welt nicht nur immer dringender nötig, sondern auch möglich ist und wie diese andere Welt und die Wege dahin aussehen könnten.

Eine angemaßte exklusive Freiheit nur für uns, die die unübersehbaren Imperative (Forderungen) der Klimakatastrophe und des Artensterbens weiter ignoriert und die Freiheit der Anderen negiert, ist letztlich tödlich, - sie könnte das Ende des Lebens bedeuten.

Eine tatsächlich wirksame Rettungspolitik kann grundsätzlich nur eine Politik des Ausgleichs und der Gerechtigkeit sein und muss gleiche Lebenschancen für alles Leben, für andere Kulturen und für all die kommenden Generationen respektieren. Die Botschaft, z.B. der Irokesen, an den Westen lautet:

Nur Gerechtigkeit führt zum Frieden mit der Natur und zum Frieden unter den Menschen.“

Lasst uns heute die Bäume pflanzen, lasst uns jetzt die Regeln ändern.


Jürgen Tallig 2021


Der Autor hat 1989 das Neue Forum in Leipzig mit gegründet. Weitere Informationen:


E-Mail: tall.j@web.de, www.earthattack-talligsklimablog.jimdofree.com


Literatur:

-Wuppertal Institut (2020). CO2-neutral bis 2035: Eckpunkte eines deutschen Beitrags zur Einhaltung der 1,5-°C-Grenze. Bericht

-Gerhard Hübener, Transport muss zu einem wesentlichen Kostenfaktor werden, Klimareporter, 29. Januar 2019

-Birgit Mahnkopf: „Produktiver, grüner, friedlicher? Die falschen Versprechen des digitalen Kapitalismus“. Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2019

-Birgit Mahnkopf , Nebelkerze Green New Deal, Blätter für deutsche und internationale Politik 06/2021

-Thilo Bode, Die Diktatur der Konzerne, 2018

- U.Brand/M.Wissen, Imperiale Lebensweise, 2017

-Winfried Wolf, Mobilität ohne Auto. Plädoyer für eine umfassende Verkehrswende In: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2018

-Robert Costanza et al, „Changes in the global value of ecosystems services”, in Global environmental Change, 2014

- Raul Zelik, Grüner Sozialismus – warum die Klimabewegung an den alten Debatten nicht vorbeikommen wird, Luxemburg Online, Januar 2021.









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